Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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I

Wer jemals die an reizenden Naturbildern so gesegneten Umgebungen Berns durchstreift hat, erinnert sich jenes Schlößleins, das etwa zehn Minuten westlich der Stadt, nahe an der Freiburger Straße in einem stillen Wiesengrunde liegt. Zu einem bequemen, mit allen Vorteilen der Menschennähe versehenen und doch wieder recht einsamen Edelsitze könnte kaum eine günstigere Lage gefunden werden. Der dunkle Waldhintergrund, der sich in einem großen Halbkreise auftut, scheint uns schon mit anmutiger Abgeschiedenheit zu empfangen, während der geschäftige Lärm der Stadtstraßen dem Ohre kaum verklungen ist.

Im Sommer wird in einiger Entfernung von dem ganzen Bauwerke nichts bemerkbar als der Giebel des Turmes, der aus einem kleinen Walde mächtiger Linden- und Kastanienbäume emportaucht. Geht man aber von der Straße seitwärts dem Bache entlang, so nimmt uns bald eine lange Allee auf, an deren Ende ein stattliches Portal entgegenschimmert. In dem Hoftore selbst, aus schwerem Eisenwerke gebildet und oben mit einem massiven Steinportale überwölbt, öffnet sich ein kleines Gitterpförtchen, das in den gepflasterten Hofraum treten läßt. Linksab, entlang der ziemlich hohen Umfangsmauer, dehnt sich ein dichtes Nadel- und Laubgebüsch, in das sich dunkelverschlungene Pfade verlieren; zur Rechten erheben sich einige Wirtschaftsgebäude, während mitten aus dem Raume der umfangreiche, viereckige Schloßturm emporsteigt. Sein Aussehen beweist auf den ersten Blick, daß sich an ihm die Bedürfnisse und Anforderungen verschiedener Zeitalter geltend gemacht haben. Der untere Teil der Mauern, sichtlich aus schweren Findlingen und mit eng eingekerbten Fenstern gebaut, erinnert an jene dunkeln Tage, wo bei dem Baue einer Wohnung mehr auf Stärke und Sicherheit, als auf Anmut und Bequemlichkeit Bedacht genommen werden mußte; die breiten, hohen Fensterlichter der oberen Stockwerke dagegen beurkunden einen Ursprung, der dem häuslichen Leben freundlichere und mildere Gewohnheiten gestattet hatte.

Am Ende des vorigen Jahrhunderts war das Schloß im Besitze einer angesehenen Berner Patrizierfamilie, die übrigens, in diesem Zweige wenigstens, nur noch aus Vater und Tochter bestand. Der Oberst hatte seine besten Lebensjahre in holländischen Diensten zugebracht und dort jenen Ernst, die fast puritanisch strengen Ansichten gewonnen, welche die holländischen Offiziere so scharf von ihren Standesgenossen unterschieden, die aus Frankreich wohl feinere gesellige Formen, aber dabei auch eine bedenkliche Laxheit der Sitten heimgebracht hatten. Er stand bereits stark in den Sechzigen, aber noch aufrecht und stramm wie sein Schloßturm. Die Tochter dagegen, Fräulein Adelaide, trug den Schmuck der eigentümlich auszeichnenden Frauenschönheit, die selbst der Neid dem Bernerlande oder wenigstens jenen Gegenden, in denen sich einst allemannisches und burgundisches Blut gemischt hat, lassen muß.

Es war an einem der letzten Dezemberabende des Jahres 1797, als sich in dem Empfangssaale des Schlosses eine Gesellschaft von Männern versammelt hatte. Während die einen durch Haltung und Bewegung verrieten, daß sie ihre Tage in Reih’ und Glied vor der Front zugebracht, zeigten sich im Benehmen anderer ebenso deutlich die Angewöhnungen des friedlichen und bequemen Bürgerlebens; ein feinerer Blick hätte sogar am Ausdrucke der Gesichter erraten, daß sich hier abweichende, nicht feindselig gegenüberstehende Lebensanschauungen zusammenfanden. Und so war’s in Wirklichkeit.

