Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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XXIV

Zwei kleine Stunden nördlich der Stadt führte die alte Straße von Bern nach Solothurn und der Ostschweiz durch das Grauholz, eine ausgedehnte Waldung, die, von den steileren Abhängen des Gebirges niedersteigend, eine Reihe wellenförmiger Anhöhen mit dunkler Tannennacht bedeckt.

In der Nacht des Sonntags, in dessen Frühe der letzte Schultheiß des alten Bern von seinem Stuhle herabgestiegen war, ging ein geschäftiges Leben durch diesen Wald. Es ließ sich kein Lärm hören, kein deutliches Geräusch unterscheiden, nur allerwärts ein dumpfes Summen, wie es vor dem herannahenden Sturme den Wald zu durchziehen pflegt; doch die Lüfte ruhten, und zwischen den träg hängenden Wolken schauten die Sterne auf die schwarzen Tannenwipfel herab. An diese wirbelte da und dort ein heller Schein empor, der bald mit grellen Lichtern um die einzelnen Zweige spielte, bald sich in eine rot aufqualmende Rauchwolke verhüllte. Es war offenbar, daß weit durch den tiefen Waldgrund nächtliche Feuer brannten; aber das dichte Unterholz verbarg sie den Blicken und machte ihren in der Höhe sichtbaren Schein um so geheimnisvoller, als auch diejenigen, welche sie angezündet, unsichtbar blieben.

Etwa zweihundert Schritte außerhalb des kleinen Wirtshauses "zum Sand" war eines dieser Feuer nahe an die Straße gerückt und das Gestrüpp rings um dasselbe abgeschnitten. Auf dem erhellten Raume schritten in angelegentlichem, aber leise geführtem Gespräche mehrere Männer auf und nieder, deren Degengefäße, Tressen und Bandeliere kurze glänzende Lichter warfen, wenn sie dem Feuer näher kamen. Vor demselben saßen drei andere der Straße zugekehrt auf einem gefällten Eichenstamme, ebenfalls im Gespräche vertieft, während aus dem Hintergrunde manchmal das Scharren und Stampfen von Pferden gehört wurde, die dort an den Bäumen festgebunden waren.

"Wir haben uns in vielen Dingen schwer geirrt", sagte der eine von den dreien, dem nur hie und da bei einer raschen Bewegung die reichgestickte Uniform unter einem dunklen Reitermantel hervorschimmerte; "wenn unser Hauptmann sagt, wir hätten zu viel rückwärts, statt in die lebendige Gegenwart und vorwärts in die Zukunft geschaut, so hat er wenigstens in einem Punkte vollkommen recht. Wieviel ist von Laupen, Murten und Grandson gesprochen worden, und wie mancher glaubte aufrichtig, in der bloßen Erinnerung an vergangene Heldenzeiten selbst ein Held zu sein!"

"Und doch habt Ihr selbst uns aus den letzten Gefechten einzelne Züge erzählt, die sich würdig an die Taten unserer Väter anreihen", entgegnete der neben dem Offizier Sitzende, ein hoher, stattlicher Greis in einem dunkeln, halb bürgerlichen, halb kriegerischen Anzuge; "könnt Ihr das in Abrede stellen, mein lieber General?"

"Das ist auch meine Absicht nicht, Euer Gnaden", erwiderte der Gefragte; "was bliebe uns sonst noch zum Troste übrig?"

"Ich versteh Euch, General", erwiderte der Greis, "es braucht manchen Sternenblick, um eine Wetterwolke zu erhellen, wie manche schöne Tat, um einen Mord aufzuwiegen. Mord – vor den Toren der Stadt an einem der ersten Führer begangen; wer hätte sich träumen lassen, noch solche Tage erleben zu müssen!"

"Erleben, aber nicht lange überleben", murmelte der General.

"Nicht überleben?" fuhr der andere fort: "Von der Hand seiner Mitbürger fallen, da der Feind im Angesichte steht – der Gedanke will mir das Herz ersticken."

"Ich fürchte, Ihr deutet den Tod des unglücklichen Obersten zu schwarz, Herr Schultheiß", sagte der Jüngste von den dreien; "er ist wohl nicht als Führer von der Hand seiner Untergebenen, er ist als Opfer einer persönlichen Rache gefallen."

