Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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III

Als die mitternächtigen Glocken dem alten Jahre ins Ende geläutet, begann das neue alsbald seine Herrschaft im Reiche der Lüfte vorzubereiten und merkbar zu machen. Der klare Sternenhimmel erlosch in leichten, aber rasch aufziehenden Wolkenschleiern, die sich gegen das Hochgebirge hin zu einem rötlichen Dunstkreise zusammenzogen. Wer in so später Stunde noch ausschaute, mochte bedenklich zu sich sagen: das neue Jahr will seinen Einzug unter Stürmen halten, der Föhn ist Meister geworden.

Und wirklich erwachte der Neujahrsmorgen unter einem Sturme, wie er schon manchen Winter nicht so unheimlich von den Bergen zu Tal gefahren war. Die kahlen Linden um Schloß Holligen schwirrten und krachten unter den schweren Windstößen, und dazwischen prallte so heftiges Regen- und Schneegestöber gegen Fenster und Mauern heran, daß Adelaide endlich nach langem Säumen und Zögern den Befehl erteilen mußte, sie werde bei diesem Unwetter nicht zur Kirche fahren. Dieser Entschluß war ihr schwer geworden, und eine unheimliche Beklemmung wollte sie den ganzen Morgen nicht zur Ruhe kommen lassen. Sie ergriff ein reich in Samt und Silber gefaßtes Buch, um ihr Gemüt einsam zu Dem zu erheben, der Sonnenschein und Sturm beherrscht; aber sie hätte diesmal so gerne in Gemeinschaft anderer, im Vereine mit der ganzen Gemeinde, von dem für alle lebendig gesprochenen Gottesworte geweckt, ihre Andacht begangen, daß ihre Blicke unstät über die aufgeschlagenen Blätter eilten und ihre Gedanken keine Stütze fanden, sich daran über Zeit und Raum wegzuheben.

Adelaide schloß das Buch, aus dem ihr weder Beruhigung noch Erbauung quellen wollte, und begann langsam die Neujahrsgeschenke zu mustern, welche ihr die väterliche Liebe in ungewöhnlich reichem Maße beschert hatte; aber auch diese Beschäftigung vermochte keine lange Zerstreuung zu gewähren, und das Fräulein fing an, nachdenklich auf und nieder zu gehen, bis es endlich die von innerer Unruhe heißer werdende Stirne gegen die kalten Fensterscheiben lehnte.

Draußen hauste das Unwetter fort und schien ringsum alles Menschenleben unter das schützende Dach zu bannen; um so größer war Adelaidens Verwunderung, als sie von der Freiburgstraße durch das Gestöber einen Reiter in den Schloßweg einlenken sah, der so langsam herankam, als ob ein milder Frühlingstag über dem Lande läge und der ruhige Schritt des Pferdes mit dem behaglichen Einatmen der würzigen Lüfte im Einklange stehen müsse. "Ach, der Oberst Stettler", lächelte das Fräulein vor sich hin, als der Reiter mit gemessener Paradewendung in die Allee einbog, "der alte Wettermann, der kaum begreift, wie andere Menschen zwischen Regen und Sonnenschein einen Unterschied machen können." Sie war innerlich erfreut über diesen unerwarteten Besuch, der wenigstens einen Wechsel in die unheimlich stillen Stunden zu bringen versprach, und konnte sich das Vergnügen nicht versagen, dem Reiter noch länger zuzusehen und sich daran zu ergötzen, daß er alles genau Zug um Zug vollbrachte, wie sie sich’s nach seiner Gewohnheit vorgestellt hatte. Trotz der ungestümen Witterung trug er weder Mantel noch Überrock, und die lange Gestalt, mit dem magern, markigen Gesichte schien durch das graue, eng anliegende Kleid noch größer, als sie in Wirklichkeit sein mochte. In den Schloßhof eingeritten, befestigte er zuerst den großen Rohrstock, der ihm zu Pferde stets in einer Lederschlaufe vom rechten Arme hing, gemächlich am Sattelknopfe und schickte sich an, so taktmäßig abzusteigen, als müßte er nach jeder Bewegung auf das Kommando zur nächsten warten oder sich dieses Kommando in aller Form selbst erteilen. Ohne auf den aus dem Schlosse herbeigeeilten Reitknecht zu achten, der in dem eben mit neuer Gewalt nieder stürzenden Gestöber den Kopf zwischen beide Schultern einduckte, lüftete er eigenhändig den Sattelgurt, zog die Bügel zu beiden Seiten etwas in die Höhe und löste die Kettchen an dem silbernen Stangengebisse; dann gab er dem stark gebauten Pferde einen leichten Schlag auf den Bug und schaute ihm vergnügt nach, wie es, von dem Knechte gefolgt, den Weg nach dem Stalle suchte. Erst jetzt erhob der Oberst das Gesicht nach den Fenstern und grüßte, als er das Fräulein gewahrte, mit einer militärischen Handbewegung.

