Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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XII

Während auf solche Weise Freund und Feind beschäftigt waren, den Erfolg des Handstreiches der Kanoniere zu fördern oder zu verhindern, stießen diese selbst auf ein Hemmnis, an das sie in ihrer schlichten Einfalt am wenigsten gedacht hatten.

Als der Judenbube die Lichtöffnung am Wurstembergerturme verschlossen und die Befreier mit ihrem Hauptmann plötzlich wieder in tiefste Finsternis versenkt waren, murmelte der noch immer an dem kleinen Ausgangspförtchen rüttelnde Belper-Fritz: "So lauf, Halunke; am End’ hätt’ ich dich doch nicht vor dem Hauptmann totschlagen dürfen – ein andermal;" laut aber sagte er: "Na, schaden wird das just nicht viel; hoffentlich ist Meister Kratzer da liegen geblieben, wo ich ihn unsanft genug hingelegt, und kann uns wieder den Rückweg zeigen." Der Turmwärter mochte aber hinreichend Gründe gehabt haben, diese Hoffnung nicht in Erfüllung gehen zu lassen; wenigstens kam weder auf freundliches noch drohendes Anrufen eine Antwort zurück. "Oh, oh", rief Belper-Fritz, als er seine Stimme eine Weile fruchtlos angestrengt, "schön ist das nicht von dir, Herr Vetter, daß du uns so schnell den Dienst kündigst; sorg’ nur, wie du’s vor unsern Kameraden droben am Ausgange verantwortest. Aber gleichviel", fuhr er leiser fort, "Zeit werden wir hier keine verlieren wollen – diesmal gehe ich voran, Herr Hauptmann", und ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er sich an der zusammenstehenden Gruppe vorbei.

Ohne weiteres Dazwischenreden begann der Rückzug, und Belper-Fritz leitete den Zug mit einer Sicherheit, wie es selbst Meister Kratzer nicht besser vermocht hätte. Gleichwohl fing ein unruhiges Bangen vor den Dingen, welche die nächsten Augenblicke bringen mußten, an, sich auf die Gemüter zu legen, und dieses Bangen wurde keineswegs gemildert durch das Benehmen des Hauptmannes. Als ihm der Wachtmeister in kurzen Worten erzählt, wie ihn jedermann für tot gehalten, wie sie erst heute andere Kunde bekommen und was darauf erfolgt sei, rief er mit bebender Stimme: "Ihr armen, braven Freunde, solche Treue und Hochherzigkeit, die mir nicht helfen kann und Euch ins Verderben stürzt! Und auch sie, auch sie werden mit in den Strudel gezogen."

"Oh, habt keine Sorge, Herr Hauptmann", sagte der Wachtmeister, "es müßte schlimm gehen, wenn wir Euch nicht aus dem Marterturm herausbrächten; so bald fürchten sich die Kanoniere nicht vor ein paar Bratspießen."

"Ach, braver Kamerad", erwiderte der Hauptmann in einem Tone, der von einem aus tiefster Seele hervorbrechenden Schmerze durchzittert war, "wenn’s nur das wäre, wißt Ihr wohl, daß ich mich nie gefürchtet, mit Euch in einen ehrenvollen Tod zu gehen; aber jetzt, Gott sei mir gnädig, sterbt Ihr vielleicht als Rebellen und habt aus Freundschaft meinen Feinden das bisher vergeblich gesuchte Mittel in die Hände gegeben, mit meinem Leben auch meine Ehre morden zu können."

"Um Gotteswillen Herr Hauptmann", rief der Wachtmeister erschreckt, "wie soll ich Euch verstehen, und wie könnten wir Euch Übles angetan haben! Seid Ihr nur wieder frei, dann wird ja alles gut kommen."

"Ach, du treue Goldseele, das eben wird mir zum tiefsten Schmerze, daß ich meine Befreiung nicht aus Euern reinen Händen, daß ich sie im besten Falle nur aus den so vielfach befleckten meiner Feinde empfangen kann."