"Es ist ein schönes Vorrecht der Jugend, das schwache Alter in seinem Leid mit ihrer freundlicheren Ansicht zu trösten", wendete sich der Schultheiß mit wehmütigem Lächeln an seinen Nebenmann zur Linken; "aber geht Ihr in diesem Bestreben nicht vielleicht weiter, lieber Hauptmann, als Euer scharfsichtiges Urteil sonst gestatten würde? Wenn auch persönliche Rache die Hand des Mörders geführt, wie ich wohl annehme, so kann ich mir den ganzen traurigen Vorfall doch unter keinem andern Gesichtspunkte vorstellen, als daß der arme Oberst als Repräsentant seines Standes, als Patrizier, durch den Volkshaß gefallen sei. Jedes seiner Worte, die geringfügigste seiner Handlungen trug jederzeit so scharf den Stempel der Verhältnisse, in denen er geboren und in denen er sein Leben zugebracht, daß alle seine persönlichen Eigenschaften nur als klare Ausprägung seiner Standesansichten erschienen."

"Bei dem innigsten Bedauern über das beklagenswerte Ende des Mannes", erwiderte der Hauptmann, "tröstet mich die feste Überzeugung, daß unser Volk den Meuchelmord im tiefsten Grunde seiner Seele haßt und verabscheut."

"Der Himmel bewahre meine alten Tage vor dem Unrechte, eine unbegründete Anklage gegen unser Volk zu erheben", sagte der Schultheiß. "Haben wir nicht selbst die Schlange des Verrats am eigenen Busen gehegt und so dem giftigen Samen den Boden gelockert? Wir nennen das Verhängnis so gerne rätselhaft, und doch geht es immer die einfachsten Wege, die schon eine uralte Weisheit angedeutet: Wen der Himmel verderben will, den schlägt er mit Blindheit."

"Aber diese Blindheit ist für uns ein Vätererbteil gewesen, das wir glaubten heilig halten zu müssen", sagte der General leise. "Ich habe sie mit dem Feldherrenruhme meiner Ahnen übernommen, der in mir erlöschen wird!" Die wohllautende Stimme erzitterte hörbar bei den letzten Worten, und der Enkel des Siegers von Laupen verhüllte mit dem Mantel das Antlitz, um den Kopf der schmerzlichen Gefühle zu verbergen, die seine Brust bestürmten.

Bald folgten rasch erteilte Befehle, warmer Händedruck und kurzes Abschiedswort, und in wenigen Minuten sprengte der größere Teil der bisher am Feuer Versammelten nach verschiedenen Richtungen in die Nacht hinaus.

Zwei von ihnen schlugen am Waldrande die Straße linkerhand ein und ritten in scharfem Trabe dem Dorfe Urtenen entgegen. Obwohl Mitternacht nahte, brannte das Licht in allen Häusern, und da und dort schallte der eintönige Gesang von geistlichen Liedern auf die Straße heraus; die beiden Reiter achteten jedoch, jeder in seine Gedanken verloren, wenig auf dieses fromme Tun und bemerkten nicht einmal, daß sich ihnen an einem der letzten Häuser ein dritter anschloß, der nur ein paar Schritte hinter ihnen drein trabte. Er war in einen langen dunkeln Mantel gehüllt, dessen hoher Kragen fast den Kopf überragte, obwohl sein Pferd ermüdet schien, strengte er sich an, mit den beiden andern möglichst Schritt zu halten und in ihrer Nähe zu bleiben. Endlich, als sie bereits dem Walde zuritten, der sich wie eine hohe schwarze Mauer vor ihnen erhob, mußten sie ihn bemerkt haben, und der eine rief ihm ein lautes "Wer da?" entgegen. "Gut Freund, Herr Hauptmann!" antwortete der Unbekannte, sein Tier neben dasjenige des Anrufers vorgehen lassend; "wenn Ihr erlaubt – wir haben eine Strecke den nämlichen Weg vor uns."

"Ihr scheint mich zu kennen", erwiderte der Hauptmann, indem er sein Pferd wieder schärfer antraben ließ, "doch könnt’ ich das nämliche von Euch nicht sagen. Die Nacht ist finster, und Ihr habt Euch warm zugedeckt."

"Ich kenn’ auch bloß Euern militärischen Grad", entgegnete der Fremde, "und dies selbst erst seit einigen Minuten. Der Lichtschein im Dorfe drinnen ließ mich Euere Uniform unterscheiden."

"Da müßt ihr ein scharfes Auge haben", sagte der Hauptmann; "ich dächte, der Mantel würde jedes Unterscheidungszeichen unsichtbar machen."

"Er wurde Euch im scharfen Ritte zurückgeweht", entgegnete der andere ruhig, "ich sah die goldene Achselschnur Euch über die Brust herabhängen."