Trotz seiner oft genug ans Komische streifenden Gewohnheiten war der Ankömmling im Schloß Holligen stets ein gern gesehener Gast, wobei nachsichtig auch die Eigenheit mit in Kauf genommen wurde, daß er nie erschien, wenn er die Anwesenheit anderer Gäste vermuten konnte; wußte man daneben doch, daß er schon in manchem Kugelregen ebenso ruhig und gemessen vom Pferde gestiegen wie draußen im Schloßhofe, und war man doch sicher, daß sein äußeres Auftreten stets nur den getreuen Spiegel einer Soldatenseele bildete, der über ihrem Mute und ihrer Geradheit manche schiefe Meinung und Sonderbarkeit zugute gehalten werden konnte.

Obwohl in ihrer Anschauungsweise sonst von jeher einig, hatten sich die beiden alten Herren in der letzten Zeit doch öfter lebhaft gestritten über die Lage des Vaterlandes und die Mittel, die aus der gemeinsamen Gefahr Rettung bringen möchten. So geschah es auch heute wieder. Nachdem der Oberst schon während des Mittagessens das ganze konfuse Regiment ins Pfefferland gewünscht und von dem Oberkommandanten in der Waadt gesagt hatte, es sei an ihm ein halbbatziger Schulmeister verloren gegangen, der sich mit löschpapierenen Proklamationen statt mit blankem Eisen gegen den Feind rüste, schloß er brummend: "Aber so seid Ihr alle, alle ohne Ausnahme, lauter federfuchsige Planmacher; Ihr salzt uns den Krieg auf den Hals und vergeßt darüber den geringfügigen Umstand, daß Ihr keine Soldaten habt."

"Immer Eure alte Marotte, Oberst", sagte der Herr von Holligen; "also eine Hilfsarmee Kaiserlicher oder Reichstruppen, deren Zeche wir bezahlen sollten!"

"Kaiserliche oder Russen, Mongolen oder meinetwegen Chinesen, wenn es nur Soldaten sind, die eine Schule durchgemacht haben; das ist das ABC vom Kriege, sag’ ich. Oder wißt Ihr Besseres?"

"Ehrenhafteres gewiß und hoffentlich auch Besseres", erwiderte der Herr von Holligen ernst, "einmal haben wir eine schöne Anzahl von Soldaten, denen Ihr selbst die Schule nicht absprechen werdet, und dann haben wir in zweiter Linie ein – Volk!... Ja ein Volk", fuhr der Sprecher eifriger fort, als er das höhnische Lächeln bemerkte, das dieses Wort auf dem Gesichte des Obersten hervorgerufen, "und zudem ein Volk, das in Waffen kein Neuling ist und bei richtiger Behandlung bald zur furchtbaren Armee werden wird. Lassen wir, wenn es sein muß, das flache Gelände dem Feinde, bergen wir Hab’ und Gut, Weib und Kind im Gebirge und kämpfen wir dort von den Wällen herab, die uns Gott selbst aufgetürmt!"

"Und dann?"

"Und dann, wenn der Feind in den von allem entblößten menschenleeren Tälern am Unentbehrlichsten Mangel leidet, wenn sich unsere Kraft am Kampfe gestählt und die Flamme der Begeisterung in allen Herzen angefacht ist, dann brechen wir wie eine Lawine zu Tal, um die eingedrungenen Banden von unserem Boden wegzutilgen."

