Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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II

Der folgende Tag, es war der letzte des Jahres, lag mit all’ der frischen sonnigen Klarheit über dem Lande, wie sie nur ein wolkenloser Winterhimmel zu spenden vermag. Durch die in Millionen kleiner Funken aufblitzenden Schneeflächen fuhren zahllose Schlitten und Bernerwägelchen dahin, die nach alter Gewohnheit einen großen Teil der Landbevölkerung der Umgegend an diesem Tage nach der Stadt brachten. Zwischen den Fahrenden schritten ganze Scharen rüstiger Männer, die dem gleichen Ziele zustrebten, in gelben, breitschultrigen Kutten und dunklen Pelzkappen. Schon zur Mittagszeit wogte es in den Hauptstraßen und auf den Plätzen der Stadt, als wollte sich ein Völkerzug in Bewegung setzen, und an den gewohnten Stellen, in der Metzgergasse, hinterm Storchen und den Werkhütten an der h. Geistkirche entlang, reihte sich Fuhrwerk an Fuhrwerk, wie man seit Jahren nicht gesehen.

Am Fenster seines Ateliers, das die Aussicht auf den Bärenplatz bot, stand lange der junge Maler Rudolf König, aufmerksam die immer gewaltiger anschwellenden Volkswogen beobachtend; aber unheimlich kam es ihm vor, wie düster und stumm diese Wogen durcheinander fluteten. Es erhob sich wohl ein Getöse wie eine dumpfe, ferne Brandung; aber kein Jauchzer, kein Jodler, kein aus breiter Brust aufspringendes Halliho, wie es sonst an solchen Tagen durch Straßen und Lauben der Stadt erklang. Die Leute drängten sich in dichte Gruppen zusammen und sprachen zueinander mit ernsten Gesichtern als müßten sie sich verbotene Heimlichkeiten oder unerwartete Trauerbotschaften mitteilen.

"Eine Landschaft, über die schon die Schatten nahender Gewitterwolken dahinfliehen, ein Volk, auf dem die Ahnung eines bevorstehenden Todeskampfes liegt", sagte der Jüngling.

Er zog langsam eine Staffelei ins Licht und betrachtete sinnend das aufgespannte Bild, das bereits in lebendigen Farben aus der Leinwand hervortrat, einen Frauenkopf, um dessen helle Stirn sich weiche Haarwellen ergossen, die blauen Augen von langen Wimpern überschattet, als müßten sie ein Geheimnis verschleiern, das aus der tiefsten Seele hervorschimmern wollte, und einen Mund, dessen Lippen halb lächelnd, halb ahnungsvoll zu einer Frage leis geöffnet schienen. "Ja, du bist schön, Adelaide", dachte der Maler, "und der Schimmer der äußern Schönheit ist nur Abglanz und Widerschein der schönen Seele, Duft und Hauch von einem ungesehenen Lichtquell durchströmt, der den erdentstiegenen Dünsten unerreichbar bleiben wird." Er stellte die Staffelei sorgfältig verhüllt wieder zurück und griff nach Mantel und Mütze, um sich zum Ausgehen anzuschicken.

Er war damit noch nicht zu Ende, als an die Türe geklopft wurde und mit raschen Schritten der junge Junker von Dießbach hereintrat. Des Malers scharfes Auge hatte auf dem sonst stets lachenden Gesichte sogleich einen Zug des Mißvergnügens bemerkt und er rief daher dem noch an der Türe Stehenden entgegen: "Ihr bringt schlechte Botschaft, Junker, obgleich ich recht behalte."

"Fatal genug, daß Ihr immer recht haben sollt", erwiderte der andere, das Gehänge seines Stoßdegens etwas lüftend, aber so ganz hoffe ich diesmal noch nicht aus dem Felde geschlagen zu sein."

"Hören wir", rief der Hauptmann; "Herr v. Amiel wird also die angebotene Satisfaktion annehmen?"

"Ja und nein", erwiderte der Junker zögernd; abgelehnt hat er sie nicht; aber verschieben muß er sie auf einige Tage, dringender Geschäfte wegen."

