Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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XXII

Der Morgen ging in erfrischender Klarheit über dem Lande auf und warf selbst ein freundliches Licht auf die Erinnerung an die vergangenen Nachtbilder; aber gleichwohl kam es dem Wachtmeister zustatten, daß er einen ergebenen und vertrauenden Mut im Herzen trug, sonst hätte noch manches Begebnis dieses Tages seine Zuversicht auf die Zukunft mächtig erschüttern müssen. Auf seinem Wege kamen ihm bald ganze Scharen von Soldaten entgegen, die nur noch einzelne oder gar keine Waffen mehr trugen und unter lautem Geschrei über Verräterei nach Hause zu gehen im Begriffe waren. Manche ließen sich bewegen, mit den anziehenden Landsturmhaufen wieder umzukehren; andere aber wußten auch diesen Mißtrauen und Schrecken einzuflößen oder wenigstens die Flamme ihrer Begeisterung auszulöschen. Überall vor den einsamen Höfen und in den Dörfern standen ratlose Gruppen, auf deren Gesichtern mehr Wut und Verzweiflung als Furcht zu lesen war, und mancherorten wäre das Leben eines Franzosen sicherer gewesen als dasjenige der bekanntesten eigenen Oberoffiziere. Der Wachtmeister vernahm von Bekannten, die ihm begegneten, daß sich ganze Bataillone, die um Solothurn gelegen, aufgelöst und in wilder Verwirrung den Heimweg angetreten hatten; viele Offiziere waren von ihren Soldaten mißhandelt worden, und der Argwohn der Verräterei wurde selbst schon nach den grauen Haaren des Schultheißen geschleudert. Es lag eine Beängstigung in der Luft, als müsse jeden Augenblick ein zerstörendes Gewitter mit Sturm und Donner hereinbrechen, und wie klar die Sonne aufgegangen – die Menschen tappten unsicher umher, als könnten sie in finsterer Nacht ihre Wege nicht mehr finden. Christen atmete erst wieder leichter auf, als er den Kirchturm von Fraubrunnen erblickte, wo seine Kameraden lagen.

Auf der Anhöhe vor dem Dorfe hielt er an, um, seine verwirrten Gedanken sammelnd, nach demselben hinabzublicken. Es lag so still und friedlich, als ob noch der Schlaf um seine Häuser wandelte, und doch spielte die Sonne längst mit hellen Lichtern auf den braunen Strohdächern, und die Fenster warfen einen goldenen Widerschein zurück. Auch seitwärts vom Dorfe leuchtete dieser Widerschein aus der Fensterreihe eines stattlichen Bauernhauses, um das an der windgeschützten Halde bereits ein lichteres Grün zu keimen begann. Der Wachtmeister blickte lange unverwandt nach diesem Hause hinüber, und es kam ihm vor, er habe noch nie den Rauch so zierlich über einer First aufsteigen gesehen, er habe noch nirgends so freundliche braune Holzwände bemerkt. Er hielt langsam die Hand ans Ohr, da er meinte, das Rauschen des Brunnens zu hören, der neben dem Hause im Schutze eines großen Nußbaumes lag. Nein, es war das Rauschen eines Luftzuges, der über die Wipfel des nahen Tannenwaldes dahinging, aber drüben sah er dafür ein Mädchen aus der Haustüre dem Brunnen zugehen und ein blankes Gefäß unter die sprudelnde Röhre stellen. Es legte die rechte Hand über die Augen, schaute eine Weile unbeweglich nach der Straße herüber und lief dann, den Wassereimer vergessend, mit eiligen Schritten ins Haus zurück; nicht um lange drinnen zu bleiben, denn im Augenblicke kam es mit einigen anderen wieder heraus, denen es mit der Hand nach der Straße hinüberdeutete. Der Wachtmeister senkte den Kopf, über und über errötend. "Wenn auch nicht mich selbst, so hat sie doch das Wägelein ihres Vaters erkannt", sagte er leise vor sich hin, indem er das Pferd mit einem leichten Peitschenknalle wieder antraben ließ.