Es war damals eine trübe, ahnungsschwangere Zeit, und eine erdrückende Schwüle schien besonders auf der einst so gewaltigen Hauptstadt der Republik Bern zu lasten; nicht bloß weil der bedrohliche Geist der Neuerung in den Untertanenlanden, in der Waadt und im Aargau, bereits in den Trotz offener Rebellion umgeschlagen hatte, während der eroberungslustige Feind hart an der Grenze lauerte, sondern vor allem, weil im Herzen des Regimentes selbst Zwietracht und Mißtrauen herrschten. Die entschlossenen Verfechter althergebrachter Ordnung, die sich um den greisen Schultheißen Steiger scharten, gaben sich keine Mühe zu verhehlen, daß sie in einigen jüngern ihrer Ratskollegen nichts mehr und nichts minder als geheime Verbündete der Revolution sahen; nicht etwa weil diese Jüngern an den Sturz des patrizischen Regiments dachten, sondern bloß, weil sie schüchtern meinten, es wäre klug, den nicht regimentsfähigen Bürgern von Bern, den Bürgern der Landstädte und endlich auch den Untertanen einige Konzessionen zu machen.

Der Oberst selbst war durch Geburt und Erziehung ein entschiedener Aristokrat, der sich vor dem Wehen der neuen Zeit in sich zusammenschloß; aber mit dem Takte eines warmen patriotischen Gefühls sah er, daß dem äußern Feinde gegenüber nur innere Eintracht retten könne, und daher stammte sein Bemühen, Männer verschiedener Stellungen und Ansichten in seinem Hause zusammenzubringen. Freilich brachte dieses Opfer geringe Früchte. Man stritt sich über die Zustände und Tagesereignisse am gastlichen Kaminfeuer wie im Ratssaale, oft nur unverhohlener und anzüglicher, und gewöhnlich ging jeder in seiner persönlichen Ansicht gefestigter nach Hause, als er gekommen war.

Auch heute hatte die Unterhaltung, da man eben die Nachricht von der Einnahme des Schlosses Chillon durch die Viviser Bürger erhalten, bereits einen sehr gereizten Ton angenommen. Fräulein Adelaide, die gegen alle mit der gleichen Liebenswürdigkeit die Honneurs des Hauses machte, wußte wohl schon aus Erfahrung, daß auf diesem Wege weder ein geselliger, noch ein politischer Zweck erreicht würde, und sagte daher, sich an einen bleichen, gewöhnlich stillen Gast wendend: "Nun, lieber Doktor, da sich die Herren über den Verlust des Wasserschlosses im Genfersee nicht einigen können, sollten Sie uns einmal die längst versprochene Entstehungsgeschichte unseres Landschlößchens zum Besten geben. Nicht wahr, Sie tun es?" Die übrige Gesellschaft war mit dieser Wendung einverstanden, und als auch der Hausherr den Wunsch seiner Tochter unterstützte, erzählte der Aufgeforderte:

"Nach der gewöhnlichen Annahme fällt die Erbauung dieses Schlosses, das in ältern Urkunden bald Hollingen, bald Hollanden genannt wird, wie viele von Ihnen wissen werden, in das Jahr 1427; eine andere Überlieferung versetzt dieselbe in eine etwas spätere Zeit und nennt als Erbauer den Junker Hans von Andern, einen Sohn jenes Schultheißen Wilhelm von Dießbach, der nach der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts in Bern mächtig gewesen.

"Dieser Junker hatte am französischen Königshofe ein Fräulein aus vornehmem Geschlechte lieb gewonnen, das er als eheliches Gemahl in die Heimat zu führen gedachte; da aber damals von den stattlichen Häusern, die heute Berns Stolz und Zierde bilden, noch nichts zu sehen war, so beschloß er, seinem adeligen Lieb eine eigene standesgemäße Wohnung zu bauen, in der es Pracht und Glanz des elterlichen Schlosses eher vergessen möchte. Und hiezu war dieser stille Wiesengrund, an dem zu jener Frist nur eine Mühle ihr Klappern hören ließ, ausersehen.

