Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

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Siebentes Kapitel

Der Sommer, der in einer so lächelnden Umgebung begonnen, sollte sich jedoch an der Westküste fortsetzen, und die Ursache war die, daß eine Sehnsucht, stärker, als ich sie schildern kann, mich hinzog.

Ich kann nicht sagen, wie diese unvernünftige Sehnsucht in mein Blut kam. Möglicherweise lag die Ursache darin, daß ich einmal als Kind einen Sommer an der Westküste verbrachte, und es ist ja ziemlich unentschieden, welche Rolle diese frühen, selbst vorübergehenden starken Kindheitseindrücke bei der Bildung des Grundstoffs der Gefühle spielen, der dann unser Leben bestimmt.

Es will mir selbst wunderlich erscheinen, daß die Erinnerungen an diese Wochen sich durch mehr als dreißig Jahre so lebendig erhalten konnten. Ich war nämlich damals erst sechs Jahre alt, und aus diesem Alter pflegen alle anderen Erinnerungen, außer denen an das Heim, in dem man jahrelang gewohnt, zu verblassen. Aber viele Jahre hindurch habe ich das Meer vor mir gesehen, so wie ich es damals sah . . . Ich habe es mit himmelhohen Wellen gesehen, bis ins Undenkbare durch die Phantasie des Kindes vergrößert. Ich habe den Tang, die Quallen und die Seesterne gesehen, das ganze reiche Leben auf dem Meeresgrund in seichten Buchten und an grauen Klippen. Ich habe kahle Felsen sich über dem Meere erheben sehen, das sich an ihrem Fuße brach, und ich habe die wunderliche Erinnerung eines großen Sturms in mir auftauchen gefühlt, der Mengen von Sand gegen mein empfindliches Kindergesicht peitschte.

Es ist wunderlich, daß man so lange herumgehen und eine solche Erinnerung mit sich herumtragen kann, und noch wunderbarer, daß sie eine solche Macht über unsere Seele auszuüben vermag. Eine solche Erinnerung ist von einer sehnsüchtigen Wehmut erfüllt, die dem Traum des jungen Mädchens von dem Ritter gleicht, der sich eines Tages zu ihrem Ohre neigen und ihr Verheißungen eines überschwenglichen Glücks zuflüstern wird. Sie gleicht dem, was der Jüngling fühlt, der die Siegesverheißungen der Zukunft in seinen pochenden Adern singen hört. Ja, sie gleicht vielleicht am meisten dem stillen Zukunftsglauben, der bei Männern lebt, in denen der Jüngling nie ganz gestorben ist. Sie lag tief in meiner Seele wie Heimweh, und es dauerte Jahrzehnte, bis ich ihrer Mahnung gehorchen konnte.

Aber als ich nach vielen Jahren endlich so weit kam, zu wissen, daß ich einen Sommer am Meer genießen konnte, da war es meine Frau, die mich befürchten ließ, daß meine ganze Freude in Rauch aufgehen würde. Meine Frau hatte nämlich niemals die Westküste gesehen, und ich wußte, daß sie eine Art von Widerwillen gegen die ganze Reise hegte und nur nachgab, weil sie begriff, daß der geringste Widerstand mir wehe tun würde. Das wußte ich, weil sie einmal gesagt hatte: »Ich kann mir keinen Sommer denken, in dem man keine Bäume sieht.« Und ich begriff sehr wohl, daß, als ihr diese Worte entschlüpften, sie einen Widerwillen gegen diese ganze Fahrt verriet, der so tief saß, daß sie selbst fürchtete, ihn nicht überwinden zu können. Da sie jedoch sah, daß ich ihre Antipathie gemerkt hatte, tat sie alles, um diese Worte in meiner Erinnerung auszulöschen. Aber sie verließen mich nicht, und ich fing an, mich beinahe beklommen zu fühlen, wenn ich an mein ersehntes Meer dachte.

