Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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VIII

Adelaide vermochte einem Zweifel an der Schuldlosigkeit des Hauptmanns keinen Raum zu geben. Hatte sie sich seit dem Besuche des Junkers v. Dießbach nur die bange Frage gestellt: lebt er noch oder ist er schon hinübergegangen? so kam ihr jetzt, da sie wußte, wessen er angeklagt und wofür er litt, sein Schicksal als ein höhnender Frevel vor, der an ihr selbst begangen worden. "Ja, wehre dich", sagte sie nochmals laut vor sich hin; "wenn selbst dein Vater in seiner Verblendung mithilft, den Schuldlosen lebendig in das Grab zu werfen, so bleibt dir nur noch eine Pflicht zu erfüllen. Aber wie", fuhr sie nach einer Weile, die Hand an die Stirne legend, fort, "wie soll ich helfen und was kann ich Arme gegen die herzlose Gewalt der Mächtigen und die Arglist der Verworfenen tun! Amiel, Amiel – ich erkenne dich! O Gott, zeige mir ein Licht, das aus diesem Dunkel führt!"

Als sie zweifelnd und in sich ringend an das Fenster trat, sah sie die Müllerin über den Schloßhof hereinkommen und, wie von einem leuchtenden Strahle plötzlich erhellt, rief sie laut: "Ich hab’ es – ich hab’s gefunden; hat er ja selbst Heil und Rettung für alles stets nur von der aufopfernden Liebe und Treue des Volkes erwartet."

Es verfloß wohl eine Stunde, bevor die Müllerin wieder durch die Allee hinaus nach ihrer Wohnung hinüberging; aber in dieser kurzen Frist schien sich die Frau verjüngt zu haben. Zu Haus erteilte sie an Knecht und Magd bestimmte Befehle für den Fall, daß sie vor Abend nicht zurückkehren würde, und begab sich dann unverweilt auf den Weg dem Bache entlang der Stadt zu. "Was die Meisterin nur Wichtiges haben mag", sagte die Magd, der Davongehenden nachblickend; "sie machte ja ein Gesicht, als wollte sie selbst in den Krieg gehen." "Oh, an Courage tät’s der nicht fehlen", meinte der Knecht; "die würd’s noch mit manchem aufnehmen, der Hosen trägt, wenn’s drauf ankäm’."

Und der Knecht, der so viele Jahre in der Mühle gelebt, mochte wissen, was er sagte. Die Müllerin war eine Frau, die bei aller milden Gutmütigkeit ihres Wesens das Herz auf dem rechten Flecke trug. Nach dem frühen Tode ihres Mannes hatte sie selbst mit Meisterhand das Geschäft geführt, und unter Umständen war’s ihr auch nicht darauf angekommen, mit Roß und Wagen stundenweit über Land zu fahren. Seit ihr "Büebel", denn so nannte sie noch immer den sechs wohlgemessene Fuß hohen Wachtmeister, herangewachsen war, hatte sie zwar diesem solche Arbeit überlassen, aber wo es sein mußte, wußte sie stets noch handlich zuzugreifen. So hatte sie auch gestern weder sich selbst noch dem Sohne das Scheiden durch Jammern und Klagen schwer gemacht. "Geh’ du nur und halt’ dich brav, Christi", sagte sie dem jungen Soldaten, "und für das Übrige wollen wir Gott sorgen lassen." Als sie jetzt raschen Ganges an das Stadttor gekommen, rief ihr eine kräftige Stimme entgegen: "Ei seht da, Frau Müllerin, habt Ihr schon Heimweh nach Eurem Söhnlein? Ja, ja, kann mir’s denken, daß Euch der Herzkäfer fehlt!" "Heimweh grad nicht, Herr Wacker", erwiderte ruhig die Müllerin; "doch hab’ ich etwas Dringendes zu sprechen mit meinem Christi. Könnt Ihr mir sagen, wo ich ihn finde?" "Die Kompagnie hat diesen Morgen Appell an der Kreuzgasse", berichtete der Ädemajor; "dort werdet Ihr ihn antreffen."

