Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

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Sechstes Kapitel

Wenn ich diese Blätter lese und sehe, wie ich zwischen Hoffnung und Furcht geschwankt habe, begreife ich nicht, daß das, was diese Zeilen erzählen, wirklich wahr sein kann. Und doch muß es so sein. Denn scripta manent. Und wie unvollständig und fragmentarisch diese Aufzeichnungen auch sein mögen, erzählen sie mir doch mit voller Gewißheit, daß ich damals mehr hoffte, als ich jetzt fassen kann, wo alles seine Erklärung und sein Ende gefunden hat.

So viel begreife ich, daß in diesem Winter, zu dessen Erinnerungen ich nicht mehr zurückkehren will und kann, mein Glück darin bestand, daß ich schließlich etwas fand, was, wie ich glaubte, dazu beitragen konnte, meine Frau zu retten. Welches Glück war dies nicht! Nicht mehr ein untätiger Zuschauer sein zu müssen, eingreifen, wirken, arbeiten zu können, mit einem bestimmten Ziel vor Augen, einem Ziel, das man wenigstens glaubt erreichen zu können. In der Jugend würde eine solche Glücksquelle vielleicht arm und gering erscheinen. Aber wenn die Jahre das Haar ein wenig grau gesprenkelt haben, begnügt man sich mit Geringerem als früher. Man kann dann leben und leiden, wenn man glaubt, daß es in dem Bereiche der Möglichkeit liegt, Besserung zu schaffen, und man kann in dem bloßen Bewußtsein einer solchen Möglichkeit etwas finden, was beinahe dem Glück gleicht.

Für mich kam diese Hilfe in demselben Moment, in dem die Ahnung, die ich schon lange gehabt, daß das Stadtleben für den Zustand meiner Frau verderblich sei, sich immer mehr zu wirklicher Überzeugung steigerte und sich schließlich in den Entschluß umsetzte, sie daraus loszureißen und zum Lande zurückzukehren, das wir nie hätten verlassen sollen. Der Arzt bestärkte mich auch in diesem meinem Entschluß, und als ich das erstemal diesen Plan meiner Frau als eine bloße Möglichkeit vorlegte, leuchtete ihr ganzes Gesicht auf, als hätte ich ihr die Freuden des Paradieses versprochen, und sie sagte nur:

»Kannst du das für mich tun? Willst du das?«

Diese Worte regten mich zu Handlung und Leben an, und in allem Zweifel, aller Unruhe und allem, was ich früher geschildert und erzählt habe, allem, was mich zu Boden drückte, glänzten mir diese Worte wie Sterne durch die Dunkelheit entgegen und feuerten mich zu der letzten großen Anstrengung an, die, wie ich hoffte, uns allen die Freude in unserem Heim wiederschenken sollte. Je mehr ich daran dachte, desto wahrscheinlicher kam es mir vor, daß ich hier das »Sesam öffne dich« gefunden hatte, das meiner Frau den Weg bahnen sollte, wieder dem Leben anzugehören. Wie ein Mann, der glaubt, einen Talisman gefunden zu haben, der ihm die Macht gibt, Wunder zu wirken, setzte ich meine ganze Zuversicht auf diesen Plan, und als wir endlich in die kleine Villa gezogen waren, die hoch oben mit der Aussicht über Fjords und Wälder lag und wo die Blätter der Espen vor dem Fenster zitterten, an dem meine Frau sitzen und mich sehen würde, sooft ich von meiner Arbeit heimkäme, da fühlte ich mit Gewißheit, daß nun die Lösung gefunden sei. So wunderlich mir dies auch jetzt erscheinen mag, ich war ganz von dieser Gewißheit durchdrungen. Ich glaubte, und ich war unaussprechlich glücklich in meinem Glauben.

Nie habe ich mich auch hoffnungsfreudiger gefühlt, wie als diesen Winter der Schnee zu fallen begann und wir dieses eigentümlich heimliche Gefühl empfanden, von allen und allem abgeschlossen zu sein, das dem nordischen Himmelsstrich eigen ist. Vom Dachboden bis hinab zum Keller stand unser neues Heim fertig, und wie früher, das Ganze ordnend und die Zimmer mit all den kleinen Erfindungen und Gegenständen schmückend, die hervorzuzaubern das Geheimnis des Weibes ist, ging meine Frau wieder zwischen uns umher. Die lauten Stimmen der Knaben hallten in den Zimmern wider, ohne daß jemand sie zu dämpfen brauchte. Die Kanarienvögel sangen und trillerten, ohne daß jemand das nächtliche grüne Tuch über ihr Bauer hing. Der Pudel bellte zu dem Spielen und Balgen der Knaben. Und das Klavier war nicht mehr verschlossen.

Das kam eines Abends, als ich es am wenigsten ahnte. Ohne mit einem Worte ihre Absicht zu verraten, kam Elsa in das Wohnzimmer hinab und setzte sich an das Klavier. Sie sah mich an, als sie an mir vorbeiging, und ich begriff, wie glücklich sie war, daß sie ihrem eigenen Wunsche folgen konnte. Seit Sven gestorben war und sie nicht mehr seine klare Stimme zu den Tönen des Klaviers hören konnte, hatte meine Frau nie die Lieder singen wollen, denen so oft nur er allein gelauscht hatte. Kaum meinen eigenen Sinnen trauend, sah ich sie am Klavier sitzen, hörte sie einen Ton anschlagen, und gleich darauf klangen die Töne durch das Gemach.

Mein weißer Schwan,
Du stummer, stiller,
Nicht Schlag, nicht Triller
Zeigt Stimme an.

Und der Schluß:

Mit schmerzlicher Ode
Schloßt du die Bahn,
Du sangst im Tode:
Du warst doch ein Schwan.

Weder früher noch später habe ich dieses Lied so gehört. Während sie sang, kamen die Knaben sachte herein, nacheinander kamen sie und blieben stumm in der Türe stehen. Sie sahen mich verwundert an, als trauten auch sie ihren Sinnen nicht, und ich nickte zur Antwort, während meine Augen feucht wurden. Als die letzten Töne verklungen waren, war es still im Zimmer, aber still wie zu einer Feierstunde.

Meine Frau stand auf und schloß den Flügel.

»Ich kann heute nicht mehr«, sagte sie wie zur Entschuldigung.

Aber dann sah sie uns alle an und begriff, welche Freude sie hervorgerufen. Ihr Gesicht leuchtete auf, sie ging an mir vorbei und auf die Knaben zu, zog sie an sich und drückte beider Köpfe an ihre Schultern.

»Dankt dem kleinen Brüderchen«, sagte sie. »Er hat mir geholfen.«

Sie sagte das nicht krankhaft wie früher, nicht in dem beinahe feindlichen Ton, den sie angeschlagen, wenn sie glaubte, daß wir Lebenden sie hinderten, dem Toten anzugehören. Sie sagte es weich und stille und beinahe glücklich, mit einem Ausdruck, als nähme sie Abschied von etwas Vergangenem, das niemals wiederkehren sollte.

 


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