"Und die wären wohl, ohne Unbescheidenheit gefragt?"

"Er erwartet wichtige Botschaften vom Grafen v. Artois, die sogleich besorgt und beantwortet werden müssen."

Diese Worte riefen auf dem Gesichte des Malers ein verächtliches Zucken hervor, das er mit einer entsprechenden Handbewegung begleitete und dann hochaufgerichtet, aber ruhig dem Junker näher trat. "Ihr könnt mir ganz unbesorgt auch noch die weitern Abhaltungsgründe des Herrn v. Amiel mitteilen", sagte er, "einer ist für mich so viel wert als der andere, da ich meine eigenen Gedanken nicht an wohlfeile Ausflüchte verkaufe."

"Parbleu, was ist’s für ein bedenkliches Ding um die Herz und Nieren prüfenden Propheten und Menschenergründer", rief Herr v. Dießbach, indem er seine Verlegenheit hinter einem Lächeln zu verbergen suchte, "was sollte ich denn noch weiter mitzuteilen haben?"

"Ich dächte", erwiderte Herr Rudolf, "das altadeliche Vollblut hat noch erklärt, es könne sich von einem Menschen, in dessen Adern nicht einmal rein bernburgerliches Blut fließe, nicht beschimpfen lassen und habe deshalb auch keine Satisfaktion nötig."

Der Junker blickte besorgt nach dem Maler, der purpurn errötete, dann aber sich abwendete und ruhig die Stube auf und nieder schritt. "Hört, Herr v. Dießbach", sagte er nach einer Weile, "ich bin nie ein Raufbold gewesen und denke über manche Ehrenhändel in der Tat sehr bürgerlich, aber, offen gestanden, diesmal trüge ich gerne einen Alten Namen, der mir Gelegenheit verschaffte, diesen Schurken aus der Welt zu spedieren. Einen bessern Dienst wüßte ich dem Vaterlande nicht zu leisten."

Das Gesicht des Junkers nahm einen ernstern Ausdruck an, als es sonst seine Gewohnheit war. "Herr Hauptmann", sagte er, "Ihr bezeichnet den Herrn v. Amiel da wieder mit einer Benennung, die ich in Gesellschaft nicht ruhig hinnehmen könnte, schon aus dem einfachen Grunde, weil der Mann oft genug in meines Vaters Hause ein wohlgelittener Gast ist. Ihr mißdeutet es mir daher nicht, wenn ich um nähere Auskunft bitte."

"Ihr habt ein Recht dazu", erwiderte der Maler nach einigem Besinnen, "und Euch kann ich anvertrauen, was ich anderswo, wenigstens einstweilen, ebenfalls noch zurückhalten muß. So hört denn. Herr v. Amiel hat Frankreich nicht verlassen, wie tausend andere, wegen seiner ehrlichen, offen bekannten royalistischen Gesinnung; im Gegenteil gerierte er sich als eifriger Republikaner, teilte aber die unter dieser Maske gemachten Entdeckungen und Pläne seiner angeblichen Partei den Gegnern mit, und eben dieses unehrlichen Spieles wegen mußte er die Flucht ergreifen. Das wußte ich schon vor drei bis vier Jahren, ohne daran zu denken, mit dem Manne hier in Bern wieder zusammentreffen zu müssen. Was sagt Ihr dazu?"

"Ich?" antwortete der Junker zögernd, "jedenfalls betrachte ich die Sache von einer andern Seite als Ihr. Über die Ehrlichkeit einer solchen Handlungsweise streite ich nicht; aber einem schurkischen, alles Recht mit Füßen tretenden Pöbel gegenüber ist manche Waffe erlaubt, die man sonst nicht zu führen pflegt, und gewiß ist’s, daß Herr v. Amiel unserer Partei schon wichtige Dienste geleistet hat und noch leisten wird."

