Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

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Dritter Teil

Ewig besitzen wir nur das Verlorene.

Henrik Ibsen    

Erstes Kapitel

Nichts von dem, was ich erwartet und gefürchtet hatte, blieb aus. Der einzige Unterschied war der, daß, während das Unglück immer größer wurde, ich nicht daran glauben wollte, trotzdem ich es geahnt hatte und wußte, daß es kommen würde. Denn daß der Schmerz kommen wird, das können wir Menschen wissen. Wie er wirklich kommt, wissen wir jedoch nie.

Das erste, was ich mit unaussprechlichem Entsetzen fühlte und verstand, als wenigstens so viele Tage verflossen waren, daß ich zur Ruhe kommen und über das, was wirklich geschehen war, nachdenken konnte, war, daß meine Frau nie so aus ihrem innersten Wesen gesprochen hatte, als da sie in meinem Zimmer vor mir saß und mir sagte, daß sie zum Unglück geboren sei, und daß sie jetzt, wo Sven dahin sei, nur lebe, um zu sterben. Immer von neuem wiederholte ich ihre Worte, immer von neuem hallten sie in meinem Ohr wider, und je länger ich an sie dachte, desto gewisser wurde es mir, daß sie einen Kampf kämpfte zwischen der Sehnsucht zu sterben und der Liebe zu mir und ihren Kindern, die ihr gebot zu leben. Dennoch begann mehr und mehr alles das, was sie von ihrer Liebe zu uns gesagt, vor meinen Gedanken emporzusteigen und die furchtbaren Worte zu verdrängen, welche von einer Todessehnsucht zeugten, die beinahe ein Entschluß zum Tode geworden war. Ich sah sie hin und her gerissen zwischen dem Gefühle, das sie an uns drei, die wir noch lebten, band, und der dunklen Sehnsucht, die sie zu ihm zog, der dahingegangen war. Wir waren ein Ganzes für sie gewesen, und daher kam ihr Leiden, sie fühlte, daß sie nie die streitenden Kräfte versöhnen konnte, die um ihre Seele rangen.

Ich sah all dies. Ich sah es während einer Reise, zu der ich sie fast gezwungen, um ihr den Anblick des Meers und der Sonne, neue Menschen und Eindrücke des Lebens zu geben. Nie vergesse ich diese Reise. Nie vergesse ich die Hoffnungslosigkeit, die sich meiner bemächtigte, als ich Woche für Woche immer deutlicher gewahrte, daß alles, was sie sah, an ihr vorbeiglitt, als wäre es für sie nicht vorhanden. Sie verbarg mir viel, sie verbarg sogar ihre Tränen, und ich begriff, daß sie das tat, weil sie sah, wie ich nur in der Hoffnung lebte, sie zum Leben zurückzuführen, und sie so gerne, so gerne wollte, daß ich solange als möglich diese Hoffnung beibehalte. Ich begriff dies eines Abends, als wir auf einer Veranda saßen und über die norwegischen Fjords und Fjells sahen. Elsa betrachtete lange alles, dann schloß sie die Augen vor dem Bilde, das sie liebte, und sah fort.

»Georg,« sagte sie, »Georg! Warum läßt du mich all das sehen?«

Dann brach sie still in Tränen aus, aber versuchte wieder ihrem Weinen Einhalt zu tun und sah zu mir empor.

»Warum tust du so viel für mich? Warum bist du so gut gegen mich? Es wäre viel besser, wenn du mich meinen eigenen Weg gehen ließest.«

Ich fühlte, daß ich vor einem Leiden stand, das sich nicht messen oder wägen ließ. Ich fühlte Reue, daß ich sie dem Schmerze entziehen wollte und daß ich sie es hatte merken lassen. Überhaupt versuchen, sie zu leiten oder auf ihren Kummer einzuwirken, schien mir in diesem Augenblick nur elend und kleinlich. Ich zog sie bloß an mich und sagte:

»Weine bei mir! Weine soviel du willst! Erlege dir keinen Zwang auf! Glaubst du nicht, daß ich trauere wie du?«

Die Tränen strömten aus ihren Augen, und doch war das Gesicht, das sie mir zuwandte, so freudestrahlend, als sei ihr das größte Glück widerfahren.

»Wirklich?« sagte sie.

Daß meine Frau glauben konnte, ich hätte schon vergessen oder sei auf dem Wege zu vergessen, ergriff mich so, daß mein Schmerz losbrach, und ich hörte und sah nichts anderes, als was ich selbst fühlte und was mich quälte. Ich erzählte ihr, wie nüchtern unser ganzes Heim mir jetzt vorkäme, seit Sven gegangen war. Ich sagte ihr, welche Angst ich hätte, wieder heimzukommen und die Arbeit des Alltagslebens zu beginnen, jetzt, da ich wüßte, daß seine klare Stimme mich nicht willkommen heißen und er selbst nicht mehr hinter der Tür versteckt stehen würde, um mich zu begrüßen, wenn ich heimkäme. All das sagte ich ihr, und ich fühlte, wie sie an meiner Brust ruhig wurde. Ich war glücklich in dem Bewußtsein, wie gemeinsam wir noch fühlen konnten. Aber ich begriff auch, daß ihre Furcht, ich teilte ihren Schmerz nicht so, wie sie wollte, von ihrer Ahnung kam, daß alles, was ich vornahm, alles, was ich tat, dachte und sagte, in dem einzigen Versuche gipfelte, sie selbst zum Leben zurückzurufen.

Darüber dachte ich nun nach. Aber nach diesem Abend veränderte ich, wie ich selbst wohl wußte, mein Benehmen gegen meine Frau. Ich wurde resigniert und erwartete nicht, daß sie ihre Gedanken von ihm, der dahingegangen war, so bald uns zuwenden würde, die sie noch hatte. Dadurch wurde sie vertrauensvoller und offener gegen mich. Aber die Reise glitt an uns vorbei, als wäre alles, was wir gesehen, nur eine Einbildung gewesen. Freunde trafen wir, aber keine Teilnahme vermochte etwas anderes als Dankbarkeit bei meiner Frau hervorzurufen, die Menschen glitten an uns vorbei, als wären wir selbst innerhalb einer Grenze gestanden, die keiner aus eigenem Willen überschreiten könnte.

Und die Ruhe, die wir erreichen konnten, fanden wir nicht früher, als bis wir eines Abends in unser neues Heim einzogen. Das war eine Wohnung in Stockholm, mit der wir das Haus auf dem Lande vertauscht hatten, in dem wir so viel Böses und Gutes erlebt. Wir hatten dies schon geplant, bevor wir ahnten, daß das, was uns jetzt widerfahren war, geschehen könnte, und mit einem Gefühl der Furcht vor dem Winter traten wir in unsere Zimmer.

Aber dennoch erlebten wir hier die ersten Tage der Erleichterung und der Ruhe im Schmerze. Tausendmal bereuten wir, daß wir je gereist waren und gleichsam unseren Schmerz mit uns geschleppt hatten, um ihn von fremden Menschen betrachten zu lassen.

 


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