Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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XV

Es war natürlich, daß die beiden Ereignisse der Nacht, die Ermordung des Junkers und die Freisprechung des Malers, sofort in Verbindung miteinander gebracht wurden; aber die Art und Weise, in der dieser Zusammenhang gesucht wurde, war selbst wieder der sprechendste Beweis, wie weit die Gemüter sich bereits voneinander entfernt hatten und wie mächtig das bisher noch halb schlummernde oder wenigstens in den Massen noch nicht zum bestimmten Ausdruck gelangte Mißtrauen nun aufwucherte.

Der Junker wurde bald weitaus von der Mehrzahl der mindern Bürger und den in der Stadt befindlichen Soldaten für ein bedauernswertes Opfer gehalten, das dem schonungslosen und über seine in dem Handel des Hauptmanns König erlittene Niederlage ergrimmten Kastengeiste fallen mußte; der Tote war noch nicht ins Grab gesenkt, als all die losen Streiche seines Lebens vergessen waren und in der Erinnerung nichts von ihm übrig blieb als das Bild eines schönen ritterlichen jungen Herrn, dem ein grausames Geschick allzu frühen Tod bereitet. Als die Glocken vom Münster herabklangen, um dem jungen Patrizier das letzte Lebewohl nachzurufen, fragte der Belper-Fritz, der im Kasernenhofe mit dem Wachtmeister an einer Lafette beschäftigt war, den letztern leise: "Gilt das ihm?" und auf die stille, nickende Bejahung lehnte er sich müßig an die Mauer zurück, während sich über sein Gesicht der Ausdruck innerer Freude und tief empfundener Dankbarkeit ausbreitete. Seine Lippen begannen sich wie in leisem Selbstgespräche zu bewegen, und allmählich sanken die über der Brust gekreuzten Arme immer tiefer herab, bis die Hände, sich faltend, zusammentrafen. Der Wachtmeister ließ seinen Kameraden eine Weile gewähren, dann sagte er teilnehmend: "Du mußt nun auch vergessen, Fritz; siehst du, es gibt für alles eine Gerechtigkeit, schon im Leben hier." "Das ist’s eben, worüber ich nachdenke", erwiderte der andere, seinen Blick erhebend, "und wofür ich unserm Herrgott bis an mein Ende dankbar sein muß. Denn weißt du", fuhr er, den Arm ausstreckend, leiser fort, "der Junker hätte doch sterben müssen, und das bald, gewiß bevor der Krieg zu Ende gewesen wäre."

"Weißt du das so genau?" fragte der Wachtmeister, die Hand über seine Augen legend, "im Kriege kann keiner sagen, wie es ihm geht."

"Ich weiß es", nickte der andere, "und der Ruedi weiß es auch; aber gedauert hätt’ es mich, weil der Junker unserm Hauptmann noch so wohl gewollt hat. Drum bin ich so froh, daß nun andere getan haben, was mir doch schwer geworden wäre, seien sie, wer sie wollen."

Nach einer ganz andern Richtung gingen die Vermutungen über den nächtlichen Mord in den Kreisen, denen der Tote im Leben angehört hatte. "Die Brigandage beginnt in schönster Form bei uns einzuziehen", sagte der Oberst Stettler, "und wir können uns darüber um so weniger beklagen, als wir sie selbst geschaffen haben; jetzt mag nur jeder zusehen, um welchen Preis er sich sein Stümpchen Lebenslicht von einigen Halunken will ausblasen lassen. Die Canaille hat gemerkt, daß wir Angst vor ihr haben, und wer einmal Angst gezeigt, der ist für immer verloren. Dem Junkerlein geschieht’s schon recht, daß er als der erste die Früchte seiner Naseweisheit zu schmecken bekam – was brauchte er mit seinem Advokatengeschwätz am Marterturme mir in die Quere zu kommen! Aber was den Schultheißen in seinen alten Tagen noch anficht, das möge der Teufel wissen – freilich hat er von jeher ein tüchtiges Stück Federfuchserei an sich gehabt, wenn Ihr mir schon nie recht geben wolltet. Jetzt greift ihr’s mit Händen."