"Mag sein", erwiderte der Maler ernst, "obwohl ich in gegenwärtiger Lage nur das Vaterland und keine Parteien kenne; aber was meint Ihr dazu?" Mit diesen Worten überreichte er dem Junker ein sorgfältig zusammengefaltetes Blatt, das er aus der Brusttasche seines Rockes gezogen; doch kaum hatte Herr v. Dießbach einen Blick auf die Unterschrift desselben geworfen, als er mit einem lauten Ausruf der Überraschung und des Schreckens gegen die Wand zurückfuhr. "Cäsar Laharpe-Laharpe!" rief er; "so ist’s also wahr, Herr Hauptmann, daß Ihr mit diesem elenden, schurkischen Vaterlandsverräter in Verbindung steht?"

"Wie Ihr seht, Junker", erwiderte Rudolf ruhig, "ist der Brief an mich gerichtet, von meinem vieljährigen Freunde Laharpe; aber so lest doch, was er schreibt!"

Der Junker überflog die Zeilen und begann dann hastig die Stube auf und ab zu gehen. Endlich blieb er vor dem Maler stehen, mit einem Ausdrucke aufrichtiger Bekümmernis seine Rechte erfassend. "Hört, Rudolf, dem Worte eines Verräters werde ich ohne weitere Beweise nie Glauben beimessen; es ist ja gerade sein Gewerbe, Argwohn und Zwietracht in unsere Reihen zu säen; und ja – Ihr würdet mit dieser Anklage gegen Herrn v. Amiel hier nirgends Glauben finden und Euch nur selbst ins Verderben stürzen. Auch mir, ich gestehe es, wird’s schwer, mich in Euch so getäuscht zu haben."

"Mögt Ihr Euch nicht in andern schwerer täuschen", erwiderte der Maler lächelnd, indem er das Papier wieder auf seiner Brust verwahrte.

"Nein, Rudolf", fuhr der andere fort, "sprecht nicht so, jetzt nicht, und laßt mich eine Pflicht der Vergeltung üben, indem ich Euch eine ehrlich gemeinte Warnung zurufe. Erinnert Ihr Euch noch an den 10. August des Jahres 1792? Ich lag blutend auf dem Pflaster vor dem Tuilerienhof, und der wütende Pöbel schickte sich an, mich in Stücke zu zerreißen – ich werde das schreckliche Geheul noch in der Sterbensstunde in meinen Ohren wiederklingen hören. Da, als ich den letzten Streich erwartete, habt Ihr Euch auf mich geworfen und Euer Leben für das meinige in die Schanze geschlagen."

"Lassen wir das", sagte der Maler mit einer abwehrenden Bewegung; "ich habe nur getan, was Ihr mir ebenfalls getan haben würdet."

"Nein, das hätt’ ich nicht", erwiderte der Junker bewegt, "ich war Soldat und würde Euch wenige Minuten vorher noch ganz ohne Bedenken niedergehauen haben; aber drum vergess’ ich’s doch nicht. Als ich wieder zur Besinnung kam, lag ich in Eurer Stube auf dem Bette. Wißt Ihr, was Ihr mir damals sagtet?"

"Nein, Junker, das weiß ich nicht mehr; aber was wollt Ihr nur damit?"

"Ihr sagtet, als ich die Augen wieder aufschlug: So, Landsmann, jetzt lösen wir uns ab – dann sankt Ihr bewußtlos am Bette zusammen. Ist’s so?"

"Nun ja, zum Kuckuck", rief der Hauptmann, "aber drum nicht minder eine alte, abgetane Geschichte!"

"Glücklicherweise, mein Verehrtester, ist sie das", redete der Junker weiter; "habe auch durchaus kein Verlangen, daß sie so bald wiederkehre, ich bekam an dem einen Male ziemlich genug. Aber gleichwohl hört mich zu Ende, Rudolf; Ihr habt mehr und gefährlichere Feinde, als Eure ehrliche Sorglosigkeit Euch ahnen läßt, und gestern abend, glaubt Ihr nicht, daß Ihr Euch in Holligen neue gemacht habt?"