"Der Bau wurde mit aller Eile gefördert, die von einem jungen Herzen, das sich nach dem Besitze seiner Liebe sehnt, zu erwarten stand. In Jahresfrist waren die Wetterfahnen auf dem Turme aufgesteckt; den geräumigen Hof umzogen hohe, mit Schießscharten und Brustwehren wohlversehene Mauern, und am Portale prangte das untadelige Wappen derer von Dießbach. Als aber die fremde Dame das neue Schloß betrat, warf sie den Kopf zurück und meinte höhnisch, das sehe ja gerade aus wie die Taubenhäuser auf den Dächern ihrer Väterburg an der Loire. Nicht einmal eine Klingelschnur sei in dem Verschlage angebracht.

"Dem Junker Johann, der seine wohlmeinende Liebe so übel verdankt sah, gingen diese kränkenden Worte tief zu Herzen; die vermißte Klingelschnur aber, wenn auch im Lande noch gänzlich unbekannt, da die Edelfrauen ihre Dienstboten etwa durch ein silbernes Pfeifchen herbeizurufen pflegten, wurde alsbald nachgeholt, nur fast in trotzigem Übermaße. In allen Gängen des Turmes und in den Kammern der Dienstboten wurden eherne Glöcklein aufgehängt, die alle zusammen durch einen Zugdraht verbunden waren, der in einem schweren silbernen Handringe im Gemache der Edeldame auslief. Diese Einrichtung war jedoch keineswegs genügend, den anspruchsvollen Sinn der Herrin zufrieden zu stellen. Ihre müßigen Launen ersannen mit jedem Tag neue Unbill, die ihr alsgemach das Herz des Gatten entfremdeten und namentlich dem Gesinde zur schwersten Lebensplage wurden.

"Einmal in kalter Winternacht ertönten plötzlich alle Glöcklein mit so anhaltendem Geschelle, daß selbst die in den Hofgebäuden schlafenden Dienstleute aufgeschreckt wurden. Alles lief, ein Unglück befürchtend, in ängstlicher Eile nach dem Gemache der Edelfrau. Diese aber saß ruhig in ihrem Lehnstuhle und sagte den Hereinstürzenden spöttisch, sie selbst habe keine Lust zum Schlafen und wolle darum auch nicht leiden, daß andere der Ruhe pflegen.

"Diese arge Laune wäre mit andern ähnlichen dahingegangen, wenn sie nicht eine unvorhergesehene, traurige Folge gehabt hätte. Zur selben Stunde nämlich war die junge Frau des Torwächters eines Mägdleins genesen, der plötzlich entstandene Alarm ergriff die schwache Wöchnerin dergestalt, daß ihr der kalte Schreck nach dem Herzen fuhr und sie beim ersten Morgenscheine eine Leiche war. In seinem Schmerze verfluchte der Torwärter, das wimmernde Kindlein auf dem Arme, die Edelfrau, daß sie so lange keine Ruh’ finden möge und ihre Glöcklein läuten müsse, als eine Waise nach der Mutterbrust schreie. Der Schloßherr selbst ließ seine Gemahlin über ihre herzlose Tat mit harten Worten an, diese jedoch war nicht gewillt, sich solches gefallen zu lassen, und zog im Zorne von dannen nach ihrer Heimat zurück. Aber wenige Monden vergingen, und es kam die Botschaft, daß sie eines jähen, gewaltsamen Todes gestorben sei.