Offenbar war es, daß der Junker von meuchlerischer Hand gefallen war; die beiden Kugeln waren ihm rücklings unter der linken Schulter eingedrungen und mußten um so mehr die Todesboten tiefer liegender Rache gewesen sein, als an dem Ermordeten keinerlei Raubversuch stattgefunden. Seine Rechte hatte krampfhaft den Griff einer Pistole umfaßt, die in der Tasche seines Rockes stak; aber der Tod mußte ihn überrascht haben, bevor er die Waffe zur Verteidigung hervorzuziehen imstande gewesen war; also nicht einmal ein kurzer Wortwechsel konnte stattgefunden haben, sogar nicht einmal ein drohender Anruf war der mörderischen Tat vorangegangen, die ebenso geräuschlos als feig an einem vorher bezeichneten und belauerten Opfer vollbracht worden war!

So zog mit dem Mißtrauen zugleich die Angst für das eigene und das Leben lieber Angehöriger in die Gemüter, welche selbst die schon so überzeugende Ruhe des Schultheißen nicht mehr zu beschwichtigen vermochte. Auf seine Einwendung, warum denn die Bluttat, wenn sie aus politischem Hasse hervorgegangen, gerade demjenigen, der vor allen Standesgenossen dem Gefangenen im Marterturme beigestanden, verübt worden sein sollte, begegnete die aus naheliegender Erfahrung geschöpfte Antwort, daß die entfesselten Leidenschaften des Pöbels keinen Unterschied mehr kennen, und gerade in diesem ersten Vorgange liege der Fingerzeig, es solle keiner geschont werden, der einmal durch Geburt und Stand der Rechte verfallen sei. Immerhin konnte sich der Schultheiß selbst das Geständnis nicht verhehlen, daß er unter der augenblicklichen Macht eines großen Eindruckes von einem bisher treu festgehaltenen und durch jahrhundertelange Tradition geheiligten Grundsatze politischer Weisheit abgewichen war. Die Berner Aristokratie hatte die Gewalt ihres Standes auf die blutige Strenge gebaut, mit der sie gegebenenfalls das Todesurteil jedes überwundenen Gegners geschrieben, und nun hatte er in jener Zeit, wo alle Fugen des Gebäudes vor dem herannahenden Sturme erkrachten, an die Gerechtigkeit, an Nachsicht und Vertrauen appelliert. Zu früh oder zu spät? mußte der Greis die kummervolle Frage an sich selbst stellen, oder ist in Wahrheit ein Schritt getan worden, der zu keiner Zeit hätte geschehen sollen? Als er am Grabe seines Paten stand und bemerkte, wie viele der Leidtragenden den gewohnten Paradedegen mit einer kampffertigen Klinge vertauscht hatten und wie selbst unter den Trauermänteln hervor noch verborgene Waffen drohten, mußte er das Gesicht verhüllen, und vor seiner schmerzbewegten Seele tat sich ein anderes Grab auf, in das Macht und Pracht eines glänzenden Herrschertums zusammensanken.

