Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXI

Der Hahn hatte sich noch nicht geregt, und noch stand der spät aufgegangene Mond über dem Walde, als der Wachtmeister mit dem Wägelein, auf dem er seinen verwundeten Lehensherrn heimgebracht, schon wieder von der Mühle nach der Freiburgerstraße hinauffuhr, aber er ließ das Pferd seinen langsamen Schritt gehen, und als er an die Biegung des Weges kam, die vom Bache weg nach der Straße lenkt, mußte er fast wider Willen zurückblicken. Es war nicht die Bangigkeit eines Scheidens in ihm, die an einer Wiederkehr verzweifelt, und doch war sein Herz so voll, daß er hätte weinen mögen – nicht vor Leid und Schmerz, nein, es war ein seltsam wehmütiges Hochgefühl, das seine Brust erfüllte. Zum Abschiede hatte die Mutter beide Arme um seinen Hals gelegt und ihn unter Tränen auf Mund und Wange geküßt, Christen erinnerte sich nicht, daß er von ihr je einen Kuß empfangen, seit er die ersten Höslein getragen! das war bei all ihrer warmen Mutterliebe nicht ihre Sache, und sie sprach es gelegentlich selbst aus, es passe nicht für einfache Bauersleute. Auch weinen hatte er sie seit dem Tode des Vaters nie gesehen; drum wußte er, daß es auch jetzt nicht Tränen der Furcht und Trauer gewesen, die sie vergossen; hatte sie ja doch dabei gesagt: "Halte dich brav, Christi, wie du angefangen hast, und wenn du einem armen Manne tun kannst, was du unserm gnädigen Herrn getan, so fürcht’ dich nicht! sterben müssen wir alle einmal, und jung gestorben ist wohl gestorben." Der Wachtmeister wiederholte sich diese Worte leise und sagte dann laut: "Eine rechte Mutter hab’ ich, das ist wahr und was die für das arme Fräulein getan, ist, mein’ ich, noch etwas anderes, als wenn unsereins mit ein paar Weißhosen anbindet. Bei meiner Treu, sie hat sich wacker gehalten – der Hauptmann wird es auch sagen."

Als er gegen die Stelle kam, wo der Weg von der Mühle in die Straße einlenkt, wurde er aus seinem Sinnen über den Junker v. Dießbach, der da seinen Tod gefunden, durch raschen Hufschlag gestört, der von der Stadt her erklang, und bald sah er im Mondschein den Reiter in vollem Galoppe zwischen den Bäumen ansprengen. Er hielt wieder an, um dem Eilenden nicht mit seinem Fuhrwerke den Paß zu versperren, indem er weiter rückwärts neues Pferdegetrappel zu hören vermeinte; aber plötzlich stutzte das Tier des Reiters mitten im Laufe, setzte, dem scharfen Sporendrucke folgend, wieder an, bäumte sich und stürzte mit samt dem Reiter unter ängstlichem Gewieher zur Erde nieder. "Da mag’s schlimm gegangen sein", dachte der Wachtmeister, indem er voller Teilnahme zur Hilfe herbeieilte; aber fast wollte er’s bereuen, als er, zur Stelle gekommen, den Mann erkannte, dem der Unfall begegnet war.

Bloß an den Gesichtszügen hätte er ihn übrigens schwerlich so schnell erkannt. Das ganze Gesicht war nur noch eine fahle Hautfalte, über der in dem bleichen Mondscheine Angst und Schmerz lag; aber Reitwams und Lederhosen, die sich in den mächtigen Stiefeln verloren, ließen dem Wachtmeister keinen Zweifel, und er sagte daher, zwischen Mitleid und Verachtung schwankend, zu dem am Boden Liegenden: "Hast du dich verletzt, kann ich dir etwas helfen, Jakob?"

"Ach", stöhnte der Angeredete, "zum Teufel – ja, richtet das Tier auf; ich glaube mein Fuß ist auseinander."

"An was scheute es denn", fragte der Wachtmeister, das Pferd an den Zügeln emporziehend; "es zittert ja noch immer wie Espenlaub."

"Hu – ich glaub’ es", flüsterte der Judenbube, indem er sich, wie von eisigem Frost erfaßt, schüttelte, "ich glaub’ es – seht Ihr’s dort?"

