Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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XIII

Als eine Viertelstunde später der Schultheiß, von dem Junker begleitet, durch die eingebrochene Dämmerung die Stadt hinabschritt, blieb er, über die seltsame Stille befremdet, auf dem Bärenplatze stehen und sagte um sich schauend: "Wie ist mir’s denn – haben wir schon Mitternacht, daß die ganze Stadt schlafen gegangen ist?" "Das nicht, Pate", erwiderte sein Begleiter; "aber ich glaube, der Gefangene im Marterturme hat das Präveniere gespielt und über die Stadt den Kriegs- und Belagerungszustand verhängt."

Der alte Herr blickte noch einmal an den stillen Häuserreihen hinauf und sagte dann, bekümmert das Haupt senkend: "Dein Hauptmann wird mit seiner Meinung recht behalten wollen. Das alte Bern ist nicht mehr hier und liegt heute außerhalb unserer Tore und Mauern."

An der Treppe des Rathauses, aus dem durch alle Fenster Lichter entgegenschimmerten, schieden die beiden. Der Junker blickte der hohen Gestalt nach, bis sie, langsam hinansteigend, durch die breite Flügeltüre geschritten war; dann wandte er sich und eilte raschen Ganges wieder die Stadt aufwärts. Am Christoffelturme vorbei, schaute er nach dem Marterturme hinüber; der Platz vor demselben war ebenfalls still und menschenleer, und nur hie und da schien am unteren Rande desselben eine schattenhafte Gestalt vorüberzuhuschen. Von dem Turmtore her aber erklang der regelmäßige Schritt eines Wachtpostens, der dort über das Steinpflaster auf und nieder ging.

Als der Junker ins Freie gelangt war, nahm er den Hut ab, um sich von dem feuchten Winde die heiße Stirne kühlen zu lassen. Trotz der innerlichen Eile, die ihn vorwärts trieb, mußte er langsamer gehen, um die Vorgänge des heutigen Tages in geordneter Reihenfolge überschauen zu können. Und welch ein Tag war das gewesen, von dem erschütternden Grabgesang der Kanoniere an im Rosengarten jenseits der Nydeck bis zu diesem Abendglöcklein, das in halb verwehten Lauten von Köniz herüberklang. Bei solchem Wiegenliede ließe sich’s sanft einschlafen, sprach es in ihm, während plötzlich die nahe Todesahnung, die durch die Aufregung der letzten Stunden verscheucht gewesen, wieder vor ihm aufstieg; aber nicht bang und beängstigend wie heute, nicht wie ein drohendes Schreckbild, vor dem das Blut aus den Wangen weicht, sondern eher wie ein schwebendes Traumbild, das in ruhig umdämmerte Fernen lockt. "Das ist schon der Segen, den dir wenigstens der ernste Wille eines gut gemeinten Tuns einträgt", sagte der junge Mann, während er sich mit einer Art wehmütigen Behagens dem Zuge neuer Gefühle dahingab.

Durch das Hoftor von Holligen getreten, bemerkte er, daß sich das Licht im Gemache des Fräuleins unruhig hin und her bewegte; aber unangenehm war es ihm, am Fuße der Treppe den alten Kammerdiener des Obersten anzutreten, der sichtlich auf erhaltene Weisung dastand. Der Junker wäre diesmal gerne unbemerkt zu Adelaiden gelangt. "Ist der gnädige Herr daheim?" fragte er leichthin, die Antwort vorauswissend.

"Nein, Herr, und er wird vor einigen Stunden schwerlich nach Hause kommen."

"Doch das Fräulein – meine Cousine?"

Der Alte blickte verlegen die Treppe hinauf und antwortete zögernd: "Das gnädige Fräulein ist unwohl und kann keinen Besuch annehmen."

"Wollen sehen", sagte der Junker kurz, indem er, ohne auf die versuchten Einwendungen des Alten zu achten, mit raschen Schritten die ersten Stufen überstieg – "bleib’ nur zurück, ich bedarf keiner Anmeldung."

Die Türe war verschlossen, und auf das erste leise Anklopfen erfolgte keine Antwort, doch ließ sich von innen heraus hastiges Geräusch vernehmen. Dem zweiten Pochen entgegnete eine fremdartige Stimme: "Wer ist da? Das Fräulein ist schon zur Ruhe gegangen."

"Meldet ihr, ich sei da", erwiderte der Junker leise, aber dringend, "ihr Vetter Albert, der sie durchaus sprechen müsse."

Augenblicklich schob sich der Riegel zurück; die Türe ging auf, und der Junker stand vor einem hochgewachsenen Bauernmädchen, dessen Gesicht von den tief niederfallenden Spitzen eines schwarzen Sammethäubchens bis über die Augen herab verhüllt war.

"Ist das Fräulein wirklich ernstlich krank?" fragte Herr v. Dießbach, von der an diesem Orte ungewohnten Erscheinung überrascht und unruhig nach der Seitentüre blickend; "wie ist das so plötzlich gekommen? Was ist denn vorgefallen?"