Ins Dorf hinabgekommen, lenkte er dem Schlosse zu, in dessen weitem Hofraume die Kanoniere Quartier genommen, und kaum hatte ihn die am Portale aufgestellte Schildwache von weitem erblickt, als sich’s auch schon wie ein Bienenschwarm zum Tore herausdrängte. Voraus lief dem Ankommenden der Belper-Fritz entgegen, um mit dem ersten Worte und besorgter Miene nach dem Lieutenant zu fragen. Der Wachtmeister wollte ihn beruhigen, daß er seines Auftrages wegen noch in Bern warten müsse und wahrscheinlich erst morgen kommen werde; aber sein Kamerad sagte nachdenklich: "Dann wollt’ ich, du wärest auch erst mit ihm gekommen, so gern ich dich habe. Es ist jetzt keine Zeit zum Alleinreisen für die Junker." Christen gab keine Antwort. Die so rasch geäußerte Besorgnis sagte ihm genugsam, daß das Schlimme, das er auf dem Herwege gesehen und gehört, auch seinen Kameraden nicht unbekannt geblieben sei; mit wärmerem Händedruck, als es vielleicht sonst geschehen, begrüßte er drum jeden einzelnen, als wollte er sagen und sich selbst davon überzeugen: Wenigstens hier stehen noch treue, furchtlose Herzen zusammen.

Als er nach dieser Begrüßung einen Blick über den Hof, dann nach den Fenstern des Schlosses hinaufwarf, sagte der Belper-Fritz; "Der Hauptmann ist nicht da; er wurde diesen Morgen von einem Adjutanten des Obergenerals ins Hauptquartier abgeholt."

"Ins Hauptquartier, sagst du", rief der Wachtmeister, "was wollen sie dort mit ihm?"

"Ihn gewiß nicht wieder im Marterturm verbergen", erwiderte der Belper-Fritz heiter; "diesmal wurde er zu einem Kriegsrate gerufen."

"Ich kann mich über diese Ehre nicht einmal recht freuen", sagte Christen nach einigem Besinnen; "am Ende will ihn der General in seinem Stabe behalten und uns einen anderen schicken."

"Davon scheint freilich die Rede gewesen zu sein", meinte der Belper-Fritz mit bedächtigem Kopfnicken; "aber drum haben wir diesen Morgen auch schon mehr als einmal auf die Gesundheit unseres Hauptmanns angestoßen. Siehst du dort an der Mauer? Das hübsche Faß wurde uns aus dem Schloßkeller auf den Hof gestellt, ohne daß wir ein Wörtchen gesagt hätten. Nein – als er mit dem Adjutanten zum Tore hinausritt, rief er noch zurück: "Ich werde bald wieder bei Euch sein, Kameraden – wir bleiben beisammen."

"Na", rief der Wachtmeister fröhlich, "so gebt mir ein Glas, auch ich habe eine Botschaft, die’s verdient. Der Schultheiß schickt Euch allen durch mich seinen Gruß, und Ihr sollt Ihm ferner Freude machen, wie Ihr angefangen habt."

Die Kanoniere schauten ihn fragend und zweifelnd an, als ob er seinen Scherz mit ihnen treibe; als er aber die Verhaftung des Judenbuben und seine nächtliche Begegnung mit dem Haupte der Republik erzählte und dann sein geleertes Glas in die Luft warf, erhob sich ein Jubel durch den weiten Schloßhof, daß die alten Mauern widerhallten. Die stolze Freude blieb auch nicht beim bloßen Jubeln stehen, selbst Ruedi, des Belper-Fritz Nachbar, der sonst immer so still unter seinen Kameraden saß, als könnte er nur mit Mühe ein Heimweh verbergen, legte rüstig Hand an, um das Faß aus dem Schloßkeller mitten auf den Hofraum zu stellen. Im gleichen Augenblicke war dasselbe von den Kanonieren im Kreise umlagert, und weit ins Dorf hinab erklang das alte Soldatenlied:

Z’Bern bim Bäre hei si chüele Wi,
Die junge Soldate sitzen alle dabi,
Si sitze bi enandere Hand in Hand,
Gott grüeß di, du schönes, du liebes,
du schönes Schwizerland!

Als aber in weichen Tönen die Worte gesungen wurden:

O Mägdlein, o Mägdlein, deine Äuglein sind rot –

hielt der Belper-Fritz seine Stimme an und sagte dem Wachtmeister ins Ohr: "Ja, daß ich’s nicht vergess’, des Kirchmeyers haben heut schon fragen lassen, ob du noch nicht zurück seiest. Sie werden des Wägeleins wegen Sorge haben, es könnte verloren gehen" – fügte er mit schalkhaftem Gesichte hinzu; "am besten, du lassest sie nicht lange warten drauf." "Du hast recht", erwiderte Christen, hastig aufstehend, "ich will gleich gehen und werde bald wieder da sein."