Als aber die Müllerin kaum an den bezeichneten Ort gekommen war, trat ihr unerwartet ein Anblick entgegen, der auch ihre sonst so unerschrockene Seele ergreifen mußte. Am Rathause herauf bog durch die Seitengasse still und feierlich ein Leichenzug heran, der allem Anschein nach einem Soldaten die letzte Ehre gab. Der schmucklose Sarg wurde von sechs Kanonieren getragen, an deren Spitze gesenkten Antlitzes der Wachtmeister dahinschritt, ohne seine Mutter zu bemerken. Hinter den Trägern ging schluchzend ein alter Mann in bäuerlicher Kutte, dem in langem Zug, je zwei zu zwei, die ganze Kompagnie folgte. "Lieber Himmel", fragte die Müllerin einen neben ihr Stehenden, "ist denn schon einer von den Kanonieren gestorben, hat’s vielleicht schon ein Unglück gegeben?"

"Ich weiß es nicht", erwiderte der Angeredete, "sonderbar ist’s schon, sonst legt man einem Soldaten etwa Hut und Seitengewehr auf den Sarg, und die Offiziere gehen mit zum Begräbnis; aber von denen ist ja auch keiner dabei." "O, das glaub’ ich, das glaub’ ich", fiel eine heisere Weiberstimme ein, "und das Seitengewehr möcht’ ich sehen, das man der mitgeben könnt’. Es ist auch nur eine, nun, ich weiß wohl, was für eine Person, die bei der Gremplerin unterm Rathaus gewohnt hat; aber eine rechte Schand’ ist’s schon für die Soldatenleut’, daß sie mitgehen." "Da lügst du", entgegnete rasch die Müllerin, dem Weibe zornig und verächtlich zugleich in das braune, magere Gesicht schauend; "ja, wenn dein Mann, der Judenbub dabei wär’, könnt’ ich von der Toten glauben, was du sagst." "Oh, oh", keifte die andere, während sie unwillkürlich vor ihrer drohend aufgerichteten Gegnerin zurückwich, "meinst etwa, weil dein Wachtmeister mitgeht, sei die Sach’ besser, als sie ist? Wart’ nur, wirst schon sehen, was der Hauptmann dazu sagt, wenn er’s vernimmt. Und was sich schickt, brauch’ ich nicht von dir zu lernen – daß du’s weißt!"

Die Müllerin hatte keine Lust, mit dem Weibe einen Straßenzank anzuheben, und schickte sich an, dem die Straße abwärts schreitenden Leichenzuge zu folgen, als von der entgegengesetzten Seite sich Pferdegetrappel vernehmen ließ. "Da hast’s", rief die Judenbübin schadenfroh, "da kommen die Herren Offiziere, der Hauptmann und Lieutenant, grad wie gerufen." Und in der Tat schwenkten die beiden im Trabe auf den Platz herein. Herr v. Amiel schaute verwundert umher und, als er die Straße abwärts den Leichenzug erblickte, rief er hastig: "Was ist das, Herr Lieutenant, sind das nicht unsere Leute, die dort hinabmarschieren?"

"Zu Befehl, Herr Hauptmann", pustete der Gefragte, die Hand über die nachschauenden Augen legend, "blau-rot etzätera; die müssen den Appell vergessen haben, rein vergessen."

"Ihr reitet ihnen nach mit der Ordre, augenblicklich zurückzukehren", befahl der Hauptmann; "bei strengster Strafe, versteht Ihr?"

"Zu Befehl, zu Befehl", erwiderte der Lieutenant, sein Tier in Bewegung setzend, "werd’s ihnen sagen, den Dummköpfen etzätera."

"Na, na, was meinst jetzt", höhnte die Judenbübin, "wird dein Wachtmeisterle noch weit springen? He, der Hauptmann ist kein Mehlsackträger; der versteht das Mückenaustreiben, hochmütiges Pack, das ihr seid!"

Statt einer Antwort auf diesen erneuten Angriff begnügte sich die Müllerin, auf die andere Seite der Straße zu gehen, von wo sie mit unverwandten Blicken dem Lieutenant nachschaute. Er ritt, nachdem er die langsame Schar bald eingeholt, den Säbel ziehend an der Spitze des Zuges und schien dort unter lebhaften Gestikulationen seine Befehle auszurichten; aber kaum einen merklichen Augenblick kam das Trauergeleite ins Stocken, um sich sofort wieder in seinem feierlichen Gange vorwärts zu bewegen. Der Lieutenant ritt der Reihe entlang auf und nieder, da und dort anhaltend und mit dem Säbel in der Luft herum fechtend, vergeblich. Schon waren die Sargträger, um die Ecke biegend, in die abwärts lenkende Staldenstraße verschwunden, und nach einer Minute blieb nur noch der Lieutenant sichtbar, der in unbehilflicher Verlegenheit bald dem Zuge nachschaute, bald zum Hauptmann heraufblickte. Dieser winkte ihm mit dem Degen zurückzukommen und rief ihn schon von weitem an: "Was ist’s? Warum haben die Bursche nicht Ordre pariert?" "Zu Befehl, Herr Hauptmann", antwortete der Lieutenant, sich den Schweiß von der Stirne wischend, "’s hat keiner das Maul aufgetan, einzig der Wachtmeister erklärte, sie werden auf dem Platze erscheinen, sobald der Sarg an das Grab geleitet sei, etzätera." Der Hauptmann biß erbleichend die Lippen zusammen und setzte seinem Pferde die Sporen ein, aber nach wenigen Sätzen riß der Reiter das Tier wieder herum und rief dem Lieutenant zu, bis zu seiner Rückkehr zur Stelle zu bleiben. Er selbst sprengte nach dem Rathause hinüber und eilte, die Zügel einem gravitätisch dort stehenden Weibel zuwerfend, im Fluge die breite Treppe hinan.

