Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

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Elftes Kapitel

In diesen Tagen mußte ich oft, ohne daß ich mir klarmachen konnte, wie oder warum, an Elsas und meine Fahrt zum Meere denken. Sie kam mit der Erinnerung an meinen stummen Kampf, sie dahinzubringen, das zu lieben, was mir teuer war; und die Erinnerung, wie es mir gelungen und doch nicht gelungen war, reizte und beunruhigte mich zugleich.

Sie kam mir in den Sinn, als ich in diesen Tagen der Genesung mit der Hand meiner Frau in der meinen dasaß und sie ihren Kopf an meine Schulter lehnte.

»Daß ich so weit weg von dir gewesen bin«, sagte sie eines Abends. »Daß ich so weit weg gewesen bin. Das war nur, weil ich glaubte, du wolltest mich verhindern, zu Sven zu gehen.«

»Das willst du ja jetzt nicht mehr?« sagte ich.

»Nein, nein«, sagte sie. »Jetzt will ich bei dir bleiben. Aber ich habe so viele häßliche und dumme Gedanken gedacht in dieser Zeit.«

Ihre Stimme wurde wie die eines Kindes, das ein Vergehen gesteht, so daß ich lachen mußte, als ich sie hörte.

»Nein, lache nicht«, fuhr sie fort. »Denn es ist wahr, ich habe geglaubt, du verstündest mich nicht, und ich habe es auch gesagt. Kannst du mir verzeihen?«

Sie sprach so tiefernst, daß ich ganz gerührt wurde, und um sie nicht noch mehr zu erregen, antwortete ich in einem Tone, den ich so munter als möglich zu machen suchte:

»Ist das die einzige Sünde, die du auf dem Gewissen hast?«

»Nein, nein,« sagte sie, »aber gegen dich weiß ich keine andere.«

Und sie fuhr fort, indem sie sich enger an mich schmiegte:

»Aber das ist auch das Ärgste, was ich sagen und denken konnte. Denn ich weiß ja, daß niemand außer dir mich verstanden hat. Niemand von all den Menschen, mit denen ich sprach, als ich mich so einsam und elend fühlte und meinte, daß alles in mir zusammenbrechen müßte.«

Sie schaudert, als sie das sagt, und führt die Hand an die Stirne.

»Das ist jetzt vorüber«, sagt sie. »Und alles ist so ruhig und klar. Aber jetzt mußt du noch etwas wissen.«

Sie setzte sich auf und betrachtete mich mit einem Blick, so hell und tief, als wollte sie mich auf dem Grunde ihrer Seele lesen lassen.

»Du mußt wissen, was das Allerschlimmste war«, sagte sie. »Als ich umherging und daran dachte, daß ich sterben und Sven folgen würde, und als ich an das so dachte, daß ich meinte, du glittest von mir fort, und alles glitte fort, und die Erde war öde und leer – da hatte ich solche Angst, ach, so furchtbare Angst. Denn ich glaubte, ich würde gezwungen sein, es selbst zu tun. Das war das Allerärgste. Aber jetzt weiß ich, daß ich es nie zu tun brauche. Das hat Gott mir versprochen.«

»Meinst du, daß du doch bald von mir gehen wirst?« sagte ich.

Ich schauderte bei meinen eigenen Worten, und ich fühlte, daß die Stimme nahe daran war, mir zu versagen.

»Das weiß ich nicht«, sagte sie, indem sie wieder den Kopf an meinen Arm lehnte. »Ich weiß nur, daß ich es nie selbst tun muß.«

Sie schwieg, und ich fand keine Worte, um ihr zu erwidern. Ich sah sie an. Sie war wieder ganz so wie in unseren glücklichsten Jahren. Sie erschien mir gleichsam zarter und jünger, und die Ruhe, die ihre frühere fieberische Rastlosigkeit abgelöst hatte, gab jeder ihrer Bewegungen eine vertrauensvolle Zärtlichkeit, die mir im selben Atemzuge Glück und Schmerz schenkte.