Allzu genau wurde dieses Versprechen nicht gehalten. Der Wachtmeister fuhr zwar rasch durch das Dorf und den Seitenweg hinan, der zum Hause des Kirchmeyers führte; aber langsam und oft zurückblickend kam er diesen Weg wieder hinabgegangen, und es war bereits später Nachmittag geworden, als er an das Tor des Schloßhofes gelangte. Diesmal wurde seine Ankunft von den Kameraden nicht so schnell wahrgenommen, da sie zu seiner Verwunderung nicht einmal einen Posten am Portale aufgestellt hatten. Sie standen im Hintergrunde des Hofes in einer dichtgedrängten Gruppe beieinander und schienen sich lebhaft mit einem Gegenstande zu beschäftigen, der, durch ihre Gestalten verdeckt, vom Wachtmeister nicht gesehen werden konnte. Als er zu der Gruppe herankam, sah er zwischen ihr einen alten Mann auf dem Boden sitzen, der bleich und angstvoll bald auf den einen, bald auf den andern blickte, als ob er Hilfe suche. Der Wachtmeister meinte den ländlich und reinlich gekleideten Alten schon gesehen zu haben und erinnerte sich auch sogleich, daß es der Botenträger vom Dorfe sei. "Was habt Ihr mit dem Manne da?" fragte er rasch und halb unwillig, "mit Schein ist der Hauptmann noch nicht zurück; er würde sich aber freuen, wenn er jetzt käme und keinen Posten am Tore ausgestellt fände."

Der Ankommende war erst bemerkt worden, als er zu sprechen anfing; anfänglich hatte er die Bestürzung auf den von ihm abgekehrten Gesichtern nicht gesehen, aber nun erschrak er selbst, als sie nach ihm umblickten, und fügte daher seinen Worten begütigend bei: "Oder was ist denn vorgefallen? Was hat’s gegeben?" "Was es eigentlich ist oder sein soll, wissen wir eben selbst nicht, und ich bin froh, daß du gekommen bist", sagte der Belper-Fritz bedächtig, indem er dem Wachtmeister ein Papier entgegenhielt; "da sieh selber!" Christen nahm das Blatt mit der Langsamkeit in die Hand, die den Menschen unwillkürlich beschleicht, wenn ihm die Ahnung sagt, daß er Widerwärtiges erfahren solle, und las zuerst mit großem Bedachte die Aufschrift: "An die Unteroffiziere und Kanoniere der ersten Zwölfpfünderbatterie im Schloßhofe zu Fraubrunnen abzugeben." Unter dieser Adresse, die mit schönen kräftigen Zügen geschrieben war, befand sich ein großes Siegel, dessen Zeichen jedoch nicht deutlich zu erkennen waren. "Woher kommt das?" fragte der Wachtmeister, das Papier mechanisch entfaltend, "die Schrift des Hauptmanns ist es nicht." Aber ohne eine Antwort abzuwarten, las er weiter: "Die erste Zwölfpfünderbatterie, bisher unter dem Kommando des Hauptmann König, wird durch gegenwärtigen Befehl des Dienstes entlassen. Unteroffiziere und Soldaten haben nach gemachter Mitteilung, die durch einen Expressen geschieht, sofort den Heimweg anzutreten. Das Material bleibt bis auf weitere Verfügung im Schloßhofe Fraubrunnen. Hauptquartier Hofwil, am 3. März 1798. Der Obergeneral v. Erlach."

War es möglich – waren es nicht bloß Unverstand oder böser Wille, welche die obersten Führer des Verrats anklagten? Waren diese noch immer nach wie vor die Freunde des Herrn v. Amiel, und hatte dieser nur getan, was ihm befohlen worden? War er nur zu den Franzosen übergegangen, damit jede fremde Schuld auf ihn geworfen werden könnte, wie da gemunkelt, dort laut ausgesprochen wurde? Oder hatte man es mit einem neuen Schelmenstreiche zu tun, der neuen Argwohn und neue Zwietracht stiften sollte? Oder endlich – gab man sich verloren und sollte Friede geschlossen werden? "Nein, dann käme der Hauptmann selbst, um es uns anzuzeigen", sagte der Wachtmeister laut aus diesen rasch vorüberströmenden Gedanken heraus, "er käme selbst, um uns in Ordnung zu entlassen, wie sich’s gebührt."

