Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

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Zehntes Kapitel

Meine Frau stand auf und begann sich zu erholen, sie ging wieder unter uns herum, und sie hatte keinen anderen Gedanken, als uns glücklich zu machen und selbst zu fühlen, wie wir uns freuten, daß sie wieder dem Leben angehörte.

Ach, diese kurzen Wochen, in denen niemand außer uns sie sah, wie gedenke ich ihrer nicht jetzt! Und wie gelang es ihnen nicht, alles, was gewesen, aus meinem Gedächtnis auszulöschen! Im Vergleich zu ihrem stummen Glück war alle Unruhe und aller Schmerz, den wir früher erlebt, für nichts zu rechnen. Alles, was gesagt wurde, habe ich in meiner Erinnerung eingezeichnet und geborgen. Was nicht gesagt wurde und größer war, als was das Leben sonst gibt, das schlummert in meiner Seele und gibt mir den Grundton des Lebens, das ich sonst nicht tragen könnte. Diese Tage, die jetzt kamen, verwischten alles, was an Unruhe, Zweifel und Mißtrauen in mir gewesen war. Denn ich hatte ihr mißtraut, ihrer Liebe mißtraut, weil sie sich nicht vom Tode zum Leben führen lassen wollte, um mit mir zu leben.

Nun war all ihr Widerstand dahin. Ich fühlte es in jedem Augenblick, den ich an ihrer Seite saß, in jedem Worte, das sie zu mir sprach. Es war, als hätte die Krankheit mit allem in ihr aufgeräumt und als wäre sie durch sie gereinigt und geläutert wiedergekehrt. Ihre ganze Persönlichkeit kehrte zurück, und stundenlang konnte ich dasitzen und mich an ihrem Gesichte freuen, weil es dasselbe war wie früher.

»Weißt du noch, wie ich dir sagte, daß wir uns trennen sollten?« sagte sie eines Tages.

Ich mußte nachdenken, um mich daran erinnern zu können, daß sie es je gesagt. Und als endlich die Erinnerung erwachte, sagte ich ihr, daß ich ihre Worte vergessen hätte, wie man die einer Fieberkranken vergißt.

»Ich meinte, was ich sagte«, fuhr sie eifrig fort. »Ich glaubte, du wolltest mich zu etwas zwingen. Und dann tatest du mir so leid. Du hast es so schwer gehabt, viel schlimmer als ich. Aber, du mußt auch wissen, daß ich so krank gewesen bin, viel zu krank, als daß ich an etwas anderes hätte denken können als an mich selbst. Ach, es ist, als wäre ich wieder aufgewacht!«

Sie griff sich an den Kopf mit einer wunderlichen, halb unruhigen, halb glücklichen Gebärde. Und sie fügte hinzu:

»Aber wenn ich einmal sterbe, dann mußt du zu Svens Kommode gehen. Da zu oberst liegt ein Brief von mir. Aber du darfst ihn nicht früher lesen. Denn ich weiß, daß ich doch bald sterbe, und wenn ich sterbe, werde ich ganz wie Sven sterben.«

Wie oft hatte ich sie nicht solche Worte sprechen hören, und wie oft hatten sie mich nicht bis ins innerste Mark erschauern lassen! Jetzt gingen sie so spurlos an mir vorüber, als wären sie gar nicht ausgesprochen. Ich betrachtete sie als die letzten Wellen nach dem Sturme, als die letzten leichten Nachwellen, wenn das Meer in Aufruhr gewesen ist. Ich lächelte in der Siegesgewißheit, daß ich sie wieder errungen, und indem ich ihr Gesicht dem meinen zuwandte, sah ich ihr in die Augen und sagte:

»Aber jetzt willst du ja leben?«

»Ja«, sagte sie. »Ich will leben für dich und für die Knaben und um Sven niemals zu vergessen.«

An diesem Tage ging sie an meinem Arm über den Kiesweg vor der Villa. Ihre Schritte waren müde und unsicher, und sie stützte sich schwer auf meinen Arm, aber wir waren vergnügt wie zwei Kinder, und sie lachte über sich selbst, weil ihr Gang so unsicher war, daß ihre Beine unter ihr zusammenknicken wollten, wenn sie ausschritt, lachte mit einem etwas kränklichen, aber so innig glücklichen Lachen, daß es mich froh machte, sie stützen zu dürfen.

»Wie glücklich bin ich jetzt wieder, Georg«, sagte sie, als wir wieder ins Haus gingen. »Und du mußt es auch werden.«

Dann führte ich sie die Stiege hinauf. Aber bevor sie in ihre Stube ging, wollte sie noch das Zimmer der Knaben sehen. Da stand sie lange mit mir und sah alles an, als wäre es für sie während der Zeit, in der sie krank gelegen war, neu geworden.

»Sie haben es wohl auch oft sehr schwer gehabt«, sagte sie. »Ich war ja zu nichts fähig. Aber jetzt wird es besser gehen.«

Die Pflegerin half ihr ins Bett, und als die Knaben vom Spielplatz nach Hause gekommen waren, rief sie sie mit ihrer dünnen, schwachen Stimme, die so verschieden von ihrer früheren tiefen und vollen war, daß sie hereinkommen und erzählen sollten, was sie draußen gemacht und womit sie sich vergnügt hätten. Das taten sie auch so gründlich, daß ich mehr als einmal versuchte, sie zu unterbrechen. Aber sie hinderte mich immer daran. Und während sie durcheinander sprachen, lag sie die ganze Zeit da und sah ihre Gesichter an und hörte ihren Worten zu, als brauchte sie Zeit, um zu verstehen, daß das, was sie jetzt erlebte, Wirklichkeit war und kein Trugbild. Dann ließ sie sie zu sich kommen, um ihnen den Gutenachtkuß zu geben.

»Jetzt werde ich bald gesund«, sagte sie. »Und wenn der Sommer kommt, dann nimmt uns Papa eine Wohnung in den Schären. Ich brauche sie nicht zu sehen oder zu wissen, wo sie ist. Denn er richtet es immer so gut für uns alle ein.«

Mit einem leisen, glücklichen Lächeln schloß sie die Augen und legte sich im Bett zurecht, um einzuschlummern. Aber als ich die Knaben hinausbegleitet hatte, nahm ich meinen Mantel und ging allein denselben Kiesweg auf und nieder, über den meine Frau und ich eben gewandert waren. Es war ein ruhiger, klarer Frühlingsabend mit leichtem Nachtfrost.

 


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