Nicht weniger bekümmert und leidvoll ging von dem Grabe ein dritter, dem noch die volle Zier brauner Locken um den Scheitel lag. Er war nicht zur Leiche geladen worden und hatte bei der Trauerfeierlichkeit im Münster weit abseits im Chore gestanden; aber gleichwohl hatten die mächtigen Choraltöne der Orgel seine Seele mit Todesschauern durchschüttert. Der Hauptmann König hatte, in sein schmerzliches Sinnen verloren, kaum beachtet, wie manche mißtrauische und feindselige Blicke sich nach ihm gerichtet, ebensowenig als er jetzt, langsam durch die Straßen gehend, beachtete, wie die unter den Laubenpfeilern zusammendrängenden kleinen Gruppen ihm neugierig oder ehrerbietig nachschauten. Er war nun wieder frei, und statt der totenstillen Gefängnismauern umgab ihn die rührende Begeisterung seiner Kanoniere, deren Selbstvertrauen, durch ihren errungenen Erfolg gehoben, sich einer ganzen Welt von Gefahren gewachsen glaubte; und doch schwebte etwas vor seinem Blicke, das ihm Gegenwart und Zukunft wie mit einem wehenden Trauerflor verhüllte; und wohl gab es Augenblicke, in denen er sich wieder nach der Stille seiner Zelle im Marterturm zurücksehnte.

Sobald die Leiche des Ermordeten noch in nächtlicher Morgendämmerung in das elterliche Haus gebracht worden war, hatte Rudolf im Drange seines Schmerzes anfragen lassen, ob er den Erblichenen sehen und die traurige Pflicht der Totenwacht bei seinem Freunde verrichten könne; aber beide Verlangen waren ihm mit kaltem Bescheide abgeschlagen worden.

"Durch Nacht zum Licht", sagte der Hauptmann schmerzlich bewegt, als er dem Kasernentore zuschritt; "ich kenne das Totenopfer, das ich dir zu bringen habe, armer Freund."

In den Hof getreten wurde er überrascht von dem ungewöhnlichen Treiben, das in demselben herrschte. Ein ganzes Bataillon war längs den Mauern hin im Vierecke aufgestellt, und der Lieutenant Jenni bemühte sich eben eifrig, eine noch vorhandene Lücke in den Linien mit den Kanonieren auszufüllen. "Was geht da vor?" fragte der Hauptmann verwundert, "jetzt ist doch nicht Appellstunde?"

"Ah, ah, etzätera", machte der Lieutenant keuchend, "bin herzlich froh, daß Ihr gekommen seid, Herr Hauptmann; weiß selbst nicht, was das für ein sonderbares Manöver geben soll, das ich am Ende – ah, etzätera – nicht recht verstanden hätte. Hat mich der Oberst Stettler doch schon grimmig angeschaut, daß die Kompagnie noch nicht aufgestellt war. Ah!"

"Ist der hier – wo ist er denn, der Herr Oberst?"

"Eben den Augenblick in die innere Wachtstube gegangen, mit einem ganzen Gefolge von Herren Offizieren, etzätera." Der Hauptmann überschaute seine sich ordnenden Leute, um sich dann erwartungsvoll an ihre Spitze zu stellen. Durch den ganzen Raum herrschte eine bedrückende Stille, und es war offenbar, daß die übrigen Truppen den Zweck der Anordnung ebensowenig kannten als die Kanoniere, da sich alle Blicke nach dem dunkeln Eingange richteten, durch den der Oberst Stettler mit seinem Gefolge verschwunden war.

"Wer ist denn noch bei ihm?" fragte der Hauptmann leise den Wachtmeister, "soll ein Ausmarsch stattfinden?"

"Ich weiß gar nichts", erwiderte der Gefragte ebenso leise, "wir waren im hinteren Hofe mit der Lafettierung beschäftigt. Bei dem alten Stettler sind mehrere Herren von der Kriegskommission; aber Euch hab’ ich etwas Besonderes mitzuteilen, Herr Hauptmann."

"Mir?"

Der Wachtmeister nickte geheimnisvoll. "Meine Mutter hat mich vorhin hinausrufen lassen und mir etwas übergeben für Euch – ein Brieflein ist’s."

Herr Rudolf machte eine rasche Bewegung mit der Hand, als wollte er das Besprochene augenblicklich in Empfang nehmen, dann aber legte er die Finger an die Lippen und blickte gespannt nach der gegenseitigen Hofecke, wo die Tambouren zu wirbeln begannen, während langsam und feierlich eine Offizierstruppe, den Obersten Stettler an der Spitze, auf den Raum heraus schritt; hinter ihm in voller Uniform der Ädemajor Wacker, zur Linken und Rechten von zwei Grenadieren mit geschultertem Gewehre begleitet. In der Mitte des Hofes hielt der Zug, und der Trommelwirbel verstummte.