Der Oberst ließ zwischen seinen schmalen Lippen ein langgezogenes Rauchwölklein hervorgleiten, dem er sinnend nachschaute, bis es in der Luft verschwommen war. "Ja, ja", sagte er nachdenklich, "man merkt, daß Ihr von den jungen Jakobinern in Eurer Gesellschaft bereits etwas gelernt habt. Von allen Unmöglichkeiten Euerer Volksarmee nicht zu sprechen, würde sie im Falle eines Sieges uns selbst nicht samt und sonders auffressen?... Gilt Frankreichs Beispiel nichts für uns?"

"Bleibt mir damit vom Leibe", entgegnete der Herr von Holligen, "unser Landvolk, treu wie Gold, weiß nichts von politischen Faseleien und wird selbst die wenigen Schreier und Ellsteckenreiter in den Waadtländer und Aargauer Städtchen zu Paaren treiben."

"Hab’ auf dem Heimwege selbst ein Pröbchen erfahren", brummte der Oberst; "droben auf der Straße bei den Linden begegnete mir in einem Schlitten vom Umfange eines kaiserlichen Proviantwagens ein Bümplizer, der Schurke nennt sich Ädemajor Wacker, wenn ich mich recht entsinne; wer aber keine Miene machte mir auszuweichen, war der goldtreue Bauer, und wir würden vermutlich jetzt noch einander gegenüber halten, wenn ich ihm nicht mit dem Stocke gehörig abgewinkt hätte. Meiner Treu, ein ehrliches, anspruchsloses Volk!"

Noch bevor der Herr von Holligen eine Antwort geben konnte, trat Adelaide, die vor einigen Augenblicken herausgerufen worden, wieder herein, gefolgt von dem jungen Schloßmüller. Dieser blieb bescheiden an der Türe stehen, während das Fräulein bewegt sagte: "Der Mann da möchte gerne ein Geschäft abtun, zu dem der Verwalter der Ordnung wegen nicht Hand bieten will. Ihr werdet’s nicht so genau nehmen, Vater; drum hab’ ich ihn heraufgebracht."

"Was soll das sein?" fragte der Oberst, über die unerwartete Störung halb verwundert, halb ärgerlich: "was soll ich für den Verwalter heute Geschäfte besorgen?"

"Bringt es nur selbst vor, Nachbar", wendet sich Adelaide freundlich an den Müller; "Ihr könnt’s besser als ich."

"Ich wollte gerne den Pachtzins entrichten", sagte der Müller, einen Schritt vortretend; "aber..."

"Was aber..." fiel der Herr von Holligen ungeduldig ein; "der ist ja erst auf Lichtmeß fällig; warum kommst du denn jetzt schon und gerade heute, wenn du Stündigung nachsuchen willst?"

"Es ist nicht das, gnädiger Herr", erwiderte der junge Mann, "ich habe das Geld bei mir und möcht’ es eben gerne gleich abgeben."

"So lange vor dem Ziele?" fragte der alte Herr verwundert; "nun wahrhaftig, da seh’ ich nicht ein, warum die Sache solche Eile haben sollte."

"Ich kann’s Euch schon sagen, Herr Oberst", antwortete der Müller; "der Postläufer brachte mir diesen Mittag den Befehl, mich in Marschbereitschaft zu setzen, unsere Kompagnie könne jeden Augenblick das Aufgebot erhalten. Und da möcht’ ich gerne mein Hauswesen vorher in Ordnung stellen für alle Fälle, die einem im Felde begegnen könnten."

Der Schloßherr schaute erstaunt auf seinen Lehenmann, der in unbefangener Bescheidenheit dastand, und wendete sich dann mit einem triumphierenden Lächeln seinem Gaste zu. Dieser hatte seine kurze Meerschaumpfeife auf den Tisch gelegt, stets ein sicheres Zeichen, daß etwas Unerwartetes seinen gewöhnlichen Gedankengang durchkreuzte. "Ja nun, ja, ja, geb’s zu, daß so was in keinem Dienstreglemente vorgeschrieben ist", brummte er.

"Könnte mich auch nicht erinnern", lächelte der Herr von Holligen, "und würde übrigens auch nicht von großem Nutzen sein; aber Ihr, Nachbar", fuhr er mit einer Art respektvoller Freundlichkeit gegen den Müller fort, "wie steht’s denn so eigentlich, zieht Ihr gerne gegen die Franzosen?