Die Müllerin hatte dieser rasch vorübergehenden Szene mit klopfendem Herzen zugeschaut. "Ja, geh’ nur zu deinen gnädigen Herren", sagte sie halblaut, als der Hauptmann durch die Rathaustüre verschwunden war, "dort drunten sind ihrer hundert, die zusammenhalten", und ohne weiteres Besinnen eilte sie durch die Lauben, die der Straße entlang abwärts führen. Als sie am Ende des Staldens zur Brücke kam, sah sie den Leichenzug bereits durch das Tor des Friedhofes biegen, der auf der jenseitigen Anhöhe des Flusses lag. Wie sie nun selbst den menschenleeren Weg emporstieg und zum Geleite nur noch die Klänge des Totenglöckleins hatte, die von der alten Nydeckkirche herüberschwammen, kam über ihr Herz die ganze wehmütige Feier, die den Menschen in der Nähe eines Grabes von seinem irdischen Tun ablöst und sein Gemüt durch die Vorstellung alles Vergänglichen zugleich mit der trostvollen Ahnung des Ewigen erfüllt. Am eisernen Gittertore des Friedhofes blieb sie, die Hände faltend, stehen, während sich drinnen ein Chor von Männerstimmen wie tief anschwellender Glockenton zu dem alten Liede erhob:

Ich bin ein Gast auf Erden
Und hab’ hier keinen Stand;
Der Himmel soll mir werden,
Da ist mein Vaterland.

Die Müllerin sprach diese Worte leise nach, mit denen sich ein demütiges Gebet verwob, daß der Herr der armen Seele, die jetzt vor seinen Thron getreten, ein gnädiger Richter sein möge, aber noch bevor das Lied zu Ende war, wurde sie durch das Geräusch nahender Tritte aus ihrer Andacht aufgestört, und aufblickend sah sie den Junker v. Dießbach langsam von der andern Seite der Friedhofmauer herankommen. Er schien ebenfalls, in Gedanken verloren, dem Gesang zuzuhören und sie nicht zu bemerken, bis sie eine Bewegung machte, um ihm den Eingang durch das Tor offen zu lassen; dann aber starrte er sie mit plötzlichem Erschrecken einen Augenblick an und lief, ohne ihrem Gruße zu antworten, so eilig wieder auf dem nämlichen Wege zurück, als ob ihm ein unheilverkündendes Gespenst erschienen wäre.

Das Lied verhallte, und bald ließ sich über den Friedhof her der gleichmäßige Soldatenschritt vernehmen. Der Wachtmeister blieb verwundernd stehen, als er vor dem Tore seine Mutter wartend und ihm zuwinkend erblickte, und das verlegene Zögern, mit dem er aus der Reihe trat, schien zu verraten, daß ihm diese Begegnung im Augenblick fast ebenso ungelegen als unerwartet kam; aber nach den ersten gewechselten Worten rief er so laut: "Was sagst du? ist das wahr?" daß seine Kameraden neugierig aufschauten und die Mutter ihn nur mit Mühe beschwichtigen und weiter weg auf die Seite ziehen konnte.

Die Kompagnie marschierte langsam vorwärts und machte, am Staldentore angelangt, Halt, um den zurückgebliebenen Kameraden abzuwarten. Mit Teilnahme und Spannung sahen die Leute, wie er in eilfertigem Laufe die Anhöhe herabeilte, und schon von weitem rief’s ihm entgegen: "Was ist begegnet, Wachtmeister, hoffentlich nichts Ungutes." "Still, nur still", erwiderte er aufatmend, "da auf der Straße läßt sich die Sache nicht verhandeln, nachher werdet ihr’s schon vernehmen. Aber vorwärts jetzt, Kameraden, und nochmals, fest zusammengehalten!"