Diese ganze Sache war für mich weder so unbedeutend noch so töricht, als sie vielleicht klingen mag. Niemand kann eine wirkliche Freude fühlen, wenn sie sich mit Mißtönen mischt, und der schlimmste Mißton, den ich mir denken konnte, war, wenn meine Frau meine Freude nicht teilte. Ich hatte mich ja daran gewöhnt, mich nie einsam zu fühlen, weder in Freude noch in Schmerz, und es brachte mich außer mir, daß ich nun merkte, daß ich mit meiner Sehnsucht allein stand.

Ich wollte, daß mein Traum von einem Sommer Wirklichkeit würde, und ich kämpfte für dieses Ziel mit demselben Eifer, wie damals, als ich mich auf dem Wege glaubte, die Liebe meiner Frau zu verlieren, und kämpfte, um sie wiederzugewinnen. Tag und Nacht grübelte ich über die Möglichkeit nach, der Gefahr vorzubeugen, von der ich fürchtete, daß sie meine Sommerfreude stören würde, und schließlich glaubte ich ein Mittel gefunden zu haben. Ich schlug nämlich eines Tages meiner Frau vor, daß wir die Reise nach der Westküste rings um die ganze schwedische Küste machen sollten, und ich tat es, weil ich sie besiegen wollte. Ich fühlte, daß zwischen uns ein stummer Kampf ausgekämpft wurde, aus dem ich nicht als der Überwundene hervorgehen wollte. Ich wollte meine Frau zwingen, das Meer zu lieben, und ich glaubte, daß die Methode, die ich erfunden hatte, zu dem Besten gehörte, worauf ein Mensch je verfallen war. Mein Gedankengang war nämlich dieser: »Der Weg geht durch den Schärengarten Stockholms. Er setzt sich an unserer ganzen herrlichen Ostküste fort. Nach und nach, beinahe unmerklich, wird sie die lächelnde Natur der Ostküste in die karge der Westküste übergehen sehen, und ohne es zu wissen, wird sie von der Größe ergriffen werden, die alles andere übertrifft.«

Ich kann doch nicht behaupten, daß auf der Reise selbst etwas eintraf, das mir Anlaß gab zu glauben, daß mein so gut ausgedachter Plan die gewünschte Wirkung hatte. Meine Frau freute sich wie immer an einer schönen Dampfschiffreise; aber daß die Fahrt selbst ihren Gedanken eine bestimmte Richtung gab, konnte ich nicht entdecken. Das Ganze war für sie eine lange Dampfschiffreise, als solche das Herrlichste, was sie kannte, aber nichts weiter.

Ich befand mich die ganze Zeit in starker Spannung, und mein Mut begann zu sinken, als wir Gothenburg passiert hatten und ich den Meeresschaum um meine geliebte Westküste zischen sah.

Es wehte ein tüchtiger Sturm, und der war natürlich in diesem Augenblicke alles eher als willkommen, weniger, weil er die Fahrt erschwerte, als weil ein Westküstensturm nicht geeignet ist, die Abneigung gegen das Meer zu benehmen, wenn ein solches Gefühl einmal vorhanden ist. Ich beobachtete die ganze Zeit meine Frau, und ich betrachtete sie von der Seite, während das Boot auf den Wogen emporstieg und die Wellen das Verdeck vom Kiel bis zum Steuer überschwemmten. Aber ich konnte nichts entdecken, was meine stumme Frage beantwortete. Wie sie dasaß und über das schwarze Wasser blickte, schien sie mir unzugänglich, und in mir riefen hundert widerstreitende Stimmen, die sich, wie mich dünkte, alle in einer Kraftanstrengung sammelten, um zu ihrem Herzen und ihrer Sympathie zu dringen.

Aber wie ich dasaß, begann meine Unruhe zu weichen, und ungestört von allen Zweifeln und aller nervösen Gereiztheit sah ich zum ersten Male die Natur der Westküste. Sie erfüllte mich mit einer Empfindung, die ich heilig nennen will, und davor verschwand alles andere.