Der Wachtmeister wagte auf diese mit tiefster Bekümmernis gesprochenen Worte keine Einwendung mehr, obwohl sie ihm anfänglich als ein leis angedeuteter Zweifel an seiner und seiner Kameraden Kraft und Beharrlichkeit fast kränkend vorkommen wollten. Oder was war jetzt auch noch so Schweres zu überwinden, nachdem der Hauptmann, nur erst einmal gefunden, unter ihrem Schutze stand? Und am Ende – wenn es auch noch einen Strauß absetzen sollte, waren doch die Kanoniere Bursche, von denen mehr als die Hälfte einen Zwölfpfünder samt der Lafette mit einem einzigen Rucke aus der Position schoben, und wo die einmal gemeinsam anpackten, mußt’ es gewiß ein Loch geben, durch das mehr als einer seinen sichern Ausweg finden konnte.

So ungefähr hatte sich der schlichte Verstand des ehrlichen Schloßmüllers den weitern Verlauf des waghalsigen Unternehmens gedacht, und drum auch konnte er sich nicht gleich in das Benehmen seines sonst so mutigen Hauptmanns finden; aber als sein rechter Arm, den er in vorsorglicher Führung um den Befreiten gelegt, spürte, wie diesen allmählich ein fast krampfhaftes Schütteln durchbebte, da ging mit einem Male die bange Ahnung durch seine Seele, daß er vor einem ihm nicht erreichbaren Geheimnis stehe; denn sicher war’s ja doch, daß nicht Furcht, nicht Angst vor offener Gewalt oder selbst vor dem Tode dieses Herz bewegen konnten, in heftigen Tränen Linderung seines Leides zu suchen. Nun sei Gott für diese Finsternis gedankt, das braucht keiner zu sehen, dachte der Wachtmeister, indem er den umschlingenden Arm mit jener zarten Scheu, die uns die unaufhaltsame Äußerung fremden Schmerzes einflößt, lockerte und leise zurückzog.

So ging der Zug unter bangschweigender Erwartung vorwärts, bis sich abermals eine hellere Dämmerung bemerklich machte und der Belper-Fritz aufwärts rief: "Grüß Gott, da sind wir auch wieder." "Habt Ihr ihn gefunden, bringt Ihr den Hauptmann mit?" rief es von oben in vollem Chore entgegen. "Ja, wenn Ihr artig gewesen seid und unterdessen gute Wacht gehalten habt, sollt Ihr ihn wieder haben." "Hurra!" scholl es droben von so mächtigen Stimmen, daß der herabdringende Schall in dem engen Raume sich fast mit donnerähnlichem Getöse fortwälzte und weithin unter der Erde ein dumpfverworrenes Echo weckte – "unser Hauptmann, unser Hauptmann!"

"Laß mich, laß mich noch einen Augenblick", sagte dieser stehen bleibend mit gepreßter Stimme zum Wachtmeister; "ich vermag es nicht zu tragen." Er lehnte sich an die Mauer zurück, während der Belper-Fritz bereits die dunkle Treppe hinanstieg und mit spöttischem Tone rief: "Ei, ei, Meister Kratzer, seid Ihr schon angelangt; nun seht, wir sind jetzt gerade so weit wie Ihr, wenn Ihr uns in Eurer Eilfertigkeit schon nicht warten wolltet."

"Dem Himmel sei gedankt", entgegnete der auf solche Weise Begrüßte, der sich wohl bewacht zwischen den Kanonieren befand, "dem Himmel sei tausendmal gedankt, daß der gnädige Herr Hauptmann nun da ist; der wird mir sicher kein Leid widerfahren lassen!"

"Ah", machte der Belper-Fritz, sich verächtlich abwendend, "wenn wir dir ein solches hätten antun wollen, wärest du längst wie eine junge Katze an die Mauer geworfen worden. Jetzt haben wir Besseres zu tun."

