Ludwig Fulda
Melodien
Ludwig Fulda

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Die Gewissensfrage

        So oft in klugen Dialogen,
In Worten voll Gehalt und Klang
Von wackren Deutschen wird erwogen
Des Menschengeists Erobrergang,
So oft der Fortschritt wird gepriesen,
So oft des Aufschwungs wird gedacht,
Durch den der Elemente Riesen
Wir beugten unsrer Herrschermacht,
Dann pflegt wohl einer auch zu fragen:
Was würde Goethe dazu sagen?

Er, unser großer toter Kaiser
Im Reich des Geistes, das uns eint;
Der uns fürwahr nicht nur ein Weiser,
Der uns die Weisheit selber scheint;
Nicht nur die Weisheit, das Gewissen,
Das ewig unbestechlich thront
Hoch über unsern Finsternissen
Als klare Sonne, milder Mond,
Der Kompaß, den wir in uns tragen –
Was würde Goethe dazu sagen?

Wenngleich das Leben unbeständig
Jedwedem Sterblichen entflieht,
Wer, der da lebt, ist so lebendig
Wie er, der längst von hinnen schied?
Und doch verschließt sich uns die Pforte?
Doch klärt nicht mehr ein einzigmal
Uns das Orakel goldner Worte
Das neue Glück, die neue Qual?
Käm' er zurück in unsern Tagen,
Was würde Goethe dazu sagen?

Ist er in Wahrheit stumm geworden?
Klingt nicht auf unsrer Bahn zum Ziel
Mit vollen, schwellenden Akkorden
In unsrer Brust sein Harfenspiel?
Hat er dem Kämpfer nicht den Frieden
Schon vor Beginn des Kampfs gereicht?
Hat nicht sein Spruch bereits entschieden,
Wenn banger Zweifel uns beschleicht
Vor starkem Wollen, freiem Wagen.
Was würde Goethe dazu sagen?

Wohl spricht er laut zu jedem Ohre,
Das ihn zu hören sich nicht sträubt;
Jedoch von einem lautren Chore
Wird seine Botschaft übertäubt.
Ein schrilles Durcheinandertönen,
Ein tausendfältiges Geklirr,
Ein Überschreien, Überdröhnen;
Und durch der Großstadt Lärmgewirr
Dringt's nur wie fernes Wellenschlagen;
Was würde Goethe dazu sagen?

Was dächt' er von dem satten Schmecken,
Das nur im Halbschlaf nippt und nascht?
Was von dem Gaukelspiel der Gecken,
Das nach der neusten Maske hascht?
Was dächt' er von den Zwitterkünsten
In täglich wechselnder Gestalt?
Was von den überheizten Brünsten,
Die doch so zähneklappernd kalt?
Genuß, Genuß und kein Behagen –
Was würde Goethe dazu sagen?

Gewiß, er stünde starr verwundert,
Wenn auf den Schienen rast der Zug,
Wenn sich das zwanzigste Jahrhundert
Im Luftschiff hebt zum Himmelsflug,
Wenn der Gedanke sonder Zügel
In Funkenform die Welt umkreist;
Doch sähe mit geknicktem Flügel
Am Boden kauern er den Geist,
Das Herz am Hungertuche nagen,
Was würde Goethe dazu sagen?

Erst wenn vor seinem Angesichte
Die Seele neue Schwingen hebt,
Wenn sich das Echte, Warme, Schlichte
An seinem Atem neu belebt,
Wenn Jugend wieder Lenz bedeutet,
Wenn Schönheit wieder Andacht fand,
Wenn Reinheit wieder Glocken läutet
Durch deine Gauen, Vaterland,
Dann magst du forschen ohne Zagen.
Was würde Goethe dazu sagen? –

 

 


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