"Du hast recht", antwortete der Belper-Fritz auf dieses laute Selbstgespräch, "wir nehmen von niemand Befehl an als von unserm Hauptmann; aber Gott verzeih’ mir’s, daß ich heut im Scherze sagte, sie werden ihn diesmal nicht im Marterturm verbergen."

Der Wachtmeister schaute seinen Kameraden einen Augenblick starr an; dann sagte er, den Kopf schüttelnd: "Das ist nichts, nein; denke an den Schultheißen, was der mir gesagt hat – vor ihm dürften sie so etwas nicht wieder wagen. Woher hast du den Brief, Alter, wer hat ihn dir gegeben?"

"Wie ich den Herren Kanonieren schon gesagt habe", erwiderte der Mann ängstlich, "oben am Dorfe ist mir vor etwa einer Stunde ein reitender Bote begegnet und hat mir aufgetragen, Euch das Schreiben augenblicklich zu überbringen, da er noch schleunig nach Burgdorf hinein müsse. O, Herr Wachtmeister, glaubt mir – ich habe mich bloß im Pfarrhause versäumen müssen, sonst wär’ ich früher gekommen."

"Hast du den Reitenden nicht gekannt – wie sah er aus?"

"Nein, ich hab’ ihn meines Wissens noch nie gesehen – er trug Tressen am Rocke und schien mir ein vornehmer Offizier zu sein."

"Sagte er sonst nichts zu dir?"

"Kein Wort weiter, er schaute bloß auf meine Botentasche, befahl mir Eile und sprengte wieder davon."

"Die Unterschrift des Generals ist richtig", sagte der Wachtmeister, wieder nachdenklich auf das Papier blickend, "ich habe sie schon öfters gesehen, aber gleichwohl, Kameraden, mein’ ich, wir bleiben beisammen, bis wir wissen, was unser Hauptmann sagt. Er hat Euch versprochen, zurückzukommen – wir warten. Ohne seinen Befehl geh’ ich keinen Schritt von den Kanonen weg. Einer von uns reitet mit dem Briefe nach Hofwil und sucht dort den Hauptmann auf; unten und oben im Dorfe stellen wir an der Straße Schildwachen, und hier werden zwei geladene Geschütze auf das Hoftor gerichtet - das weitere wollen wir abwarten."

Schon waren die Geschütze vorgezogen, und der Belper-Fritz wollte eben zum Ritte nach Hofwil in den Sattel steigen, als der wieder am Portale stehende Posten rief: "Der Hauptmann kommt!" und abermals widerhallten die alten Hofmauern von mächtigem Jubelrufe, als der Hauptmann an dem Tore erschien.

Über den Mitteilungen von dem Vorgefallenen und den Vorkehren, die der Angekommene anordnete, ging die bereits eingetretene Dämmerung in dunkle Nacht über. Die Kanoniere lagerten mit hellen Gesichtern um zwei große Feuer herum, zwischen ihren Gesprächen unablässig nach dem Hauptmann blickend, der mit dem Wachtmeister längs der Mauer auf und nieder ging. Von Zeit zu Zeit kam eine kleine Gruppe zum Tore herein, dann standen andere vom Feuer auf, um nach kurzer Zwiesprache mit den Angekommenen in die Nacht hinauszugehen. Endlich traten auch der Hauptmann und der Wachtmeister an eines der Feuer heran; der erstere setzte sich auf eine am Boden liegende Protzkiste, der andere winkte dem Belper-Fritz und sagte leise zu ihm: "Komm, wir machen auch noch eine kleine Runde zusammen."

"Diesen Abend gäb’ ich wieder einmal nicht wohlfeil", sagte der Belper-Fritz, als sie auf die Straße getreten waren, "ich wollt’ nur, der Junker wär’ auch dagewesen; mir wird’s allemal bis ins innerste Herz hinein warm, wenn uns der Hauptmann, ohne viele Worte zu machen, so mit glänzenden Augen anschaut und dann wie vorhin dem nächsten besten beide Hände entgegenhält. Ich kann’s nicht recht sagen, aber ich fühl’ es, das will allemal mehr heißen, als die schönsten Reden ausdrücken könnten."

"Du hast recht", erwiderte Christen, den Weg abwärts einschlagend, "gefreut hat es ihn an uns mächtig, obschon wir ja nichts anderes hätten tun können; aber doch macht ihm der Vorgang größere Sorge, glaub’ ich, als er will merken lassen. Der Meister ist fort, seine Gesellen sind geblieben, hat er vorhin zu mir gesagt; sie werden uns alles stehlen, nur die Ehre hoffentlich nicht."