"Den Wehrstein meinst du, auf den der Mond scheint?"

"Wehrstein – ja, " schlotterte der andere, auf dem Boden hin und her rutschend – "Wehrstein und was drauf gesessen hat – helft mir auf!"

"Was hast du denn drauf sitzen gesehen", fragte der Wachtmeister leiser, indem er den Elenden unter den Armen faßte – "was war’s?"

"Der Junker war’s", raunte der Judenbube, "der Junker mit dem gräßlichen Todesblicke – hu, sie kommen!"

In der Tat kamen zu beiden Seiten der Straße über die Wiesen zwei Reiter heran, die, sobald sie die Gruppe bemerkten, von den Pferden sprangen und herzuliefen. Es waren zwei berittene Hatschiere, von denen der eine den Judenbuben am Arme faßte, der andere dem Wachtmeister mit scharfen Augen ins Gesicht guckte, bis er ausrief: "Ha, Bomben, seid Ihr es, Wachtmeister? Bei Nacht sehen sich ehrliche Leute und Spitzbuben so ähnlich, daß Ihr mir schon verzeihen müßt."

"Hoffentlich darf ich mich von jedermann bei Tag und Nacht besehen lassen", erwiderte der Wachtmeister, die dargebotene Hand des alten Gerechtigkeitsdieners schüttelnd. "Aber was ist’s mit dem da?"

"Er sollte unsern gnädigen Herren über einiges Auskunft geben", erwiderte der Hatschier, mit den Augen zwinkernd, "zog es aber mit Schein vor, einen Spazierritt zu machen; wir glaubten schon, er sei links oder rechts ausgewischt, als wir ihn nicht mehr auf der Straße reiten hörten."

"Ich bring’ ihn nicht auf die Füße", erwiderte der andere Hatschier, "es ist, als ob ihm alle Knochen aus dem Leibe gestohlen wären. Steh, Jakob!"

"Er scheint sich verletzt zu haben", sagte der Wachtmeister, der sich beim Anblicke der Angst und Hilflosigkeit des Mitleidens nicht erwehren konnte; "ich habe dort ein Fuhrwerk, wenn Ihr ihn nach der Stadt bringen wollt."

Das Anerbieten wurde dankbar angenommen, und der Judenbube ließ sich ohne den geringsten Widerstandsversuch und ohne einen Laut von sich zu geben auf das Wägelchen bringen.

"Ihr werdet den gnädigen Herrn Schultheiß ja in seinem besten Schlafe stören müssen", sagte Christen.

"Oh, dafür ist gesorgt", erwiderte der Hatschier kopfschüttelnd, "ich glaube, der hat schon manchen Tag und manche Nacht kein Auge mehr zugetan. Ihr werdet sehen, ich treff’ ihn in voller Kleidung an, sei’s auf dem Rathause oder daheim."

Der Wachtmeister ging seinen Gedanken nach, ohne viel auf die mancherlei Fragen zu achten, die sein Begleiter an ihn richtete, bis sie an die Kreuzgasse gelangten, auf die an den Türmen des Münsters vorbei noch immer ein bleicher Mondschein niederfiel. "Seht Ihr, daß ich recht hatte", sagte der Hatschier, Christen anstoßend, leise, "dort kommt er eben vom Rathause her." Und in der Tat sah Christen die hohe Gestalt heranwandeln, langsam, mit vorwärts geneigtem Haupte, wie in schwere Gedanken verloren.

Die beiden hielten an, um den verehrten Greis vorbeigehen zu lassen; aber als dieser an sie herangekommen, blieb er stehen und fragte, die ehrerbietigen Grüße mit einem ruhigen Neigen des Hauptes erwidernd: "Wartet Ihr auf mich, Männer? Was willst du, Nickelberger?"

"Zu Befehl, Gnaden", erwiderte der Hatschier, "der rote Jakob, zubenannt Judenbub, ist eingebracht."

"Bringt ihn in einer halben Stunde aufs Rathaus! Und Ihr, Kriegsmann? Euch sollt’ ich kennen – ich hab’ Euch auch schon gesehen!"

"Mit Erlaubnis, gnädiger Herr", erwiderte der Wachtmeister bescheiden, "ich selbst habe kein Begehr an Euch. Ich habe diese Nacht meinen gnädigen Herrn von Solothurn her heimgebracht und bin jetzt wieder auf dem Rückwege zu meiner Kompagnie begriffen."