Der Hauptmann ließ seine Hand am Mantel niedergleiten und fand diesen bis auf den Sattel herab fest zugeknöpft, so daß er weder über Brust noch Schultern eine Öffnung gelassen haben konnte. "Hört, Freund", sagte er deshalb, als sie den Waldrand erreicht hatten, "die Zeiten verlangen Vorsicht, und Ihr werdet mir daher ohne Umschweife sagen, wer Ihr seid und was Euch noch so spät auf die Straße führt. Der Sprache nach zu schließen, seid Ihr nicht in der Gegend zu Hause."

"Nun denn", erwiderte der Fremde, sein Pferd anhaltend, "ich habe einen Auftrag an Euch, Herr Hauptmann."

"An mich? Von wem?"

"An Euch, aber er ist auch nur für Euch bestimmt, und ich muß Euch daher bitten, mir etwas näher zu kommen, Ihr seht, ich habe keine Waffe zur Hand."

Überrascht und neugierig ritt der Hauptmann ein paar Schritte vor und beugte sich vom Sattel zu dem Fremden hinüber. "Hört", begann dieser mit leiser, aber nachdrücklicher Stimme, "Ihr geht auf falschen Wegen, guter Freund; kehrt augenblicklich um und reitet nach Bern, wenn Ihr das Fräulein v. Holligen noch einmal sehen wollt – morgen ist’s zu spät."

"Was sagt Ihr da?" rief der Hauptmann, "was wißt Ihr von dem Fräulein? Was für eine Gefahr sollt’ ihr drohen?"

"Eine Gefahr, vor der Ihr sie nicht so leicht bewahren werdet", raunte der Unbekannte; "denkt an Amiel!" Mit diesen Worten rutschte er vom Pferde herunter und kugelte, wie ein Igel zusammengerollt, in den Straßengraben. "Was ist das", rief der Hauptmann, überrascht vom Sattel springend und in wenig Sätzen sich auf die dunkle Masse in den Graben stürzend, "wer hat dir von der Gefahr gesagt, Bursche?"

"Der Teufel", antwortete es aus dem Gebüsche zurück, "der morgen Euern Schatz holen wird."

Die ganze Szene war so rasch vorübergegangen, daß der Begleiter des Hauptmanns, der einige Schritte zurückgeblieben war, eben erst zur Stelle kam, als dieser den leeren Mantel des Unbekannten aus dem Graben zog. Er feuerte ohne langes Besinnen seine Pistole in das Gebüsch, aber der Knall war noch nicht verhallt, als es weit seitwärts rief: "Spart das Pulver, Junker, und folgt meinem Rate, Herr Hauptmann!"

Die beiden sahen sich durch die Dunkelheit schweigend und betroffen an, bis der Hauptmann endlich ärgerlich murmelte: "Der Teufel – ich glaube selbst, ein Besserer ist nicht im Spiele, Junker."

"Wenn es aber der Höllenfürst selbst gewesen ist", entgegnete der Lieutenant in gleichem Tone, "so wag’ ich zu behaupten, daß seine Majestät sehr schlecht beritten waren; bei meiner Ehre, das Tier steht da wie ein lebensmüder Karrengaul."

"Ich denke, bei näherer Betrachtung wird es auch nicht viel anderes sein", sagte der Hauptmann, auf das Roß des Unbekannten, das geduldig stehen geblieben, zutretend; "für einmal sind weder Sattel noch Zügel da, ein einfacher Strick hat den Dienst der letztern versehen."

"So wird das Rätsel auch bald gelöst sein", rief der Junker; "der Bursche ist ein Roßdieb, der das Tier während der singenden Andacht der Leute drinnen im Dorfe gestohlen hat, und da sind wir ihm in die Quere gekommen. Laßt sehen, welchen Weg er einschlägt." Er ließ seine Reitpeitsche mit leichtem Schlage auf den Rücken des Rosses niederfallen, das sich in der Tat sofort langsam wendete, um gemächlich nach dem Dorfe zurückzutrotten.

Obwohl der Hauptmann von dieser Erklärung wenig befriedigt war, würde es dennoch unnütz gewesen sein, für jetzt eine befriedigendere zu suchen. Der Mensch konnte in Nacht und Wald nicht verfolgt werden, und sein sonderbares Tun gab den Vermutungen so vielen Spielraum, daß vielleicht die unwahrscheinlichste der Wahrheit am nächsten kam. Aber gerade das war es, was den Hauptmann am meisten beunruhigte; der Unbekannte hatte seine Gedanken und Gefühle an der Seite angefaßt, wo sie in diesem Augenblicke am wenigsten Widerstand zu leisten vermochten.