"Darum handelt es sich wohl nicht", erwiderte der junge Mann; "im Kriege bin ich eben noch nie gewesen und muß erst erfahren, wie’s da zugeht; aber wohin uns unser Hauptmann führt, da gehen ich und meine Kameraden mit und ging’s, mit Respekt, gegen den Teufel."

"Brav gesprochen", sagte der Schloßherr warm, während der Oberst mit einem dreimaligen, wie im Tempo abgegebenen Kopfnicken seine Zufriedenheit bezeugte, "wo seid Ihr denn eingeteilt?"

"Erste Zwölfpfünder-Batterie-Hauptmann König."

"Ah, Hauptmann König – Maler König", sagte der Herr von Holligen, mit der Hand über das Gesicht fahrend; "aber hättet Ihr, wenn’s einmal ernst gilt, nicht besseres Zutrauen zu einem andern Chef, zu einem eigentlichen Soldaten – ich meine zu einem Hauptmann, der sein Handwerk von Jugend auf in fremden Diensten gründlich erlernt hat?"

"Mit Verlaub, gnädiger Herr", erwiderte der Müller ruhig, "ich glaube, es gibt keinen, der’s besser versteht, und wenn uns dieser Hauptmann fehlen würde, liefe wohl gleich die ganze Kompagnie auseinander."

Adelaide kehrte ihr Gesicht lächelnd und errötend dem Fenster zu; der alte Oberst dagegen ließ wieder ein langgezogenes Rauchwölklein zwischen den Lippen hervorgleiten und blickte mit dem einen Auge zwinkernd über den Tisch nach seinem Freunde, was wohl heißen konnte: "Wer hat nun recht? Wie steht’s mit deiner Volksarmee?"

Der Schloßherr verstand diese Frage und hätte ihr gerne durch seinen Lehenmann selbst eine Antwort zuteil werden lassen. "Nun, so gefährlich wär’s wohl nicht, Freund", fuhr er fort; "wenn z.B. Euer Hauptmann gleich im Anfange eines Gefechtes erschossen würde, käm’s Euch doch nicht in den Sinn, davonzulaufen!"

"Ja, das wär’ was anderes", entgegnete der Müller, sich höher aufrichtend, dann freilich, würde sich, keiner von uns besinnen, sich ebenfalls totschlagen zu lassen. Aber ein Unglück wär’s", fügte er leiser hinzu, "und wir bekämen doch keinen solchen mehr."

"Weshalb meint Ihr denn das?" fragte der alte Herr halb verdrießlich.

"Ich weiß es selbst nicht recht; aber seht, gnädiger Herr, das Herz lacht uns allen im Leibe, wenn wir ihn nur von weitem sehen."

"Nun, gut denn", sagte der Schloßherr nach einigem Besinnen, "so haltet Euch nur wacker, wenn’s einmal sein müßte. Den Zins aber kann ich Euch jetzt nicht abnehmen; kommt auf den Abend wieder, bis dahin will ich dem Verwalter die nötige Weisung geben."

Als der Müller ins Freie gekommen, hatte sich das Wetter etwas freundlicher angelassen, und er beschloß, noch in die Stadt zu gehen. "Vielleicht ist’s doch das letzte Neujahr, das ich feiern kann", sagte er vor sich hin und begann rascher nach der Straße hinaufzuschreiten. Durch das Stadttor gelangt, lenkte er seine Schritte zunächst nach dem "goldenen Rind", in der Hoffnung, dort am ehesten Bekannte zu treffen, und richtig, gerade der Türe gegenüber in der obern Ecke saß für sich allein ein Kompagniegenosse, der gestern mit dem Hauptmann und den andern hier getrunken hatte. Er stützte, um das Treiben der übrigen Gäste unbekümmert, den Kopf in die Hand und blickte überrascht auf, als ihn der Müller, zum Tische tretend, anrief: "He, Belper-Fritz, bist du seit gestern abend nicht vom Platze gegangen?"

"Doch", erwiderte der junge Mann, mit trüben Augen aufblickend und sie sogleich wieder senkend, "ich bin eben hereingekommen – sieh, ich hab’ noch nicht einmal eingeschenkt... tu’ Bescheid, Christen."

"Bist heut bei dem Unwetter von Belp in die Stadt gekommen?"

"Nein, ich bin seit gestern hier geblieben."