Drunten auf der Treppe ließen sich Tritte hören. Die Kanoniere drängten sich um den Ausgang und sahen mit jenem eigentümlichen Schauer, der uns bei jedem ergreifenden Wiedersehen über die Herzen geht, den Hauptmann, vom Wachtmeister und den übrigen gefolgt, langsam die Treppe heransteigen. "Ich danke Euch, Kameraden", rief er, jedem die Hand entgegenstreckend, "wollte Gott, wir könnten fortan miteinander leben oder sterben, wie es sein müßte. Doch kommt, kommt jetzt mit auf meine Zelle! und auch Ihr, Meister Kratzer, mögt in der Nähe bleiben."

"Vielleicht wär’s besser, wir machten gleich fort von hier", meinte einer der wachhabenden Kanoniere; "draußen stehen bereits zwei Grenadierkompagnien, und es sollen noch mehr nachkommen."

"Ei ja", fragte Belper-Fritz, "was hatte denn das Schießen zu bedeuten, als wir kaum drunten in dem ungeheuerlichen Loche waren?"

"Ach", machte der Kanonier, "das war der lange Bohnenstecken-Oberst Stettler, der meinte, wenn er seine Sackpuffer losbrenne, würden ihn unsere Leute drunten am Tore einlassen. Als es nicht half, ist er mit dem Holliger, der freundlich zureden wollte, wieder davon geritten; aber gerade der Stettler ist’s, der uns die Grenadiere auf den Hals schickte. Sie haben es selbst gesagt."

"Nu, die werden uns nicht auffressen", entgegnete Belper-Fritz zerstreut, während er unruhig dem Hauptmann nachblickte, der langsam und gesenkten Hauptes durch den Gang seiner Zelle zuschritt. "Was hat er denn auch vor", wendete er sich. mit ängstlicher Frage an den Wachtmeister; "weißt du’s?"

"Nein, Gott mag es wissen – ich fürchte, etwas, das uns nicht gefällt."

"Kommt, meine Freunde", rief wehmütig der Hauptmann vor seiner Zellentüre stehen bleibend, "kommt noch auf einen Augenblick zum Abschiede!"

Die Kanoniere schauten sich betroffen an, in schweigender Erwartung dem Rufe folgend. Als sie in die Zelle traten, stand ihr Führer, das Gesicht mit beiden Händen verhüllt, an die Mauer gelehnt und blieb in dieser Stellung eine ängstliche stumme Pause unbeweglich; dann ließ er die Arme sinken, überschaute mit trübem Blick die dicht zusammengedrängte Gruppe und begann mit bebender Stimme; "Kameraden, Brüder, es reicht kein Name aus, um Euch meinen Dank auszudrücken für das, was Ihr an mir getan habt. Aber während Eure Hingebung und Liebe mich hoch trägt, leide ich die größte Seelenqual, daß ich Euch nicht folgen, Eueren Willen nicht tun kann, da Ihr Euch doch unbedenklich für mich in so große Gefahren gestürzt habt. Nein – stille! ich weiß, was Ihr sagen wollt. Aber bedenkt, selbst wenn Ihr meine Freiheit mit Euern Leibern bedeckt und unter gegenwärtigen Umständen vielleicht niemand wagen würde, die Sache gegen uns mit offener Gewalt aufs äußerste zu treiben – sagt, wolltet Ihr einen Hauptmann, auf den jeder mit Fingern zeigen könnte: das ist ein verurteilter, ehrloser Verräter, der seine Freiheit nur seinen meutrischen Kanonieren zu verdanken hat! Was könntet Ihr dagegen sagen? Und wie müßte es Euch zu Mute sein, wenn wir im bevorstehenden Kriege von unseren Landsleuten mißtrauisch, wie mit dem Feinde einverstandene Abtrünnige, angesehen würden? Nein, meine Freunde, Euer Hauptmann muß von den nämlichen Richtern, welche ihn der Freiheit beraubt, jeder Schuld ledig und frei gesprochen werden, er muß mit ungeschmälerter Ehre jedermann ins Auge schauen können oder dann besser – seine eigenen Augen schließen sich in Kerkernacht. Drum geht, meine Freunde", fuhr er mühsam fort, "und haltet Euch in dem bevorstehenden Kampfe für das Vaterland, wie es den Kanonieren der ersten Batterie geziemt! Den gnädigen Herren und Oberen werde ich ankündigen, daß Ihr nichts gewollt, als mir vor Euerem Abmarsche noch einmal Lebewohl sagen; ich hoffe, unter ihnen einen zu finden, der Euer freundlicher Fürsprecher sein wird, wenn er nun auch, Gott sei’s geklagt, mir selbst Feind geworden. Und nun, nochmals die Hand zum Abschiede, Kameraden!"