"Vieles in der kurzen Zeit, die ich dich nicht gesehen habe, Albert."

"Adelaide!" rief der Junker zurückfahrend, während eine schmale weiße Hand sich erhob und die Spitzen aus dem Gesichte zurückstrich; "nun, beim Himmel, jetzt ist doch keine Zeit zu Karnevalspossen – was soll das bedeuten, was hast du denn vor?"

"Das magst du nachher erfahren", lautete die Antwort, "vorerst erzähle, was dich herführt!"

Der Junker wußte nicht, was er denken sollte, und ließ sich mechanisch auf einem Stuhle nieder. Er hatte erwartet, Adelaiden in Jammer und Bangigkeit zu finden, wie er sie vorgestern verlassen, und jetzt stand sie in fremder Tracht und noch viel fremderem Wesen vor ihm. Als sie sich ihrem Gaste gegenüber gesetzt hatte und nun das volle Licht auf ihr Antlitz fiel, mußte er unwillkürlich die Hand über die Augen legen. Der Anblick dieses Marmorgesichtes mit den fest geschlossenen Lippen, die sonst so herzbezwinglich zu lächeln wußten, ging ihm durch die Seele.

"Nun, Albert – erzähle!"

"Weißt du, was diesen Nachmittag in der Stadt vorgefallen ist?"

Sie nickte langsam. "Ich weiß, daß die Kanoniere nach dem Marterturme gezogen sind, um dort ihren Hauptmann zu suchen."

"Ah!" machte der Junker, einen forschenden Blick auf seine Cousine werfend; "wenn du das so bestimmt weißt, bist du hier außen besser unterrichtet, als Tausende in der Stadt es sind."

"Gleichviel; weißt du Weiteres, so sprich! Meine Zeit ist mir vielleicht kurz zugemessen."

Der Junker fühlte sich durch den Ton, in dem diese Aufforderung gestellt war, verletzt und überlegte, was er antworten sollte; aber als er aufblickend das leise Zucken bemerkte, das um Adelaidens Lippen spielte, sagte er bewegt: "Du darfst mir nicht böse sein, daß ich nicht eher zu dir gekommen bin; ich trage selbst ein Leid, ein schweres Leid, das mich anderes vergessen ließ." Dann erzählte er, was er vom Judenbuben erfahren und wie er seinen Paten veranlaßt habe, persönlich nach dem Marterturme zu gehen."Das hast du getan", rief das Fräulein aufstehend und ihm die Hand entgegenreichend, "dann verzeih’ mir, Albert, ich tat dir Unrecht in Gedanken. Um Gotteswillen, sprich – du hast ihn gesehen! wie sieht er aus, was sagt er, und wie ist der Schultheiß von ihm gegangen?"

"Viele Fragen auf einmal", erwiderte der Junker lächelnd, indem er seinen Mund auf die dargereichte Hand niederbeugte; "erlaube mir, sie nach Belieben zu beantworten. Ich hatte mich dem Schultheißen mit meinem Ehrenworte verpfändet, daß wenigstens die schwerste Anklage gegen Rudolf falsch, daß er weder ein Spion noch Verräter sei; ich konnte das mit gutem Gewissen, und ja, ich hätte mich wohl auch zu der Behauptung verpflichten können, daß es keinen bessern Mann gebe zu Stadt und Land."

"Ich danke dir für dieses Wort", rief Adelaide leise mit aufleuchtenden Augen, "das hab’ ich längst gewußt."

"Und mir nie gesagt", sagte der Junker neckend; "gleichwohl war’s mir anfänglich bange, als sich die beiden gegenüberstanden, der strenge Richter und Aristokrat und der im Bewußtsein seiner Unschuld stolze Demokrat, wie er sich selbst offen nannte. Ich erschrak ins Herz hinein über dieses Bekenntnis, bei dem sich die Augenbrauen des Schultheißen zornig zusammenzogen; aber da, gerade im rechten Augenblicke, klopfte dein baumgroßer Nachbar drüben in der Mühle an der Türe und verlangte im Namen seiner Kameraden rundweg, daß man ihrem Hauptmann in allem und jedem aufs Wort glaube, denn der könne keine Unwahrheit sagen – mit Ausnahme eines einzigen Punktes. Auf die verwunderte Frage, welches denn dieser Punkt sei, antwortete der Wachtmeister gravitätisch: "Wenn der Hauptmann sagen sollte, wir seien nur hergekommen, um ihn vor unserem Abmarsche noch einmal zu sehen, so glaubt ihm das nicht, gnädiger Herr; wir sind ohne sein Wissen da eingebrochen, um ihn zu befreien; und weil er nun nicht mit uns fortgehen wollte, so bleiben wir selbst hier, bis man uns stückweise fortträgt. Das ist Meinung und Beschluß meiner Kameraden." Rudolf war verlegen; das Gesicht des Schultheißen aber hellte sich bemerkbar auf, und er sprach in Gedanken leise vor sich hin: "Wer sich Liebe und Anhänglichkeit seiner Untergebenen in diesem Grade zu erwerben weiß, braucht sich des Namens eines Demokraten nicht zu schämen."