Als der wohlgeordnete Zug dem Sammelplatz nahte, war derselbe schon von einer neugierigen Volksmenge bedeckt, die sich rings um die beiden zu Pferde haltenden Offiziere ergoß, neben diesen stand aber noch mit aufgepflanztem Bajonett und Gewehr im Arm eine kleine Abteilung Garnisönler, denen in gewöhnlichen Zeiten die Torwachen und der sonstige Sicherheitsdienst der Stadt oblag. Die Mannschaft löste ohne Kommando ihre Reihen, um sich wie gebräuchlich in zweigliedriger Front aufzustellen. Nachdem der Lieutenant die Namen der Kompagnie abgerufen und deren jedem mit Ausnahme des Belper-Fritz und Ruedis ein kräftiges "Hier" geantwortet, kommandierte der Hauptmann, den Degen ziehend: "Unteroffiziere vorgetreten!" Aller Blicke richteten sich nach dem Wachtmeister, und als dieser ruhig zwei gemessene Schritte vor die Front trat, folgten auch die übrigen Unteroffiziere dem Beispiele. Soldaten und Zuschauer verharrten in atemloser Stille, die durch das hereintönende Murmeln des nahen Brunnens nur noch mit einer fast beängstigenden Schweigsamkeit erhöht wurde. "Die Zeit der Sammlung war euch um neun Uhr angesagt", begann der Hauptmann mit mühsam angestrengter Stimme; "jetzt ist’s eine Stunde später; wie ist das gekommen und warum habt ihr der Weisung des Lieutenants nicht Folge geleistet?"

"Herr Hauptmann", antwortete ohne Zögern der Wachtmeister, "ich hab’ Euch noch diesen Morgen im Namen der ganzen Kompagnie gebeten, unsern gefangenen Kameraden auf eine Stunde frei zu geben, daß er seiner Schwester die letzte Ehre erweisen könne. Was Ihr ihm nicht erlauben wolltet, das haben nun wir für ihn getan."

"Bist du der Ratgeber und Rädelsführer?" fragte der Hauptmann näher heranreitend; "Wer hat den Vorschlag gemacht?"

"Einen Rädelsführer braucht’ es nicht", erwiderte ruhig der Wachtmeister; "wir haben’s alle gemeinsam beraten und beschlossen und sind der Folgen gewärtig."

"Die werdet Ihr auch spüren", rief der Hauptmann, "auf Befehl der Kriegskommission, eurer gnädigen Herren und Obern, versteht ihr? legt ihr sogleich euere Waffen nieder und begebt euch dann dahin, wohin ihr bis auf weiteres geführt werdet. Dein Seitengewehr her, Wachtmeister!"

Dieser legte einen Augenblick beide Hände auf die breite Klinge, die ihm zur Seite hing; aber alsbald begann er die Scheide vom Bandeliere loszukoppeln und rief, dieselbe vor sich hin legend, die Front hinunter: "Tut wie ich, Kameraden, und folgt mir!"

"Ha, frecher Bursche", schrie der Hauptmann, seines Grimmes nicht mehr mächtig, "wer gibt dir die Erlaubnis, hier zu befehlen? Macht euch fertig!" wendete er sich an die Garnisönler, "und der erste, der sich rührt, wird augenblicklich niedergeschossen!"

"Laßt diese da außer Spiel, Herr Hauptmann", rief nun auch seinerseits mit drohender Stimme der Wachtmeister, "und glaubt ja nicht, daß wir ihre Blasrohre fürchten, wenn’s drauf ankäme."

Herr v. Amiel hob seinen Degen über den Kopf, als wollte er zu einem Streiche ausholen; aber sei es, daß ihm die Klugheit noch rechtzeitig Besonnenheit zuflüsterte, ober blieb die trotzige Furchtlosigkeit, mit welcher die Blicke des Wachtmeisters der kreisenden Klinge folgten, nicht wirkungslos, die erhobene Hand sank langsam wieder herab und ließ den Degen auf den Hals des Pferdes gleiten. Auch die Garnisönler schienen auf erneuerten Befehl zu warten, bevor sie ihre Musketen aus der bisherigen Lage brachten; sie mochten wissen, daß der Wachtmeister trotz seiner despektierlichen Ausdrucksweise doch nicht neben die Wahrheit gesprochen.