So stand er, den linken Fuß in den Bügel gestellt, in Gedanken verloren neben seinem Pferde, bis er sich selbst ein lautes, aber hörbar mit mühsamer Stimme hervorgestoßenes "Vorwärts!" zurief. Er warf den Mantel des Unbekannten hastig hinter sich und begann dann rasch den Wald abwärts zu reiten; aber so schnell er ritt, die quälende Unruhe blieb nicht zurück. Wie, sprach es in ihm, wie hat der Fremde meine geheimsten Gedanken erraten, die mich wie finstere Dämonen verfolgen, seit ich weiß, daß Adelaide wieder im Hause ihres Vaters ist? War er doch vielleicht von ihr geschickt, und werd’ ich diese Furcht nicht los, weil sie auch ihr Herz mit Grauen und Entsetzen erfüllt? Und warum sollte es nicht so sein? Ja, wenn wir unterliegen, wenn der gewissenlose Bösewicht mit dem siegreichen Feinde nach Bern käme – Ordnung und Sicherheit sind dahin – ihre Freunde tot, gefangen, zerstreut und der Vater in dem einsamen Schlosse hilflos darnieder liegend! "Barmherziger Himmel", seufzte er, den Schweiß von der Stirne trocknend, "der Gedanke könnte mich wahnsinnig machen.’’

Es fing an zu schwindeln in seinem Kopfe, und er fühlte, daß sich die immer steigende Angst seiner schreckensvollen Vorstellungen wie ein lähmendes Gift durch seine Glieder ergoß. Am Rande des Waldes angelangt, mußte er sein Pferd anhalten, um das wilde Chaos seines Kummers zur Ruhe zu bringen.

Solange er nur die Scheidewand der Geburt und bürgerlichen Stellung zwischen sich und seiner Liebe aufgetürmt gesehen, hatte er sich mit dem Mute der Entsagung in sein Los gefügt, der seine Hoffnung immer noch auf den Wechsel der Dinge stellt; sagte ihm doch das eigene Herz, daß Adelaide aus Liebe zu ihrem Vater ihm wohl entsagen, aber nie die Treue brechen werde. Er hatte keinen Augenblick gezweifelt, daß der stolze Schloßherr sie nur seinetwegen, zur Strafe ihres Anteils an ihrer Befreiung und um jede Verbindung mit ihm unmöglich zu machen, auf so geheimnisvolle Weise aus dem Hause entfernt habe; jetzt war diese Täuschung mit einem Male verschwunden. Die Nachrichten, welche ihm der Wachtmeister gestern über ihre Heimkehr gebracht, hatten ihm deshalb nur kurze Freude gewährt, da er im Augenblicke überdachte, daß sie bei einer unglücklichen Wendung des Krieges nun erst dem Verfolger, vor dem sie geflohen, hilflos in die Hände fallen könnte, doch hatte er gehofft, es werde sich immer noch Zeit und Gelegenheit zu schützenden Vorkehren finden lassen, auch wenn die neu angeknüpften Unterhandlungen zu keinem Frieden führen sollten. Jetzt aber war diese Hoffnung durch den raschen Gang der Dinge vereitelt, seine Befürchtungen durch die Mitteilungen des Schultheißen über die Aussagen des Judenbuben zu peinvoller Unruhe gesteigert, und nun noch diese nächtliche Botschaft, die bei allem verdächtigen Geheimnis, das sie umgab, nur allzu richtig die grauenvolle Gefahr angedeutet hatte! Bin ich nicht ein Tor, mein Leben fruchtlos für eine Sache in die Schanze zu schlagen, die schon Tausende verlassen haben, und dadurch auch sie, die alles für mich gewagt und getan, schutzlos dem Verderben preiszugeben? Ist es nicht meine heiligste und erste Pflicht, sie vor dem Verruchten, an dessen Händen das Blut ihres Verwandten klebt, in Sicherheit zu bringen, bis ihre natürlichen Beschützer ihr wieder beizustehen vermögen? Und am Ende – handelt es sich nicht auch um den Sturz der verwerflichen Verhältnisse, denen wir beide zum Opfer gebracht werden sollten?

Diese Gedanken waren mit Blitzesschnelle durch seinen Kopf gefahren, und ohne daß er’s merkte, hatte sich das Pferd umgewendet und einige Schritte nach dem Walde zurückgetan. "Was habt Ihr, Herr Hauptmann", rief der Junker leise, "seht Ihr etwas?"

"Ja, den höllischen Versucher", erwiderte Herr Rudolf nach einigem Besinnen; "aber kommt, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren". Er drehte das Pferd um und setzte ihm die Sporen ein, daß es in das Feld hinausschoß. Sie hatten dasselbe noch nicht durchschritten, als sich die Nacht erhellte und unter dem Klange der Sturmglocken rings von den Höhen die roten Feuersäulen der Hochwachten emporstiegen.


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