"Der brave Christen", sagte Adelaide langsam; "ich dacht’ es wohl und habe mich nicht getäuscht."

Der Junker hob drohend den Finger in die Höhe. "Ich will dich jetzt nicht ausfragen, Cousine; aber mir will scheinen, du habest ein verwegenes Spiel gespielt."

"Als nichts mehr zu verlieren war", erwiderte sie fest aufblickend; "aber weiter, Albert, du quälst mich."

"Viel weiß ich nicht mehr", fuhr er nachdenklich fort; "der Schultheiß schickte mich bald weg, um die vom Obersten Stettler zur Bewältigung der Kanoniere vor dem Turme angesammelten Truppen in die Kaserne zurückzubeordern. Ich hatte mit dem zähen Manne lange zu parlamentieren und ihm die Gründe meines Befehls auseinanderzusetzen Was unterdessen im Turme vorging, kann ich nicht sagen."

"Jetzt willst du mich täuschen, Albert, und mir Schlimmes verhehlen; es wird aber dir und mir nichts nützen."

"Du irrst dich, Adelaide, und obwohl ich mir über den endlichen Ausgang der verwickelten Geschichte keine bestimmte Vorstellung zu machen vermag, so bin ich doch wenigstens Rudolfs wegen in keiner allzu großen Sorge. Als ich wieder in die Zelle zurückkam, hat der Schultheiß dem Gefangenen die Hand zum Abschiede gereicht, und ich denke, wem der einmal seine Rechte gegeben, den läßt er so leicht nicht wieder fallen."

"Und Rudolf ist also noch immer im Turme?" fragte sie ängstlich.

"Freilich; aber unter dem Schutze seiner Kanoniere, und da ist er gut aufgehoben. Diese Nacht noch wird der kleine Rat mit Zuziehung der Kriegskommission seine Angelegenheit aufs neue behandeln; wenn nur der gewalttätige Schritt der Kanoniere seinen Gegnern nicht eine neue Handhabe bietet!"

"Du begleitest mich nach der Stadt", sagte das Fräulein sich erhebend in entschlossenem Tone; "über den Verlauf der Verhandlung oder gewiß über deren Ausgang wirst du schnelle Auskunft erhalten können. Ich will dieselbe nicht hier und bis zum Morgen abwarten."

"Mit mir und in dieser Kleidung?" rief der Junker; "du trägst dich noch mit andern Absichten, Adelaide, die du schon vor meiner Ankunft ausgesponnen hast!"

"Still, still, Vetter", antwortete sie, mit der rechten Hand wohlgefällig über das grobe Tuch ihres linken Ärmels streichend; "warum sollte ich mich eines Kleides schämen, wie es die Mütter, Schwestern und Bräute der braven Kameraden Rudolfs tragen? Geh’ voraus, Albert, und erwarte mich am Ausgange der Allee, ich gehe nicht durch das vordere Tor. Von meinen Plänen zu sprechen, haben wir noch Zeit genug, du sollst alles erfahren."

Dann öffnete sie ihr Schmuckkästchen und nahm ein blinkendes Medaillon heraus, das sie hinter ihr Sammetmieder niedergleiten ließ. Das Licht erlosch, und eine Minute später schlüpften geräuschlose Tritte durch das Hinterpförtchen, die unbemerkt der hohen Mauer entlang durch die gewundenen Pfade des laublosen Buschwerkes eilten.

"Bist du es?" fragte der Junker leise, der, ganz vom Dunkel verhüllt, an einen der äußersten Stämme der Allee lehnte; "hast du niemand bemerkt?"

"Niemand", erwiderte das Fräulein aufatmend; "ich glaube, sie sind alle beim Nachtessen."

"Nicht das", machte der Junker, ihr den Arm bietend; "aber es ist vorhin da jemand hart an mir vorbei gegen die untere Mauer hingeschlüpft, und ich möchte drauf wetten, es ist Herr v. Amiel gewesen."

"Der?" rief sie mit mühsam unterdrücktem Schrecken; "er war den Nachmittag bei mir, der fürchterliche Mensch."

"Herr v. Amiel bei dir?"

Sie neigte das Haupt. "Mit Wissen meines Vaters, Albert."

Als sie an die große Linde hinkamen, wo sich die Straße nach Biel und Neuenburg abzweigt, stand da im Dunkel der Bäume eine geschlossene Kutsche, mit zwei Pferden bespannt, an denen nachlässig ein Fuhrmann lehnte; nebenan hielt ein gesatteltes Reitpferd. Der Junker streifte hart an dem Manne vorbei und sagte dann, nachdem sie einige Schritte weiter gegangen: "Ich werde mir in der Stadt ein Paar Pistolen zu verschaffen suchen, bevor ich dich zurückbegleite, Adelaide."


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