Ludwig Fulda
Melodien
Ludwig Fulda

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Sein und Nichtsein

        Selig sind die Toten!
Ihnen wird auf dieser Welt
Keine Kränkung mehr geboten.
Nicht enttäuscht und nicht geprellt,
Nicht vom Ehrgeiz angefacht,
Täglich immer neue Seiten
Ihres Witzes auszubreiten,
Nicht gefoppt von ew'gem Sehnen,
Können sie bei Tag und Nacht
Sich behaglich dehnen.

Kommt der neue Morgen,
Dann belästigt er sie nicht
Mit Toilettensorgen,
Und die monotone Pflicht,
Immer wieder aufzustehn,
Immer wieder, falls man eitel,
Sich zu kämmen seinen Scheitel
Und nach künstlicher Methode
Schnurrbartspitzen sich zu drehn,
Ist für sie nicht Mode.

Sie nur läßt in Frieden
All der Ärger, der bereits
Uns am Frühstückstisch beschieden.
Denn sie brauchen ihrerseits
Nicht mit Grimm und nicht mit Pein
In der Zeitung es zu lesen,
Daß die dummen Menschenwesen
Ewig lauter Unheil stiften
Und ihr kurzes Erdensein
Raffiniert vergiften.

Nur die Toten sparen
Die gehäufte Bitternis,
Die wir jeden Tag erfahren,
Sie allein sind ganz gewiß,
Nie zu hören unverhofft,
Daß ein Freund mit argen Tücken
Ausspricht hinter ihrem Rücken
Umgekehrt und gegenteilig
Alles, was er ihnen oft
Zuschwor hoch und heilig.

Man gestehe willig:
Totsein ist nicht nur bequem,
Sondern auch unglaublich billig.
Jedes andre Sparsystem
Wird verdunkelt, wenn man denkt,
Daß auch bei geringster Habe
Man nicht schlechter liegt im Grabe,
Ohne Hungern, ohne Dürsten,
Und nicht minder unbeschränkt
Als die reichsten Fürsten.

Die Beneidenswerten!
Aber wäre nicht gar leicht,
Wenn wir's ernstlich nur begehrten,
Auch für uns das Ziel erreicht?
Steht uns nicht der Zutritt frei,
In des Nichtseins Schattenländern
Vorteilhaft uns zu verändern?
Sagt, weshalb wir uns besinnen,
Dieser ganzen Schererei
Hurtig zu entrinnen?

Weil wir sicher wissen,
Daß auch ohne Drang und Hast
Uns dies Ziel nicht wird entrissen.
Zählbar an den Fingern fast
Ist der kurzen Jahre Zahl,
Die am Zaune vor dem Garten
Wir genötigt sind zu warten.
Wie man auch das Leben fasse,
Ewig bleibt's ein Wartesaal,
Meistens dritter Klasse.

Eh' die Glocke läutet,
Die, sobald die Stunde schlug,
Einzusteigen uns bedeutet
In den äußerst schnellen Zug,
Schaffen wir noch dies und das,
Bauen luftige Gebände,
Haben manchmal eine Freude
Und noch öfter einen Ärger,
Trinken ab und zu ein Glas,
Meistens Grüneberger.

Doch um zu belohnen
Unsre würdige Geduld,
Hat ein Heer von Illusionen
Uns in süßen Traum gelullt,
Und wie durch ein Zauberwort
Sehn wir unser Wartezimmer
Eingetaucht in goldnen Schimmer,
In verklärten, rosenroten.
Besser ist, wir träumen fort . . .
Selig sind die Toten!

 

 


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