"Ah, ah", machte der Müller, das angebotene Glas niedersetzend; "aber ich glaube fast, du hast mit deinem Schatz Händel bekommen, so jammervoll siehst du drein."

"Ich habe keinen Schatz, Christen."

"Nun zum Kuckuck, du wirst doch auch nicht Angst vor dem Aufgebote haben, ich kenne dich gar nicht mehr."

"Ich bekomme nicht so bald Angst", erwiderte der Belper-Fritz traurig; "aber hilf mir den Wein austrinken... ich mag keinen Tropfen; vielleicht sag’ ich dir nachher etwas."

Der Müller setzte sich verwundert und teilnehmend neben seinen Gefährten, der wieder in tiefes Nachdenken versank, aus dem er ihn nicht sogleich stören mochte und deshalb auf ein Gespräch hörte, das mit ernsten Mienen am nächsten Tische geführt wurde. "Und es ist doch so, Herr Wacker", sagte ein alter Mann; "die Alten haben’s erfahren und geglaubt, daß die Geisterkutsche Krieg und Pestilenz zu bedeuten hat. Ich machte mir früher selbst nicht viel draus; aber die vergangene Nacht hab’ ich sie gesehen, mit leiblichen Augen gesehen. Sie fuhr hart unter meinem Fenster vorbei, und doch war nicht ein Atem von Geräusch zu hören. Es war, als ob die schwarzen Rosse nur auf Luft träten und sich die Räder in weicher Seide bewegten."

"Wo fuhr sie denn hin?" fragte der andere, dem Schloßmüller, den er erst jetzt bemerkte, freundlich zunickend, "habt Ihr das nicht gesehen?"

"Nein, das kann ich nicht sagen", antwortete der Alte, "sie war mir plötzlich aus dem Blicke verschwunden wie eine in den Wind geworfene Prise Tabak; aber ein Bekannter sah sie hier an der Mauer hinunterfahren, und durch das Aarbergertor soll sie hereingekommen sein, ohne daß die Wache etwas bemerkt hatte."

"Nun, da wird sie schließlich wohl an der Münzterrasse gehalten haben", sagte der andere, indem über sein starkknochiges Gesicht ein Ausdruck von Hohn und Zorn hinlief, "um dort den alten Schultheiß Nägeli, den Gott schon mehr als zweihundert Jahre selig haben möge, aufzuladen. Der macht sich dann das Vergnügen, durch die Lüfte über das Aarziele hinweg nach Wabern hinaus zu kutschieren. So endigt ja das Märchen von Eurer Geisterkutsche. Was sagt Ihr dazu, Schloßmüller?"

"Da wüßt’ ich nicht viel drein zu reden, Herr Wacker", antwortete der Gefragte, "ich habe von der Erscheinung wohl schon oft gehört, aber noch nie etwas gesehen davon."

"Leider geht’s mir auch so", sagte Wacker, "und doch möcht’ ich gerne bisweilen in die Geisterkutsche hineinblicken; ich würde dabei mehr geheimen Halunkenstreichen unserer gnädigen Herren auf die Spur kommen als an einem verrufenen Galgenhubel, sonst müßten die Rosse daran nicht im Stalle des Judenbuben gefüttert werden."

"Was sagt der?" raunte der Belper-Fritz, aus seinem Sinnen auffahrend, seinem Kameraden zu; "was ist das für ein Halunkenstreich unserer Herren?"

"Ach nichts", antwortete der Müller, halb erschreckt über das wilde Wesen, mit dem ihn sein Gefährte anstarrte, "sie sprechen da bloß von einem Gespenst, von der Geisterkutsche; aber komm, wir wollen lieber anderswohin gehen; ich glaub’, der Dampf und Dunst da drinnen tut dir nicht gut."

Vor die Türe getreten, faßte der Belper-Fritz seinen Freund an der Hand und zog ihn schweigend nach dem Wege, der am Werkhofe vorbei zur Kleinen Schanze hinüberführte. Droben hinter den ersten Bäumen der Allee angelangt, blieb er stehen und fragte, nachdem er unruhig umhergeschaut, als fürchte er ein lauschendes Menschenohr, leise: "Nicht wahr, du kennst meine jüngere Schwester, Christen?"

"Das Mädeli, das am Ostermontag mit uns in Köniz war und an der Junkerngasse einen Kammerdienst hatte?"