"Die allweg nicht", meinte der Belper-Fritz zuversichtlich; "übrigens schien er mir kein so bekümmertes Gesicht zu machen, als er mit dir ans Feuer kam – wie bedenklich ihm die Sache auch scheinen mag."

"Ich versteh’ dich", sagte der Wachtmeister, "du meinst, ich habe ihm gute Botschaft mitgebracht."

"Die aber wieder ein Geheimnis sein wird", entgegnete der Belper-Fritz neckend.

"Das nicht; unser gnädiges Fräulein ist wieder heimgekommen und hat mir Grüße an den Hauptmann aufgetragen."

"Was du nicht sagst! Hatte wirklich der alte Herr sie irgendwo verborgen gehalten?"

"Das nun eben nicht; er wußte selbst nicht, wo sie war."

"Na – das wird immer besser; am Ende war sie für den Hauptmann in den Marterturm gekommen."

"Wo sie war, warum sie so plötzlich verschwunden und gerade jetzt wieder erschienen ist, weiß ich selbst nicht", erwiderte der Wachtmeister nachdenklich; "nur so viel weiß ich, daß die Geschichte von dem Brieflein, das meine Mutter an jenem Morgen in dem Seidentüchlein vor unserer Türe daheim gefunden haben wollte, ein Märlein war. Das hat sie mir gestanden und gemeint, der Gedanke sei ihr immer schwer auf dem Herzen gelegen, mir zum Abschiede eine Unwahrheit gesagt zu haben. Doch sieh, wie rot der Mond über dem Walde aufsteigt; es muß schon über Mitternacht sein."

"Und siehst du auch, daß des Kirchmeyers noch Licht haben?" entgegnete Belper-Fritz, "wir könnten unsern Weg dorthin nehmen."

"Wie du willst."

Es lag eine atemlose Stille um das Haus herum, in welches die Herannahenden nur mit leisen Schritten zu treten wagten; aber noch bevor sie an dem Garten vorübergekommen, hörten sie schon die Stimme des alten Kirchmeyers, der ernst und eifrig zu sprechen schien. "Wir dürfen sie nicht mehr stören", sagte der Wachtmeister, stehend bleibend, "es ist zu spät, sie halten ihr Nachtgebet." "Du magst recht haben", erwiderte Belper-Fritz, und als auch er stehen blieb, drangen in kurzen Zwischenräumen und in immer feierlicher anschwellendem Tone vernehmlich die Worte heraus:

"Das Land steht jämmerlich und verderbt; der Erdboden nimmt ab und verdirbt; die Höchsten des Volkes im Lande nehmen ab – das Land ist entheiliget von seinen Einwohnern; denn sie übergehen das Gesetz und ändern die Gebote und lassen fahren den ewigen Bund –   – darum frisset der Fluch das Land, und die Paläste werden verlassen und die Menge in der Stadt einsam sein, bis so lange über uns ausgegossen werde der Geist aus der Höhe – "

"Wehe aber dir, du Zerstörer! Meinst du, du werdest nicht zerstört werden? Und du, Verächter, meinst du, man werde dich nicht verachten? Wenn du das Zerstören vollendet hast, so wirst du auch zerstört werden; wenn du des Verachtens ein Ende gemacht hast, so wird man dich wieder verachten – "

"Herr, sei uns gnädig, auf dich harren wir."

Die beiden Zuhörer hatten unwillkürlich das Haupt entblößt und traten langsamen, leisen Sehrittes näher heran, um durch das Fenster zu schauen. Drinnen stand mitten in der Stube der alte Kirchmeyer mit der offenen Bibel in der Hand, das ernste bleiche Gesicht von den langen weißen Haaren umquollen und die Augen, in Andacht verloren, nach oben gerichtet; vor ihm knieten zu beiden Seiten der Mutter die zwei Töchter, auf deren niedergebeugten Gesichtern der Lampenschein mit rötlichen Schatten spielte. "Siehst du dort", sagte Belper-Fritz leise, indem er auf drei Sensen deutete, die, an langen Stäben festgenietet, neben einem Feuergewehre an der Wand lehnten, "was hat das zu bedeuten?"

"Es ziehen alle vier miteinander aus, wenn der Landsturm ergeht", erwiderte der Wachtmeister, sich abwendend, mit gepreßter Stimme, "sie haben mir’s schon gestern gesagt. Der barmherzige Himmel möge mit den Schwachen sein!"


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