Dieser Name ging wie ein erwärmender und aufleuchtender Sonnenblick über den Maler, und der Junker, dem dieser Eindruck nicht entgangen, mußte sich rasch abwenden, um eine stark ansetzende Lachlust zu verbergen; doch damit war auch die ganze leichtsinnige Sorglosigkeit seines gewöhnlichen Wesens zurückgekehrt, und ohne eine Antwort auf seine Frage abzuwarten, rief er mit komischem Pathos: "Aber jetzt, Verehrtester, hab’ ich zu Eurem Leibes- und Seelenwohl in wenigen Minuten mehr Ernst verbraucht, als mir sonst in vielen Jahren passiert; dafür gebt mir den Arm zu einem kleinen Rekognoszierungsgange. Der Silvester hat uns einen so hübschen Flor frischer Landrosen in die Stadt beschert, daß es eine Todsünde wäre, sich nicht ein Sträußchen auszusuchen."

Obwohl von der Stimmung und den Absichten seines Gefährten wenig angelockt, mochte Rudolf seine Einladung doch nicht ablehnen; aber vor die Türe getreten, hatten die beiden jungen Männer Mühe, sich in der stauenden Menge vorwärts zu bewegen. "Ach du lieber Himmel", klagte der Junker, den rechten Arm in den linken seines Begleiters schiebend, "wie wird das werden, ist dieses Volk erst einmal souverän geworden, wie ihr Herren Staatsweisen sagt; wahrhaftig, müssen unsere edelgebornen Rippen jetzt schon solche Püffe aushalten, so wär’s besser, wir würden einbalsamiert, bevor der große Tag des Heils anbricht. Ah – schon wieder ein Guggisberger, aber seht dort das kleine Posaunenengelchen mit dem gelben Haare und dem braunen Spitzenhäubchen drauf? Das muß ich mir doch einmal näher besehen, Kamerad." Er zog hastig von der Laube auf die Straße hinaus; aber Rudolf war innerlich hoch erfreut, als ihnen gerade einige junge Bursche entgegentraten, die ehrerbietig und zutraulich zugleich "ein glückseliges Neujahr, Herr Hauptmann" boten. "Au revoir", flüsterte der Junker seinem stehenbleibenden Gefährten zu, "macht’s mit den Vierschrötern da aus, ich kann nicht warten", und steuerte dem Käfigturm zu, neben dem das braune Spitzenhäubchen durch das Gedränge hinabschwamm.

Der Hauptmann reichte den jungen Männern der Reihe nach die Hand, jeden Einzelnen mit Namen begrüßend. "Ei, wie freut mich das", sagte er, "fast meine halbe Kompagnie beisammen zu finden; voran, wie gewöhnlich der Schloßmüller von Holligen, unser wackerer Wachtmeister."

"Wir haben uns aber auch schon lange zusammengetan, einer nach dem andern", entgegnete der junge Mann, "und überall ausgeguckt, ob wir Euch nirgends sehen, Herr Hauptmann."

"Um so besser", sagte dieser freundlich; "jetzt suchen wir nun gleich einen ruhigen Winkel, wo wir zusammen einen Schoppen trinken können. Wo wollt ihr am liebsten hin?"

Die Männer nickten sich mit verstohlenem Zwinkern zu, und man sah den Gesichtern deutlich an, wie wohl ihnen dieser Vorschlag tat; aber mit besonnener Bescheidenheit antwortete der Schloßmüller: "Nein, Herr Hauptmann, so haben wir’s nicht gemeint. Ihr seid da mit dem Junker v. Dießbach gekommen, und wir warten gerne bis zum Abend, wenn Ihr uns dann auf ein Viertelstündchen die Ehre gönnen könnt."

"Nur zu", rief Herr Rudolf; "den Junker seh’ ich ein ander Mal wieder. Wohinaus, Zugführer der ersten Piece?" "Zum goldenen Rind", sagte ein großgewachsener Bursche, an den die letzten Worte gerichtet waren, indem er die rechte Hand wie zum militärischen Gruße an die Mütze legte; "dort sind auch noch ein paar Kameraden, Herr Hauptmann."