Die Entwaffnung ging nun rasch und schweigend vonstatten, während zwei der Stadtsoldaten die Seitengewehre auf ein Handwägelein zusammenpackten. Auf das Kommando des Lieutenants ordnete sich dann die Kompagnie in Marschordnung und folgte stumm den Waffen, die ihr die Stadt aufwärts vorangeführt wurden.

Der Lieutenant ritt hinter dem von einer neugierigen Menge umdrängten Zuge, pflichteifrig sich links und rechts vorbeugend, um zu erspähen, ob sich nicht irgendwo eine verdächtige Bewegung bemerklich mache; manchmal aber schielte er auch vorsichtig über die Schultern nach dem zurückgebliebenen Hauptmann. Als dieser endlich den Platz, auf dem er, die Abziehenden beobachtend, noch eine Weile gehalten hatte, verlassen, steckte der Lieutenant seine Klinge in die Scheide und trabte an die Spitze hinauf. "Eh, puh", machte er, sich etwas vom Pferde herabbeugend, "tut mir leid, wahrhaftig, Wachtmeister, tut mir leid, ich wollt’ gern ein paar Kronentaler geben, wenn ich nicht so mit Euch durch die Stadt ziehen müßte."

"Ich glaub’s Euch, Herr Lieutenant", erwiderte Christen; "aber wo geht’s denn eigentlich hin?"

"In die Kaserne, Mann, in die Kaserne; dort soll die ganze Kompagnie auf Weisung der hohen Kriegskommission bis auf weiteres eingesperrt werden, und nachher hab’ ich auch die beiden im Turme noch zu euch zu bringen. Ah, schlimme Geschichte, etzätera."

"Nu, das wird auszuhalten sein", meinte der Wachtmeister nachdenklich, "obwohl ich im Dienste noch nie gestraft worden bin. Wenn wir nur erst den Leuten ab Augen wären!"

"Wär’ mir auch lieb, können übrigens da durch das Seitengäßchen; rechts schwenkt!" rief der Lieutenant, und der Zug bog rascher in ein Dunkelgäßchen, das nach kaum hundert Schritten an das Kasernentor führte.

Das Übrige war nun bald getan. Nach weniger als einer Viertelstunde fand sich die Mannschaft in einem dunklen Lokale zusammengedrängt, das selbst in dieser Mittagszeit durch schmale vergitterte Fenster nur ein dürftiges Licht erhielt, während vor der schweren verschlossenen Türe die Tritte einer auf und ab schreitenden Wache widerhallten.

Anfänglich herrschte eine dumpfe Schweigsamkeit in dem Raume. Die einen suchten grollend einen Winkel, in dem sie sich, ihre Habersäcke als Kopfkissen nehmend, hinstrecken konnten, andere standen in kleinen Gruppen zusammen in flüsterndem Gespräche, dessen Sinn mehr durch die häufig sich ballenden Fäuste als durch Worte offenbar wurde; alle aber richteten ihre Blicke mit unruhiger Erwartung auf den Wachtmeister, der, offenbar mit schweren Gedanken beschäftigt, bald hastig auf und nieder ging, bald wieder in sich versunken, an die Mauer gelehnt, stehen blieb. Endlich winkte er die Unteroffiziere zu sich heran, die nach den ersten leisen Worten schon in so heftige Aufregung zu geraten schienen, daß auch die Soldaten sich neugierig heranzudrängen versuchten. "Still, bleibt, wo Ihr seid!" rief ihnen der Wachtmeister mit gedämpfter Stimme zu, "Ihr werdet alles erfahren, aber daß mir keiner einen unvorsichtigen Laut von sich gibt! Wir wissen nicht, welche Ohren hinter diesen Mauern oder vor der Türe horchen könnten!" Die Soldaten gehorchten; nach kurzer Frist verteilten sich die Unteroffiziere wieder durch das Lokal, jeder eine dichtgedrängte Gruppe um sich bildend. Ihre leise geflüsterten Mitteilungen wirkten wie der Gebirgssturm, der die Grundtiefen des Alpensees aufwühlt, noch bevor er auf der Oberfläche eine Welle kräuselt. "Ich bitt’ Euch nochmals", mahnte der Wachtmeister, "seid ruhig, sonst könnte alles verdorben und der beste Wille zu Schanden werden." "Wüßten wir nur, wo er ist", rief eine gedämpfte Stimme, "dann sollt’ uns selbst der Teufel keine Türe fest genug verriegeln." "Ja freilich, wüßten wir das, wär’ ich selbst zu allem bereit", entgegnete der Wachtmeister; "drum nochmals Vorsicht und Geduld! Es gibt schon Leute, die darnach forschen werden – verflucht, daß wir jetzt in diesem Loche hocken müssen – ".