Als sie zu Bett gegangen war und ich hereinkam, um ihr Gutenacht zu sagen, sah sie mich mit demselben hellen und tiefen Blick an wie früher:

»Du darfst dich auch nicht daran kehren, daß ich sagte, du hättest mir meinen Glauben genommen«, sagte sie. »Das hast du nie getan. Das habe ich mir nur eingebildet. Ach, ich habe mir soviel eingebildet. Ich habe wohl in einer einzigen Einbildung gelebt.«

Ein schmerzlicher Ausdruck trat in ihr Gesicht, und indem ich über ihre Stirne fuhr, um ihn zu verscheuchen, antwortete ich:

»Das habe ich wohl nicht getan. Das ist wahr. Aber ich hätte doch verstehen sollen, daß das, was du glaubtest, dir kostbar war. So kostbar, daß ich dich nie auch nur zu der Möglichkeit anderer Gedanken hätte führen dürfen.«

Ihr ganzes Antlitz erstrahlte wie von einem inneren Licht, und mit einem schwachen, müden Ausruf der Freude schlang sie die Arme um mich und sagte Gutenacht.

Ich löschte die Kerze an ihrem Bett und ging sachte aus dem Zimmer. Mein Herz war übervoll von Dankbarkeit für alles, was sie gesagt hatte. Es war, als hätte sie mir einen Schatz für die Erinnerung gegeben.

Im selben Augenblick, in dem ich dies dachte, wurde es mir klar, daß ich gleichsam schon angefangen hatte, sie in der Erinnerung zu suchen. »Sie geht von mir«, dachte ich. Und zu meinem Staunen merkte ich, daß ich jetzt den Gedanken ohne Bitterkeit denken konnte, nur weil ich ihr so nahe war wie nie zuvor. »Sie stirbt nicht«, dachte ich den Augenblick danach. »Sie wird leben.« Und ich merkte den Widerspruch in meinem eigenen Gedankengang nicht.

Ich saß in meinem Zimmer und versuchte zu lesen. Aber ich war zu erregt, zu glücklich über den seltsamen Reichtum, der mir zugefallen war. Und plötzlich sah ich meine Frau in dem Sommer an der Westküste, in dem Augenblick, als sie sich von dem Fenster der Lotsenhütte mir zuwandte, und ich fühlte, wie wir in derselben Liebe zu dem unendlichen Meere vereint wurden, die von keiner Grenze weiß. Es war eine Ähnlichkeit zwischen dem, was ich damals empfand und was mich jetzt mit Glück und Hoffnung erfüllte, und zugleich kam es mir in den Sinn, wie viele lange Jahre ich einhergegangen war und mich nach dem Meere gesehnt hatte.

Wie eine Vision tauchte eine Erinnerung vor mir auf, die ich lange vergessen hatte. Ein Knabe steht auf einem hohen Berg und sieht hinaus übers Meer. Die Klippe ist steil, und unter ihm tosen die Wogen in wildem Schäumen. Der Knabe hat den Rock aufgeknöpft. Er hält ihn mit beiden Händen ausgespannt, so daß er wie ein Segel wirkt. Es ist ihm göttlicher Genuß, zu fühlen, wie er dem Sturme trotzt, der ihn von der Klippe zu heben und ins Meer zu schleudern droht. In dieser Freude wird er durch eine Stimme gestört, die seinen Namen durch den Wind ruft. Ein paar Arme, stärker als seine eigenen, umfassen ihn und tragen ihn mit Gewalt von der gefährlichen Stelle und vom Anblick des Meeres, das von Gefahren und Mut rauscht.

Der Knabe bin ich selbst, und ich lächle wehmütig bei der Erinnerung, während die Stunden der Nacht weiterschreiten, ohne daß ich es merke, und ich einsam sitze und in das blicke, was geschehen soll. Jetzt habe ich das erreicht, wonach das Kind sich sehnte, aber der Sturm hat mich weiter geführt, als ich selbst wollte. Jetzt wollte ich, daß sich die Elemente entweder zur Ruhe legten oder daß jemand, der stärker wäre als ich, mich von der Gefahr fortführen könnte, von der ich nie glaubte, daß ich sie fürchten würde.

Aber ich weiß zugleich, daß das nicht geschehen kann. Und mit beschämten und schaudernden Gefühlen denke ich an das Leiden meiner Frau, das größer ist als das meine.

 


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