"Vorwärts!"

Im Augenblick war der Hauptmann von den kräftigen breitschultrigen Männern umschlossen, und vorwärts ging es im Schritte, wie auf Trommelschlag, die Spitalgasse hinauf. Das Gemenge wich vor der festgeschlossenen Schar auseinander und verwundert schaute alt und jung dem Zuge nach, der schweigend dahinschritt, vom sicheren Bewußtsein gehoben, daß die Zuschauer von der Artilleriekompagnie König nur Rühmliches zu sagen wüßten. Am Christoffeltor wurde links abgeschwenkt, der alten Stadtmauer entlang, die nach dem Marterturme hinzog. Nah an demselben öffnete sich in der Mauer selbst eine niedrige Türe, durch welche die Männer in eine große, mit langen Tischen durchzogene Weinstube traten.

Unter ernsten und lebhaften Gesprächen von den Dingen, die im Augenblicke alle Gemüter erfüllten, vergingen die Stunden fast unvermerkt, und die Nacht war längst eingebrochen, als der Hauptmann von seinen schlichten Kameraden wieder Abschied nahm. Draußen war’s für einen solchen Festabend fast unheimlich still geworden, und es wollte Rudolf wieder ein Gefühl wehmütiger Besorgnis überkommen, als er daran dachte, wie in früheren Jahren die Stadt zu dieser Stunde von frohem Maskenlärm und Trommelschlag ertönt hatte. "Und doch", suchte er sich, langsam durch die Lauben niedergehend, selbst zu beschwichtigen, "und doch ist noch nichts verloren; denn welch ein Herz schlägt in der Brust dieses Volkes! Welch eine Zukunft würde über dem Lande aufgehen, wenn dieser Glaube, dieser Mut, diese Kraft und Treue, gewürdigt, sich entfalten könnten!"

Seine Kompagnieangehörigen waren zum Teil stundenweit hergekommen, um sein Wort zu vernehmen und die Zweifel beschwichtigen zu lassen, die sich in ihre Gemüter geschlichen hatten. Unbefangen erzählten sie, welche Hoffnungen durch das Land laut würden, wie die Franzosen nur kämen, um die gnädigen Herren von Bern des Regiments zu entsetzen, um jedem, gleichviel ob Bauer oder Städter, sein gleiches, dem freien Bürger zukommendes Recht zu verschaffen, und daß man daher Gut und Blut für bessere Dinge sparen könne, als sie gegen einen solchen Gegner einzusetzen. Aber wie schnell waren diese Zweifel zerronnen, als ihnen der Hauptmann sagte, die erste Pflicht des Schweizermannes sei, den Boden des Vaterlandes vor jedem fremden Feinde zu bewahren, wie die Alten getan; wie hatten die Gesichter geleuchtet und die strammen Gestalten sich aufgerichtet, als er rief, im Kampfe für die Heimat, für Haus und Herd müsse sich die erste Batterie auch die Ehre des ersten und letzten Schusses wahren, solange sich noch eine Hand an den glänzenden, lauttönenden Pfeifen zu rühren vermöge! Aber freilich in beifälligem Schweigen hatten die Männer auch gelauscht, als er sagte, ja dann, wenn die erste Pflicht getan, dann sei’s an der Zeit, ruhig bei den Kanonen und Gewehr bei Fuß stehen zu bleiben und zu den gnädigen Herren zu sprechen: wir haben nicht für Euer Regiment, wir haben für das ganze Land gefochten, drum verlangen wir auch den Sold, der dem Lande und uns gebührt, für alle gleiches Recht mit gleichen Pflichten, dann erst ist der Krieg zu Ende!