"Euern gnädigen Herrn – doch nicht von Holligen – wie?"

"Ja, Herr."

"Und Ihr seid der Wachtmeister von der Kompagnie König?"

"So ist es, gnädiger Herr."

"Gebt mir die Hand", rief der Schultheiß, seine Rechte ausstreckend, "gebt mir die Hand! Ihr habt Euch brav gehalten, junger Mann – es war mir das ein Trost für manchen Kummer."

"Ihr tut mir zu viel Ehre", erwiderte der Wachtmeister, mit Ehrfurcht die Hand ergreifend, die so lange das Staatsruder gelenkt, "ich habe nur meine geringe Schuldigkeit getan, gnädiger Herr!"

"Dächten und täten alle so!" sagte der Schultheiß mit wenig verhehlter Kümmernis; "aber erzählt mir, wie es denn zugegangen ist, wie Ihr Euerm Herrn zu Hilfe kommen konntet. Euer kleiner Lieutenant, mein Vetter, hat Euch mächtig gelobt für die Tat."

"Nun Herr", antwortete Christen, "zu erzählen weiß ich nicht viel. Mein Hauptmann hatte mich mit einem Auftrage nach Solothurn geschickt, den ich nur persönlich und mündlich dem General v. Büren ausrichten sollte; als ich in die Stadt hineinkam, war er schon aufs Feld hinausgeritten, wo ich ihn des großen Getümmels wegen lange nicht finden konnte. Da rief mir ein Scharfschütze zu – ’s ist einer von Köniz her, der mich kannte – wenn ich meinen gnädigen Herrn suche, er liege droben auf der Anhöhe. So bin ich denn hinaufgeritten und hab’ ihn heruntergeholt. Ich hätt’ es nicht mehr gekonnt, sicher nicht, wenn meine Kameraden von der andern Seite der Aare nicht so wacker herübergeschossen und die Franzosen zurückgehalten hätten; aber die kanonierten, Herr, daß mir bei aller Not das Herz im Leibe lachte. Und so haben sie eigentlich alles getan – ich nicht, gnädiger Herr."

Der Schultheiß hatte schweigend zugehört und schaute noch eine Weile sinnend vor sich nieder, als Christen schon geendigt hatte, dann sagte er, beide Hände auf die Schultern des Wachtmeisters legend und ihm ins Gesicht blickend, mit sichtlicher Rührung: "Wohlan denn, du oder deine Kameraden – sage ihnen, daß sie in das Herz eines kummervollen alten Mannes Trost und Hoffnung gebracht haben, sie werden es ferner tun. Und deinem Hauptmann bringe meinen besten Gruß und sag ihm, ich werde ihn wohl in wenigen Tagen im Felde selbst begrüßen können. Gott sei mit dir, braver Wachtmeister!"

Er wendete sich ab und ging langsam über die Straße seiner Wohnung zu.

"Jetzt, Kameraden, rief der Wachtmeister überlaut, auf sein Wägelein steigend, "jetzt ist das Pfand gelöst, um das wir auf dem Rathause behaftet wurden, und was dazu kommt – ist Überschuß."

Durch das Rollen der Räder mußte die Wache am unteren Tore schon von weitem aufmerksam gemacht worden sein, und als Christen über die Aarbrücke gegen dasselbe heranfuhr, sah er zu seiner Verwunderung unter dem Bogen und rings um den Turm herum ein Gewirr und Durcheinanderrennen, als ob sich die Mannschaft gegen einen unerwarteten feindlichen Überfall zu schneller Gegenwehr rüsten wolle. Er hielt das Pferd an und hörte ein leises gegenseitiges Zurufen und Aufmuntern: "Sie kommen – aufgepaßt – keinen entwischen lassen!"

Neugierig wartete er auf den Anruf, und als derselbe nicht erfolgen wollte, begann er wieder im Schritte vorzufahren, aber kaum war er in das Dunkel der vorspringenden Turmbrüstungen gelangt, als Roß und Fuhrmann von allen Seiten angefallen wurden und sich ein Krabbeln und Zerren an das Wägelchen heranmachte, als wäre es in einen Zug Wanderratten geraten. Der Wachtmeister blickte verdutzt um sich und sah sich beim Scheine der rasch an die Torgitter gehobenen Laternen von einem Schwarme umgeben, der Zurüstungen auf die Ostermontagsspäße getroffen zu haben schien.