Die Kanoniere standen überrascht und erschüttert, ohne zu wissen, was sie tun oder sagen sollten, und über manches Gesicht fuhr eine rauhe Hand; als aber Herr Rudolf dem Wachtmeister die Hand entgegenbot, richtete sich dieser aus seiner gebeugten Stellung langsam hoch auf und sagte in entschlossenem Tone: "Was Ihr für Eure Ehre tun oder lassen wollt, Herr Hauptmann, müßt Ihr am besten wissen. Doch Ihr habt uns Freunde genannt, und Freunde halten, wie ich weiß, zusammen, wo es Not tut; drum lass’ ich Euch in den Händen, in denen wir Euch gefunden, nicht allein zurück; komme, was wolle, ich gehe nicht von der Stelle, bis Ihr mitgeht oder bis man mich tot wegträgt."

"So ist’s recht, Wachtmeister, das ist auch unsere Meinung", rief es in lauten Stimmen durcheinander; "wir bleiben alle da."

Des Hauptmanns Gedanken begannen den nämlichen Weg einzuschlagen, den bisher diejenigen des entschlossenen Wachtmeisters gegangen, und die Ruhe seiner Entschlüsse fing an zu wanken in dem Bewußtsein eigener Kraft und kühner Beihilfe. Oder war es nicht undankbarer, bloß sich selbst bedenkender Eigennutz, wenn er nun diesen treuen Seelen, die ohne Besinnen alles für ihn gewagt und getan, nicht ihren Willen tat und sie ihrem Geschicke überließ, ohne einen Versuch zu offener Tat gegen heimtückische Feindseligkeit gemacht zu haben?

Noch war er nicht mit sich im reinen, als vom Tore herauf eilfertig ein Kanonier mit der Meldung kam, der gnädige Schultheiß Steiger, bloß von einem Junker begleitet, verlange eingelassen zu werden.

"Was sagst du, Kamerad!" rief Herr Rudolf, aus seinem Sinnen auffahrend, "der Schultheiß Steiger?"

"Er selbst, Herr Hauptmann; ich kenn’ ihn schon manche Jahre her."

Der Hauptmann warf einen raschen Blick auf seine Leute, die überrascht, viele sichtlich erschrocken nach dem unerwarteten Botschafter aufschauten; der Wachtmeister dagegen nickte zwei-, dreimal mit halb geschlossenen Augen, und der Belper-Fritz rieb eifrig die Hände, indem er murmelte: "Solch vornehmen Besuch darf man schon empfangen."

"Du weißt nicht, wie vornehm er ist", sagte Herr Rudolf nachdenklich; dann aber befahl er, daß man den gnädigen Herrn unverweilt eintreten lasse.

In die atemlose Stille, die mit dem letzten Worte über die in der Zelle Versammelten gekommen, tönten die Treppe herauf bald langsame, aber feste Tritte, die durch den Gang herannahten. Die Kanoniere wichen geräuschlos auseinander und hoben die Hand zum Gruße, als, von dem Junker gefolgt, der hohe Greis unter die Türe trat.

Sein Blick ruhte eine Weile fest auf dem ihm gegenüberstehenden Hauptmann, der sich nach kurzer Verbeugung ruhig und freien Antlitzes wieder erhoben hatte; dann blickte er auf die in zwei Reihen geteilten Kanoniere und sagte ernst, aber nicht unfreundlich: "Was tut Ihr da, Kinder? Laßt mich mit Eurem Hauptmann allein, bis Ihr wieder gerufen werdet!"

Hinter der geräuschlos abtretenden Mannschaft schloß der Junker die Türe und schob den Riegel vor.


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