In diesem Sinnen und Erinnern verloren, war Herr Rudolf unvermerkt bis an das Münster gelangt, als sich droben die Glocke schwang, um die neunte Stunde herabzurufen. Von den entfernten Straßen tönte noch verschallendes Geräusch herüber, aber rings um den gewaltigen Bau lag lautlose Stille. Da und dort fiel ein hellerer Lichtstreifen über die Dachung des Schiffes herab, und dann war’s, als ob die Türmchen sich hin und her bewegten und sich flüsternd einander zuneigten; der schwebende, verwehende Lichtstreifen glitt tiefer herab, und auch an den schwarzen Strebepfeilern fing es an, sich zu bewegen, zuerst undeutlich und schattenhaft, dann stetiger und deutlicher, bis es sich langsam über die Straße heranbewegte und an einem nahen Laubenpfeiler verschwunden war. Rudolf legte die Hand über die Augen, die ermüdet sich selbst diese Traumspiele vorgegaukelt haben mochten; aber kaum zwei Schritte von ihm begann ein Flüstern, und eine vor Kälte zitternde Mädchenstimme sagte: "Ihr habt mich lange warten lassen, Junker, und doch, ach Gott, ich konnt’ es nicht mehr länger ertragen."

"Ich hatt’ es auch nicht vergessen, ich wurde nur aufgehalten", gab fast ebenso leise eine Männerstimme zurück; "wie geht es dir, Kind, und womit kann ich helfen?"

"Ach helfen, Albert, ich weiß es selbst nicht; ich wollte nur dich sehen und deine Stimme hören – vielleicht wird’s dann wieder besser werden. Ich war heute den ganzen Tag so allein in meinem Stübchen, und wie ich da so viele Leute auf der Straße gehen sah, die ich kannte, aber nicht rufen und grüßen durfte, war’s mir, als wär’ ich verloren und ausgestoßen von allen Menschen und müßte einsam bleiben mein Leben lang. Und wenn es dann wieder so unruhig wurde in mir und sich’s regte, meint’ ich, das Herz müßt’ mir brechen."

"Du bist ein Närrchen", lautete die Antwort; "es wird ja bald vorüber sein. Du wirst doch beim roten Jakob gewesen sein?"

"Nein", flüsterte es fast unhörbar.

"Nun, das ist aber auch gar nicht recht. Ich hab’ ihm das Geld schon längst gegeben, er nennt sich, und das Kind wird dir sogleich von der Landsaßenkorporation abgenommen. Alles ist im reinen, aber hingehen mußt du zu ihm."

Auf diese Worte erhob sich ein leises Weinen, das lange mit mühsam unterdrücktem Schluchzen kämpfte, ohne auf die beruhigenden Versicherungen zu hören, die ihm zugeflüstert wurden, dann endlich sprach es lauter und angstvoll: "Redet mir nicht mehr von dem Judenbuben, dem verruchten Menschenhändler; wenn noch ein Funke von Liebe in Euch lebt, Junker, so habt Mitleiden mit mir. Ich schwör’ es Euch, eher stürz’ ich mich mit dem Ungeborenen in die Aare, eher erstick’ ich das Geborene unter meinem Kopfkissen, als daß ich es in die Hände dieses Scheusals lege."

"Aber so höre doch nur auch: er selbst hat ja mit dem Kinde weiter gar nichts zu schaffen. Er bekennt sich vor dem Chorgericht einfach als Vater desselben und verlangt seine Aufnahme in die Landsaßenkorporation. Dann bist du aller Sorgen ledig, das Kleine wird dir abgenommen, und du brauchst ihm nicht einmal deinen Namen zu geben."

"Nicht einmal meinen Namen?"

"Nein, das Gesetz verlangt es nicht, und tausend andere in deinem Falle tun’s auch nicht –   – "

Der Maler, der, obwohl ein unfreiwilliger Zuhörer dieser Unterredung, dieselbe nicht zu stören gewagt hatte, konnte die Antwort nicht mehr vernehmen. Um die Ecke von der Junkerngasse her bog die Laterne eines Nachwächters, und die beiden Gestalten huschten eilig, aber leise nach dem Seitengäßchen.