"Kaum einige Wochen nach dem Eintreffen der Botschaft erklangen nächtlicherweile sämtliche Glöcklein des Turmes gerade wie in jener Mitternacht, da des Torwärters junges Weib zu unglückseliger Stunde ein Mägdlein geboren. Das Gesinde fuhr aus dem Schlafe, und der treue Kurt, der in seines Herrn Nähe schlief, stürzte schreckensbleich in dessen Schlafgemach; der Junker aber richtete sich verwundert in seinem Bette auf und begehrte zu wissen, was die ungebetene Störung bedeuten solle. Von dem schrillen Glockengeläute hatte er keinen Laut gehört. Durch die übereinstimmenden Aussagen der herbeieilenden Dienerschaft jedoch von dem Vorfalle überzeugt, befahl er, den Turm mit Windlichtern und Fackeln zu durchsuchen von der Eingangspforte bis unter den Giebel hinauf, während er selbst sich nach dem Gemache der verstorbenen Herrin begab. Es war seit ihrer Abreise nie mehr geöffnet worden, der Schlüssel drehte sich nur mühsam in dem bereits rostenden Schlosse, und drinnen war kein Stuhl, kein Schemelchen, kein Teppich verrückt; die geschlossenen Fensterladen lagen fest in ihren Angeln, und der silberne Zugring des Glockendrahtes hing bereits von Spinnengeweben umsponnen. Den Junker erfaßte ein kaltes Grauen, als er nach dem Bilde seiner Gemahlin emporblickte, das, mit einem schwarzen Spitzentuche halbverhüllt, in dem ungewissen Lichtscheine wie mit brechenden und doch höhnischen Augen von der Wand auf ihn herabschaute. Die Dienstboten aber waren von ihrem Nachsuchen, das keinen Winkel undurchstöbert gelassen, ebenfalls mit vergeblicher Mühe zurückgekommen.

"Dem Wunsche des Junkers zuliebe, der allen stets ein freundlicher Herr gewesen, würde der Vorgang wohl geheim gehalten worden, vielleicht allmählich auch in Vergessenheit geraten sein; doch kaum hatte sich der Mond wieder erneut, als die Dienstleute mitternächtlicherweile abermals durch das gellende Geläute aus dem Schlafe geschreckt wurden, ohne daß der Schloßherr auch diesmal etwas gehört hatte. Und was nun zum zweiten Male geschehen, geschah nicht bloß zum drittenmal, sondern brachte mit jedem Mondwechsel neuen Schrecken zurück.

"Darüber wurde es immer stiller und unheimlicher im Schlosse; die Leute, die nicht durch besondere Gründe an den Herrn gebunden waren, verließen einer nach dem andern den Dienst, und dem Junker selbst mußte der Ort, an dem ihm die Hoffnungen auf liebegesegnetes Lebensglück so schnell und traurig zerronnen, wenig Freude mehr bieten. Er zog nach dem fernen Ungarlande und hat sich dort, wie die Überlieferung erzählt, im Kampfe gegen die Ungläubigen den Namen eines frommen tapfern Ritters und ein rühmliches Grab erworben."

Der Erzähler hielt inne und griff langsam nach seiner Teetasse; als er aber bemerkte, wie sich die Gesellschaft verlegene Blicke zuwarf, sagte er lächelnd; "Es tut mir leid, wenn ich in meiner Erzählung nicht die nötige Höflichkeit gegen dieses Haus beobachten konnte; bekanntlich hat aber unser edler Gastfreund dasselbe erst vor wenigen Jahren erworben, und vor allem mußte ich die Treue der Überlieferung bewahren."

"Sie haben auch noch nicht zu Ende erzählt", rief ein junger Mann den Tisch herauf; "ich bitte, zum Anfange auch den Schluß zu bringen."

"Was ich noch weiß, ist nicht mehr viel", sagte der Doktor, "und ich kann es in wenigen Worten sagen. Nach dem Tode des kinderlosen Junkers fiel das Schloß an seine Verwandtschaft zurück, die jedoch nicht wenig überrascht sein mochte, im letzten Willen des Erblassers die Bestimmung zu finden, daß von all’ den Glöcklein, die im Turme hingen, kein einziges entfernt werden dürfe und jeder künftige Besitzer verhalten sei, je ein unbrauchbar gewordenes durch ein neues zu ersetzen. Das verhinderte jedoch keineswegs, daß das anmutige Besitztum nicht zu jeder Zeit seine Liebhaber gefunden hätte; sei es, daß sich der unheimliche Spuk im Laufe der Zeiten verlor, daß man sich daran gewöhnte oder vor allem, weil nur das Gesinde davon beunruhigt wurde und die Herrschaft nie etwas davon zu hören bekam."