Diese unmutige Verwünschung war kaum zwischen den Zähnen hervorgemurmelt, als die Türe rasselnd sich öffnete und Belper-Fritz und Ruedi hereingeschoben wurden. "Ich dank’ Euch allen", rief der erstere, den Kanonieren beide Hände entgegenstreckend, während große Tränen aus seinen Augen schossen; "der Lieutenant hat uns alles erzählt, ich werd’s keinem vergessen mein Leben lang, glaubt mir’s!" "Tröst dich Gott, und ergib dich nun drein!" sagte der Wachtmeister, die Rechte des Kameraden drückend; "aber was Ihr beide noch nicht wißt, sollt Ihr nun auch gleich erfahren."

Er war mit seiner leisen Mitteilung kaum zu Ende, als Ruedi laut ausrief: "Hörst’s jetzt, Fritz? Er ist’s gewesen bei meiner armen Seele Seligkeit." "Still, still", machte der Wachtmeister, dem Unvorsichtigen die Hand auf den Mund legend; "aber was ist’s, von wem redest du?" "Hört nur", entgegnete Ruedi leiser, während sich die ganze Mannschaft lauschend aufeinander drängte, "vergangene Nacht, es mochte auf Mitternacht gehen, stand ich schlaflos an der Türe unseres Gefängnisses, als ich vor derselben die Treppe herab leise Tritte vernahm und eine Stimme sagte: "Heut’ wird’s das letzte Mal sein." "Der Himmel geb’ es", antwortete eine andere Stimme, und dann hörte ich, wie das Ausgangstor des Turmes sich vorsichtig auftat. Fritz lag still in einem Winkel, und ich meinte, er sei eingeschlafen; ich wollt’ ihn nicht wecken, aber immer mußte ich wieder an die eine Stimme denken; mir war’s, als ob ich dieselbe schon hundertmal gehört habe, und doch konnt’ ich jetzt nicht drauf kommen, wo? Nach langem war ich über dem Sinnen so halb eingeschlafen, als ich hart an der Mauer ein kurzes Schnauben, wie von Rossen, hörte und durch das vergitterte Guckloch an unserer Türe ein kleiner Lichtschein hereinfiel. Ich stellte mich mit dem einen Fuß auf das große Schloß, um durchschauen zu können; aber vor Schrecken ließ ich los und fiel auf den Boden herab. Denn draußen hat neben dem Turmwächter, der leise das Tor wieder verriegelte, niemand anders als unser Hauptmann König gestanden." "Was sagst du", rief der Wachtmeister, nun selbst die Vorsicht vergessend, laut, "hast du nicht falsch gesehen?" "Fritz wollte es mir auch nicht glauben", erwiderte Ruedi aufatmend, "obgleich er noch mit mir doppelte Schritte die Treppe hinangehen und dann eine Türe auf- und zuschließen hörte. Am Ende dacht’ ich selbst, ich könnt’ mich getäuscht haben; aber jetzt will ich meine Seligkeit daran setzen, er ist’s gewesen. Er war nur bleicher als sonst und hatte gerade ein schwarzes Tuch vom Gesichte genommen, das er dem Turmwärter entgegenhielt."

Einen Augenblick herrschte so lautlose Stille, als müsse jeder den Atem in der eigenen Brust belauschen; dann rief eine tiefe Stimme: "Wir wollen doch selbst miteinander im Marterturme nachsehen, bevor es zu spät ist." "Ja, ja, das wollen wir", scholl’s von mehreren Seiten, indem sich der festgedrängte Knäuel in stürmische Bewegung auflöste; "hinaus, hinaus, schlagt die Türe ein!"

"Seid Ihr alle einverstanden?" rief der Wachtmeister, sich erhebend, mit flammendem Gesichte; "wollt Ihr Ehr’ und Leben daran setzen, den Hauptmann zu befreien, der auch unseretwegen unschuldig verurteilt ist?"

"Wir wollen’s – vorwärts zum Marterturm!" dröhnte es wie aus einem Munde durch den Raum, und im Augenblicke stemmten sich so mächtige Schultern an die Türe, daß sie in ihrem Schlosse ächzend erkrachte und nach einem zweiten Rucke aus den Angeln flog.


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