Auch Rudolf verließ nun seinen dunklen Standort, aber trüber und beklommener, als er ihn eingenommen. Die stolzen Bilder, die er sich auf dem Herwege von des Vaterlandes Lage und Rettung gemacht, waren zerronnen, und in seinem Innern hastete es nach frischer Luft, als könne diese den dumpfen Druck von seiner Seele nehmen. Eilig, wie von eigener, schlimmer Tat gejagt, lief er die Straßen aufwärts, über die noch da und dort der Lärm einer Weinstube erklang, bis das obere Tor durchschritten war.

Da draußen war es stille, und die Gedanken konnten in dem Dämmerscheine, den der Sternenhimmel auf die weiße Erde niedergoß, ungestört ihre leisen Pfade suchen; aber statt der Ruhe, die sonst die stillen Himmelsaugen dem Menschen zuleuchten, waren es Unwille und Zorn, die diesmal den einsamen Nachtwandler bewegten, und in seinem Herzen wollte es sich wie bittere Verwünschung und Fluch erheben. Hatte er doch die Männerstimme drunten am Münster nur zu wohl erkannt und spürte jetzt, daß ein Erröten über seine Stirne lief, als er sich ihre Worte wiederholen mußte. "Aber wer trägt die größere Schuld", sagte er laut vor sich hin; "er, der mit einem guten, milden Herzen geboren wurde, oder das fluchwürdige Gesetz, das dieses Herz in Stein verwandelt und ihm die heiligsten Menschengefühle um schnöde Silberlinge abschachert? O, der nahende Tag des Gerichts wird ein blutiges Sündenregister dieser Väter des Vaterlandes entrollen!"

Durch den heftigen Ton der letzten Worte selbst wurde der Sprechende erinnert, daß er mit sich und der stummen Nacht allein sei; aber als er mit der eigentümlichen Empfindung von Verlegenheit, die den besonnenen Menschen manchmal über dem ertappten Lautdenken beschleicht, um sich schaute, erblickte er eine große Gestalt, die auf der anderen Seite der Straße hinter den Alleebäumen dahinschritt, und ein fröstelndes Grauen ging durch die Seele des jungen Mannes, da er unwillkürlich in sich selbst hineinflüstern mußte: "Das ist der rote Jakob, der Judenbub." Die angstvolle Klage des verlorenen Mädchens, die er vor wenigen Minuten gehört, lag noch zu schmerzlich in seinem Ohre, als daß dieser leisgesprochene Name nicht eine lange Reihe unheimlicher Erinnerungen geweckt hätte. Ob geheimnisvoll vergossenes Blut an diesen Händen haftete? Die Toten sind stumm, wenn nicht der Mund des strafenden Gesetzes für sie spricht; aber gewiß war’s, daß schon manches brechende Mutterherz seine letzte Kraft zusammengerafft, um noch einen Fluch auf diesen Mann zu schleudern, der sich, aller Scham und Ehre bar, selbst als Helfer und Hehler jeden schlimmen Tuns bekannte.

Der Maler blieb eine Weile stehen, bis die im gefrorenen Schnee knisternden Schritte vorübergegangen und die Gestalt in der Dunkelheit verschwunden war. Die Gedanken und Vorstellungen, die sie hervorgerufen, durften ihren Schatten nicht über das Bild werfen, an dessen reinem Glanze er seine Seele erquicken, an dessen Milde er sein verbittertes Gemüt wieder zu versöhnen gedachte.

Jetzt war das Geräusch verhallt, und wenige Schritte führten zu der kleinen Anhöhe hinan, hinter der Schloß Holligen wie der sichere Freihafen seiner sturmverschlagenen Gedanken verborgen lag. Die Lichter in demselben waren wohl längst ausgelöscht, und der Jüngling lehnte sich an die Straßenhecke, um nach dem Heiligtum seiner Träume hinabzuschauen; aber kaum hatte er den Mantel fester angezogen, als er von hinten mit eiserner Kraft umklammert und sein Ruf in einer starren, schwarzen Umhüllung, die Mund und Augen verschloß, erstickt wurde.


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