Ludwig Fulda
Melodien
Ludwig Fulda

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Leitsterne

Wir alle

        Alle erleben wir eine Zeit,
Da ist das Herz uns voll und weit,
Die Zeit, wo wir mit seligem Schrecken
Uns selbst und unser Ziel entdecken,
Wo ausgerüstet mit blanker Wehr,
Mit funkelnagelneuen Waffen
Wir singend uns stellen zum Geistesheer,
Um was zu erkämpfen, um was zu schaffen.
Wir fühlen in wonnigem Selbstvergessen
Die eigene Kraft noch ungemessen,
Und träfen wir unterwegs einen Drachen
Mit feurigem Schlund, mit hungriger List,
Dem würden wir flugs den Garaus machen,
Ohne zu wissen, wie schwer das ist.
Unbekümmert und unberaten
Spielen wir unsere Jugendtaten.
Wir merken es erst am Beifallsruf,
Der rings um unseren Pfad erschollen,
Daß unsere Hand was Löbliches schuf,
Und glauben, wir könnten, was wir wollen.

Und dann erleben wir eine Zeit,
Da sind wir nicht mehr geschützt und gefeit
Durch ahnende Herzensdunkelheit.
Wir sehen der Dinge Form und Gestalt,
Erleiden des Lebens Tyrannengewalt,
Von Pflichten und Pflichtlein geplagt und gezwickt,
In Lieben und Hassen vermengt und verstrickt,
Auf unserem Pfad nicht einzeln und frei,
Urplötzlich umwogt von einer Partei;
Wo Schluchten wir einst übersprangen im Lauf,
Da hält uns jetzt schon ein Graben auf;
Wir stehen davor, verstimmt und verzagt,
Wir halten Reden und bauen Brücken,
Und daß wir gekommen zur Drachenjagd,
Vergaßen wir gänzlich im Kampf mit Mücken.

Wir schauen, je mehr sich der Blick erhellt,
In langen Reihen uns aufgestellt,
Und glaubten wir einst verlockenden Zeichen,
Wir wären was Neues in der Welt,
Und nirgends fände sich unseresgleichen,
Nun tagt es in uns: wir rannten mit vielen
Die nämlichen Wege zu nämlichen Zielen.
Uns hat vom gemeinsamen Vaterhaus
Die gleiche Sehnsucht hinweggetrieben;
Manche sind mählich zurückgeblieben,
Manche sind, ach, schon weit voraus.
Und kommen wir endlich, wohin wir wollten,
Zum Werke, dem all unser Stürmen gegolten,
Was hilft uns Kraft und Willen und Mut,
Mühsames Wissen und feuriges Wagen?
Da liegt der Drache in seinem Blut;
Ein Andrer, ein Beßrer hat ihn erschlagen. –

Und dann erleben wir eine Zeit,
Da nagt uns die Reue, da zehrt uns der Neid;
Wir starren ins Licht mit tränendem Grollen
Und fragen uns heimlich, was wir noch sollen.
Wir sind entbehrlich, wir können weichen;
Wir dürfen an unserem Bettelstab
Uns unbemerkt von dannen schleichen
Weitab, weitab – bis in das Grab.
Uns ekelt der Kampf; uns dünkt erlaubt,
Die schartigen Waffen fortzuwerfen;
Ein anderer mag sie wieder schärfen,
Ein anderer, der noch an sich glaubt.
So rasten wir sternlose Nächte lang;
Da weckt uns lustiger Hörnerklang:
Die kämpfenden Brüder, die rings geschart,
Rüsten und rufen zur Weiterfahrt,
Und wenn es neu zu tagen beginnt,
Da freuen wir uns zum erstenmal,
Daß wir der Streiter so viel an Zahl
Und gar so wenig verschieden sind.
Wie? Könnten wir nicht das schwerste Stück
Des langen Weges zusammen wandern,
Keiner voraus und keiner zurück,
Jeder zu Schutz und Hilfe des andern?

Und wieder erleben wir eine Zeit,
Da wird das Herz uns voll und weit
In sonniger Bescheidenheit.
Wir grüßen, o Morgen, dein flammendes Haupt,
Das aufsteigt aus dem Weltenschoße;
Wir haben zu lange an uns geglaubt;
Nun glauben wir dienend an das Große.

 

 


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