"Ah, da haben wir die ganze Bescherung", lachte ein junger Herr von Dießbach; "der lustige Doktor erzählt uns mit dem ernsthaftesten Gesichte des Historikers ein Geschichtchen, das, in der Gesindestube erfunden, sonst auch nur dort erzählt wird. Drum wohl hab’ ich in meiner Familie nie etwas von meinem unglücklichen tapfern Vetter, dem Junker Hans von Andern, gehört."

"Und doch", bemerkte der Oberst nachdenklich, "fällt mir da etwas ein, über das ich noch nie weiter nachgedacht habe. Von dem Pachtzinse der alten Mühle drüben fallen nach altem Herkommen alljährlich dem Schloßverwalter zehn Pfund direkt zu, und zwar unter der Benennung "Glöckleinpfennig". Ich hielt das bisher für irgend ein Benefice des Verwalters; ob es aber nicht mit der sonderbaren Testamentsbestimmung des Junkers Hans zusammenhängt?"

"Ganz gewiß", erwiderte der Doktor, indem er sich die Angabe des Obersten in sein Taschenbuch notierte.

"Auch ich bin um etwas klüger geworden", sagte Fräulein Adelaide; "die alte Müllerin, mit der ich mich manchmal recht gerne unterhalte, hat mir ebenfalls schon von dem geheimnisvollen Läuten erzählt und nannte es sonderbar genug "die Waise von Holligen". Gewiß bezieht sich dies auf das Kind des armen Torwärters, in dessen Namen die übermütige Dame verwünscht wurde."

"Nun dann, sagenkundige Prinzessin im verzauberten Schlosse", fiel der junge Mann ein, der vorhin den Doktor zu seiner Schlußbemerkung veranlaßt, "dann ist Ihnen wohl auch nicht unbekannt, daß wir noch nicht alles wissen und daß die Geschichte, wie recht und billig, mit einer Prophezeiung ihres eigenen Endes schließt?"

"Nein, davon weiß ich wirklich nichts, edler Günstling der Musen", erwiderte Fräulein Adelaide, indem ihre Blicke mit errötendem Wohlgefallen an dem schönen und geistreichen Gesichte des Jünglings hingen.

"So bin ich abermals der Weiseste", sagte er mit komischem Pathos, die dunklen Locken, die sich unter den weißen Puderköpfen der übrigen seltsam genug ausnahmen, von der Stirn zurückstreichend; "die Erzählung schließt, wie ich aus glaubwürdigem Munde erfahren: das geisterhafte Läuten könne nicht zur Ruhe kommen, bis es in den Ohren des Schloßherrn ebenso gellend erklungen als sonst in denjenigen der Dienstleute. Zu der Zeit aber werden große Zeichen geschehen am Himmel und auf Erden."

"Ich behalte recht", rief Herr v. Dießbach, "das Ammenmärchen schämt sich endlich über seine eigene Einfalt und sucht sich darum in einen apokalyptischen Schluß einzuhüllen. Nicht so, Herr König?"

"Ich meinenteils versteh’ es nicht so", erwiderte der Jüngling.

"Nun, wie denn, mit gütigster Erlaubnis?"

Der Befragte schlug die großen dunklen Augen auf und ließ sie eine Weile über die Familienbilder hingleiten, die, mit militärischen Ordenszeichen oder goldenen Ratsherrenketten geschmückt, von den Wänden des Saales herabschauten, dann sagte er ernst: "Ich habe in vielen Sagen, die vom Übermute herzloser Herren erzählen, einen gemeinsamen Zug unverwüstlichen Glaubens gefunden, daß es einst anders und besser werde, daß eine gerechte Zukunft die Schranken zwischen Herr und Knecht, zwischen Mensch und Mensch niederwerfen würde. So auch hier. Die Ohren des Herrn werden für Laute geöffnet, die bisher nur den Knecht geängstigt. Dann aber ist auch der Fluch, der bislang auf der Sünde übermütiger Knechtung gelastet, gelöst, und die armen Seelen dürfen zu ewigem Frieden eingehen."