Das Boot tanzte über die erregte Wasserfläche, und vor seinem Bug klärten sich die Konturen einer langgestreckten Insel, die sich von einem Hintergrund treibender Wolken abzeichnete. Je näher wir dieser Insel kamen, desto stärker glühte in mir die Freude jahrelanger Sehnsucht, die nun befriedigt werden sollte. Wir stiegen auf der Brücke ans Land, und in einem gierigen Blick nahm ich alles um mich auf. Ich sah die Brücken, die Bootshütten, all die kleinen Gebäude, die, in hellen Farben leuchtend, sich auf dem Abhang der kahlen Klippe zusammendrängten. Im Hafen schaukelte sich Boot an Boot, und auf den Klippen lagen Mengen von Fischen in der Sonne, um zu trocknen. Draußen auf einer Landspitze stand eine Gruppe von Männern in geteerten Kleidern, mit Südwestern und hohen Stiefeln, und ordneten langsam und bedächtig einen Haufen großer Fische.

Die starke Luft peitschte mein Gesicht und meine Wangen, und um mich vernahm ich ein Donnern wie von brausenden Wasserfällen, die rasende Winde peitschten. Ich sah die Konturen der Klippen in der Ferne blau und schwarz verschwimmen, während der Sturm die Wolken in wilder Jagd über den Himmel trieb, der durch zerrissene Nebel blau leuchtete. Und als ich zu unserem kleinen weißen Haus kam, das am äußersten Ende der westlichen Landspitze lag, weit weg von der Gruppe anderer menschlicher Wohnstätten, da sah ich zum ersten Male das Meer.

Ich stand lange und blickte hinaus über dieses Meer, das ich endlich erreicht hatte; und als ich in unsere Zimmer kam, sah ich, daß meine eigenen Fenster dieselbe Aussicht hatten, die ich eben verlassen, nur daß das Meer mir noch näher gekommen zu sein schien. Wieder stand ich still und wußte nicht, was in diesem Augenblick in mir vorging. Aber im selben Moment fiel mein Blick auf meine Frau. Sie stand allein am Fenster und sah hinaus, und in einem Augenblick kam es mir zum Bewußtsein, daß ich alles, was durch Wochen meine Gedanken beschäftigt hatte, alle Überreizung, alle Zweifel, alle List, alle Berechnung, den ganzen Kampf, um meine Frau zu zwingen, zu fühlen wie ich – daß ich all das vergessen hatte, seit dem Moment, wo ich den Fuß auf die felsige Insel gesetzt hatte. Nun stand sie da, und ich wußte nicht, ob unsere Gedanken in diesem Augenblick sich zum Kampfe gegeneinander erhoben oder sich begegneten.

Da wendete sie sich um, und ich sah, daß ihre Augen voll Tränen waren. Sie streckte die Hand nach mir aus, ich nahm sie, und zusammen standen wir da und blickten hinaus übers Wasser. Unter unserem Fenster rollten die Wellen über die Steine, und so weit das Auge reichte, sah man nur die weißen Kämme der Wogen gegen den dunklen Meeresspiegel, und die kleinen Schären, an denen das Meer sich brach. Wie Kaskaden von weißem Schaum stürzten die Wellen zur Höhe, von der Schwere des ganzen Meeres hervorgepreßt, das vom Westen auf sie drückte. Es war ein Aufruhr voll ruhiger Kraft, ein großer Ausbruch, der etwas von dem vollen Jubel des Lebens selbst in sich trug.

Vor diesem Aufruhr legte sich mein eigener zur Ruhe, und mit der Hand meines Weibes in der meinen, fühlte ich, daß wir beide auf dem Wege zum Meere gewesen und auf getrennten Straßen hingelangt waren. Wir sprachen kein Wort, aber wir standen lange da, und das, was gewesen war, starb in uns. Als wir einschlummerten, hörten wir noch das Getöse des Sturms und der Wogen, und als das Tosen aufhörte, erwachten wir durch die Stille.

Vor unseren Fenstern lag das Meer ruhig und groß.

 


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