Da trug ein kleiner Knirps eine alte Muskete, die um drei Kopfeslängen über ihn emporragte, während sein stämmiger Nebenmann mit einer Spatzenflinte herumfackelte; einem dritten schlotterte ein schuhbreites Degenbandelier von den Schultern aufs Knie herab, und der vierte hatte seine Patrontasche mit einem währschaften Hausmannsbindfaden um die Hüften festgeknotet.

"Was treibt Ihr denn da für Unfug!" rief der Wachtmeister bei diesem Anblicke, "ruft Eueren Chef herbei oder laßt mir das Tor frei!"

"Ja, ja, der Kommandant soll kommen", erhoben sich mehrere Stimmen, "er soll vorangehen und unser Recht verfechten."

"Das tu’ ich, aber auf meinem Posten", rief’s aus dem Hintergrunde, "und deshalb befehl’ und kommandier’ ich Euch, Fuhrmann, sofort-und ohne Widerred, Euere Geldkisten uns abzuliefern und damit punktum."

"Meine Geldkisten?" entgegnete der Wachtmeister verwundert, "ich glaube, Ihr seid ein Narr dort hinten!"

Der Wachtkommandant rief: "Meint Ihr, wir wissen nicht, daß die Aristokraten unser gut bürgerlich Geld ins Oberland flüchten wollen und Ihr bereits eine Ladung davon auf Euerem Karren habt? Meint Ihr? Jetzt sagt mir auch, wer Ihr seid, wenn Ihr dürft – he?"

"Ich bin Wachtmeister bei der Batterie König", erwiderte Christen, mühsam an sich haltend, "und will zu meinen Leuten zurück; drum laßt mein Pferd los da vorn oder seht dann – "

Er hatte das Pferd bereits angetrieben, daß das Wägelein mit hellem Gerassel durch das Tor ins Freie schoß. Er mochte den Lauf des Rosses trotz des ansteigenden Weges nicht anhalten und ließ sich die vor Unwillen heiße Stirn von der frisch heranwehenden Morgenluft kühlen, bis er die Anhöhe erreicht hatte.

Droben lag der Rosengarten, von seinen dunkeln Mauern umfangen, über denen sich’s in der Dämmerung wie ein durchsichtiger, wehender Nebel erhob. Da machte Christen halt, um bald durch das Gittertor nach den stillen Grathügeln, bald nach der Stadt hinabzuschauen, deren Türme sich mit einem rötlichen Schimmer bekleideten, während die langen Häuserreihen noch schwarz umschattet lagen wie die Mauern des Friedhofes. Bei diesem Anblicke wurde es allmählich wieder ruhiger in dem einsamen Beschauer, und die widerstreitenden Eindrücke der letzten Stunden schwammen in das Gefühl eines heiligen Mutes, einer unverzagten Ergebung in den Willen einer höheren Fügung zusammen.

Am Rande des Waldes, der einen Teil des Breitenfeldes gegen den Höhenzug des Grauholzes und Bantigers absäumt, schallte ihm ein lauter Gesang von Männer- und Frauenstimmen entgegen, und bald sah er durch den werdenden Tag einen langen Zug von alten Männern, Weibern, Mädchen und Knaben heranziehen. Sie trugen weiße Leinwandsäcklein über die Schultern und waren mit Flinten, auf lange Stangen geschmiedeten Sensen, eisernen Gabeln und mancherlei anderen Ackergerätschaften bewaffnet, während ein alter Mann mit grauem Haar und Bart unbewehrt an ihrer Spitze marschierte und mit seiner mächtigen Stimme ihren Gesang zu leiten schien.

"Landsturm aus den Bergen", sagte der Wachtmeister, indem er anhielt, um ihrem Gesange zu horchen; aber unwillkürlich mußte er selbst einstimmen, als die Weise des alten Liedes ertönte:

Ich will gehn in Angst und Not,
Ich will gehn bis in den Tod;
Ich will gehn ins Grab hinein
Und doch allzeit fröhlich sein.


 << zurück weiter >>