Der Jüngling hatte diese Worte in so feierlichem Tone gesprochen, und über seinem Gesichte selbst lag dabei ein so schwärmerischer Ernst ausgegossen, daß eine Weile um den ganzen Tisch herum lautlose Stille herrschte, als wäre eine wirkliche Prophetenstimme an die Herzen erklungen. Fräulein Adelaide aber warf einen bittenden Blick über den Tisch hinunter und schaute dann ängstlich auf den Vater, dessen dunkle Stirnader bis unter die weißen Haare hinauf sichtbar wurde. Der Oberst rückte endlich mit dem Stuhle und sagte mit übel verhehltem Unmute: "Es will mir scheinen, unserm werten Hauptmann habe seine Künstlerphantasie wieder einmal einen Streich gespielt und ihn aus unserer unwürdigen Mitte nach Utopien (Nirgendheim), entführt."

"Um Vergebung", fiel rasch ein Herr ein, der bisher scheinbar teilnahmslos, nachlässig gegen das Kamin zugewendet, dagesessen, "ich glaube eher nach dem Pariser Jakobinerklub; das Lokal ist dem Herrn Maler genau bekannt."

Über das Gesicht des jungen Mannes flog eine brennende Röte, und schon hatte er die Lippen zu einer raschen Antwort geöffnet, als sein Blick auf Adelaiden fiel, die ihn angstvoll anschaute, die rechte Hand leise, wie zu einer Bitte, in die Höhe gehoben. Er fuhr mit der Hand über die Augen und lehnte sich langsam wieder in den Stuhl zurück. "Herr Oberst", sagte er dann ruhig, "mir können Sie gewiß nicht zürnen, wenn ich manchmal einen kleinen Abstecher ins Feenland mache; wollte ich ohne diese Beihilfe nur die nackte Wirklichkeit malen, so wären Sie mit meinen Arbeiten am allerwenigsten zufrieden. Was hingegen den Jakobinerklub anbetrifft, Herr v. Amiel, so habe ich nie verhehlt, daß mich während meines Pariser Aufenthaltes die Neugierde mehr als einmal dahingetrieben; gewiß aber bin ich nie als Spion hingegangen."

"Herr Hauptmann!" rief der am Kamin Sitzende, indem er sein scharfmarkiertes bräunliches Gesicht dem Tische zukehrte; aber auf eine kaum bemerkliche Handbewegung des Malers ließ er sich wieder in seine nachlässige Stellung zurückfallen und sagte kalt: "Ich liebe die Offenheit, besonders wenn sie zu so seltsamer Beichte geht; ich bin darum auch überzeugt, Sie wollten mich nicht beleidigen, Herr Hauptmann."

"Keineswegs, Herr v. Amiel."

Diese seltsame Szene, so rasch sie vorübergegangen, hatte ihren Eindruck nicht verfehlt, und es schien niemand mehr Lust oder Geschick zu haben, dem Gespräche eine behaglichere Wendung zu geben. Man erhob sich zum Abschiede, und bald erklangen die Glöcklein der Schlittenpferde durch die Allee hinaus.

Der Oberst und seine Tochter waren allein im Saale zurückgeblieben. Nach kurzem unmutigem Auf- und Niedergehen sagte er stehen bleibend: "Du wirst Sorge tragen, Adelaide, daß der Hauptmann König fortan keine Karte mehr empfängt."

"Wie du wünschest, Vater", erwiderte das Fräulein, ihr Gesicht von der Helle des Kaminfeuers abwendend; "ich werde mir’s notieren."

"Hoffentlich wird er dabei selbst einsehen", fuhr der Oberst fort, "daß dein angefangenes Porträt unvollendet bleiben kann."


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