Der Oberst warf einen scharf prüfenden Blick auf die Reihen, dann rief er mit seiner hellen durchdringenden Stimme:

"Soldaten, Ihr seid kommandiert zu sehen, wie ein pflichtvergessener Offizier bestraft wird. Offiziere, Euch stell’ ich ein Exempel, wie gegebenen Falles mit jedem verfahren werden soll; und dich, Ädemajor Wacker", wendete er sich gegen diesen, "dich erklär’ ich kraft Spruches und meines Rechtes deines bisherigen Grades verlustig und degradier’ dich zum Gemeinen, da du vorgestern die deiner Bewachung übergebenen Kanoniere pflichtvergessen ausbrechen ließest. Du dort, vorgetreten und deines Amtes gehandelt!"

Auf diesen Befehl, der mit einem Winke des erhobenen Rohrstockes begleitet war, trat hinter den Reihen der Grenadiere der Profoß hervor, um den Verurteilten seiner Offizierszeichen zu entkleiden. Dieser krümmte sich bei der ersten Berührung zusammen, als wollt’ er einen Stein vom Pflaster aufheben; dann aber richtete er sich langsam wieder empor, um sich scheinbar ruhig den Rock des gemeinen Soldaten anziehen zu lassen. Als Rudolf jedoch den grimmigen Blick voll Haß und Rache bemerkte, den der Degradierte nach dem Obersten schleuderte, mußte er sich unwillkürlich sagen: "Jetzt ist der Tod eines alten Mannes beschlossen worden."

Die ganze Handlung war rasch und unter lautlosem Schweigen der Zuschauer vor sich gegangen. Der Ädemajor trat im Geleite der vier Grenadiere in die Reihe derer zurück, die er sonst befehligt hatte; noch ein kurzer Trommelwirbel, und die bisher bewegungslosen Linien begannen sich aufzulösen, auch die Kanoniere schwenkten ab, um nach dem Hinterhofe zu ihrer unterbrochenen Beschäftigung zurückzukehren.

Der Hauptmann hatte wohl bemerkt, wie bei der Begründung des vollzogenen Urteils eine rasch anschwellende Bewegung durch ihre Reihen gegangen war; aber ein kaum bemerkbares Emporhalten der Degenklinge war hinreichend gewesen, die Stille wieder herzustellen. Zwar empfand er tief genug, wie scharf der Schlag, der einen anderen traf, auch nach ihm selbst und seinen Kameraden gezielt war, doch begegnete er dem Auge des Obersten, das eine Weile auf ihm ruhte, ebenso kalt und fest, als dieses zweifelhaft und unsicher ihn anschaute. Es war nicht nur ein militärisches Pflichtgefühl, das ihm jede innere Bewegung zu unterdrücken gebot, es war noch eine andere Empfindung, die auf einem tieferen Grunde seiner Seele ruhte. Er kannte den Ädemajor und die Gründe seiner Handlungsweise zu gut, als daß er seinem Tun oder Leiden eine wärmere Teilnahme hätte schenken oder gar gemeinschaftliche Sache mit ihm machen mögen.

"Das anbefohlene Verzeichnis", sagte der Wachtmeister, dem herantretenden Hauptmann mit verdeckter Hand ein kleines Papier entgegenreichend; "ich hoffe, daß Ihr’s gut findet."

Rudolf trat schweigend beiseite, um die Aufregung zu verbergen, die bei der bloßen Berührung des Papiers sein Inneres durchzuckte. Es war ein dürftig zusammengefaltetes Blättchen, auf dem, mit hastigem Stifte geschrieben, sein Name stand.


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