Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

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Zehntes Kapitel

Ich merke, daß ich in diesem Buch fast nur von unseren Sommern erzähle. Das kommt ganz einfach daher, daß wir im Sommer am stärksten das Gefühl hatten, zu leben. Im Winter wohnten wir ja entweder in der Hauptstadt oder so nahe derselben, daß wir zu jeder Zeit hinkommen konnten. Da ging es uns wie den meisten anderen. Das Hauptstadtleben ergriff uns, schleuderte uns in seinen Wirbel und bemaß die Zeit sehr karg, in der wir alle miteinander leben und uns eins fühlen konnten. Dahin waren meine und meiner Frau lange vertrauliche Gespräche zu zweien, dahin das muntere Zusammenleben mit den Kindern. Nicht einmal das Weihnachtsfest, ja das am allerwenigsten, war frei von dem Gefühl überanstrengenden Hastens, das Müdigkeit, Überdruß und Mißstimmung zurückläßt. Darum erwarteten wir den Sommer beinahe wie eine Befreiung von etwas Bösem, und wenn wir die Hauptstadt verließen, war es immer, als zögen wir unserer eigenen Erneuerung und der unseres Zusammenlebens entgegen.

Von unserem letzten Sommer will ich jetzt erzählen, dem letzten, in dem wir wirklich das Gefühl hatten, zu leben, dem Sommer, der so ganz anders wurde, als wir gehofft und gedacht hatten.

Wir hatten diesmal einen ganz anderen Ort gewählt als die Schären der Westküste, und wir hatten dies getan, damit meine Frau sich mit all dem umgeben konnte, was sie im vorhergehenden Sommer vermißt hatte. Denn wie sehr das Meer sie auch ergriffen hatte, hegte sie doch in tiefster Seele eine Art Abneigung gegen die See, die in einsamer Majestät herrschen will und keine hohen Bäume und blühenden Matten in ihrer unmittelbaren Nähe duldet. Im Innersten sehnte sie sich immer nach belaubten Hainen und üppigen Blumen, und der Sieg, den ich in meinem Kampf fürs Meer errungen, war also nur halb. Darum kamen wir überein, für die Zukunft den Ort unseres Sommeraufenthalts abwechselnd zu bestimmen. Und diesen Sommer wollten wir überdies mit anderen teilen, das wiederbeleben, was einmal unsere Herzen erfüllt, als all unser Glück sich im Kreise von lauter Freunden widerspiegelte, die in unserem Hause so kamen und gingen wie in ihren eigenen.

Um den Kontrast zu dem Sommer auf der Schäre so stark als möglich zu machen, wählten wir »Lidingön«, und in dem oberen Stockwerk eines halbverfallenen Herrenhofs schlugen wir unser Sommerheim auf.

Es war eine Wohnung mit vielen großen Zimmern, eine Wohnung mit schrägen Fenstern, fleckigen Tapeten und altväterischen großen Veranden, einer langen und schmalen, die nach dem Hof ging, und einer kleineren, von der aus man über den Garten sah, mit seinen ungeharkten Wegen und den wildwuchernden Beerensträuchern, über die Eichen weithinaus nach der Landzunge und der ganzen stillen, hellen Bucht sah, die in Grün gebettet dalag und einem ruhigen Binnensee glich. Die Veranden waren zu beiden Seiten des Hauses ganz und gar von wildem Wein umsponnen, und auf der Veranda nach dem Meere war die eine Seite mit Kaprifolium bedeckt. Das Ganze machte den Eindruck eines Hauses, das im Begriffe ist, überwuchert, überwachsen zu werden, zu verschwinden, um wieder eins mit der Natur zu werden. Wenn man auf der kleineren Veranda saß und träumend über den Garten blickte, auf die Eichen und die ruhige Bucht, mußte man daran denken, daß alles, was hier gepflügt oder gebaut war, einmal verschwinden und der Tag kommen würde, wo neue Menschen das in der Erde verborgen fanden, was der Freude und Sorge längst vergessener Menschen eine Heimstatt gegeben hatte und ihren Körpern Nahrung. Wehmütig ohne jede Düsterkeit schlich sich dieses Gefühl über den, der dasaß und die Stimmung dieses kleinen Flecks in sich aufnahm, und es wurde ihm zumute, als hätte alles irdische Glück darin bestanden, hier zu leben, bis das Haus fiel und das Unkraut alles verdrängte, und dann einschlummern zu dürfen, mit dem Gebäude, das in Trümmer zerfiel, und den alten Bäumen, die morsch und abgelebt zusammensanken, und eins zu werden mit der unfruchtbaren Erde selbst, die es auch müde geworden zu sein schien, das zu tragen, was bestimmt war, ihren Bebauern Leben zu geben.

Hier wuchs der Flieder üppig, der Goldregen hing prächtig und schwer über ungepflegte Beete und Rabatten, wo die Mohnblumen sich überreif zur Erde neigten und die Rosensträucher sich drängten. Hier war alles, was meine Frau an Stimmung und Natur liebte. Hier war etwas von einer sterbenden melancholischen Üppigkeit, die mit ihrem ganzen Seelenleben übereinstimmte. Hier ging sie umher, als wäre sie vom ersten Augenblick an daheim. Hier vergaßen wir, daß das Leben und die Menschen uns schwere Wunden geschlagen und daß wir selbst uns gewehrt und zurückgeschlagen hatten. Hier vergaßen wir den Zwang des Winters und seine entnervenden Vergnügungen. Und auf der anderen Seite der Bucht hatten wir Freunde, zwischen deren Brücke und der unseren die Boote häufig hin und her gingen.

Aber die ganze Umgebung lastete schwer auf mir, und ich hatte das Gefühl, als hinderte sie mich am Arbeiten. Sie versetzte mich in eine Stimmung, die verschieden von allem war, was ich je erfahren. Aber die Zeit verging, und mit ihr kam die Ruhe. Mit einer Stärke wie nie zuvor kam der Genius der Arbeit über mich, und ich wurde von nichts anderem gestört als von Sven.

Denn er war der einzige, den wir nie lehren konnten, daß Papa in Frieden gelassen werden müßte, wenn er arbeitete. Er öffnete die Tür so sachte, als wollte er zeigen, wie wichtig es war, daß Stille herrschte. Sah ich ihn dann an, so legte er den Finger auf den Mund und sagte »Pst« mit einer so machtbewußten und zugleich unschuldigen Miene, daß ich unwillkürlich die Feder weglegen mußte. Sah ich hingegen nicht auf, dann ging er sachte zum Schreibtisch hin und stellte sich neben mich. Er konnte da geduldig die längste Zeit stehen; und wenn ich stark blieb und tat, als ahnte ich seine Nähe nicht, dann konnte er wieder seiner Wege gehen, ebenso still, wie er gekommen war. Das geschah jedoch nicht oft, und wenn ich den Kopf nur ein klein wenig drehte, sah ich sogleich die blauen, erwartungsvollen Augen, die die meinen suchten. Und dann war ich verloren.

»Was willst du eigentlich, Sven?« sagte ich.

Und ich meinte, daß ich streng aussehen sollte, wußte aber, daß ich es nicht konnte.

Dann war es eine Blume oder ein Stein oder irgendeine andere Seltenheit, mit der er kam. Und ich ergab mich auf Gnade und Ungnade. Ich schob Papier und Feder weg und ließ Sven mich stören, soviel er wollte. Und darüber freue ich mich jetzt.

 


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