"Eben das."

"Freilich kenn’ ich’s, ein solches Gesichtchen vergißt sich nicht so leicht."

"Hast du’s schon lange nicht gesehen?"

"Nein... ich kann mich nicht besinnen", sagte der Müller langsam, "seit Herbst, glaub’ ich, nie; aber was ist’s mit ihr? Du erschreckst mich ganz."

"Was mit ihr ist, weiß ich selbst nicht", antwortete der Belper-Fritz wehmütig. "Schon vor einem Monat hat sie, ohne daß wir daheim etwas davon erfuhren, den Dienst verlassen, und, wie ich sie gestern besuchen will, weiß niemand etwas von ihr. Man habe geglaubt, sie sei zu uns heimgekommen, wurde mir gesagt."

"Sonderbar", machte der Müller nachdenklich, "wo möchte sie denn hingekommen sein!"

"Ich will dir sagen, was ich fürchte", flüsterte der Belper-Fritz, aus dessen dunklen Augen ein unheimliches Feuer loderte; "nach allem, was ich aus Mienen und Andeutungen entnehmen konnte, ist meine arme Schwester von einem Junker verführt worden und wird nun irgendwo geheimgehalten, wenn nicht Schlimmeres... wenn ihr nicht Schlimmeres begegnet ist. Das unglückliche, arme Kind!"

Der Müller blickte mit tiefer Teilnahme und Bekümmernis auf seinen Kameraden, der nach diesen Worten sich an einen Baumstamm zurücklehnte. "Höre, Fritz", sagte Christen nach einer Weile, "ich habe keine Schwester; doch kann ich mir denken, was in dir vorgeht. Aber weißt du, wer in dieser Wirrnis am besten raten und vielleicht auch helfen könnte?"

"Nein, Christen, sag’ mir’s! Ich habe keine Gedanken."

"Unser Hauptmann, denk’ ich; gewiß wenigstens wird er alles tun, zu erfahren, wo deine Schwester hingekommen ist."

"Ich habe heute auch schon daran gedacht’’, sagte Fritz leise; "aber ich scheute mich und durft’ es ja sogar dir fast nicht anvertrauen. O meine armen, braven Eltern! Was werden sie sagen!"

Christen nahm seinen Gefährten schweigend am Arm und ging mit ihm den einsamen und menschenleeren Weg an der untern Stadtmauer entlang, nach dem Bärenplatze hinüber. Vor der Wohnung des Hauptmanns angelangt, blieb der Belper-Fritz stehen und sagte hochaufatmend: "Ich darf nicht, ich wag’s nicht. Erspare mir die erste Schande und geh’ allein hinauf! Bekommst du freundlichen Bericht, so warte ich ja da."

"Unglück ist noch keine Schande", erwiderte der Müller; "indessen ich will gehen und dich dann heraufholen."

Er ging; aber nach kurzer Frist kam er mit todbleichem Gesicht zurück, wie ein Trunkener auf den wartenden Kameraden zuschwankend. "Es ist nicht gut gegangen", sprach dieser trübe; "o ich geschlagener Mann."

"Still, still", sagte Christen, indem er mit der Hand über die Augen fuhr; "geh’ heim, Kamerad... ich geh’ auch. Komm, komm; o Jammer und Unglück über Unglück!"

"Aber was hat er denn gesagt", fragte angstvoll der Belper-Fritz, den Vorbeidrängenden festhaltend, "weiß er etwas von der Schwester?... ist sie tot?.... hat sie sich selbst ein Leids angetan?... Mein Gott, so gib mir doch Antwort!"

"Geh’ selbst und frag’", jammerte Christen, ohne sich aufhalten zu lassen, "ich weiß nicht mehr, wie es gegangen ist... mir wirbelt alles durcheinander; aber tot ist er... tot ist er."

"Er ist tot... von wem redest du denn?"

"Der Hauptmann... wer sonst", hastete Christen, die zurückhaltende Hand seines Begleiters abstreifend, "der Hauptmann ist tot; aber geh’ doch selbst hinauf und laß mich, ich bitte dich; ich muß hinaus ins Freie, vor die Stadt... es will mich fast erdrücken da drinnen. Komm morgen zu mir, Belper-Fritz!"

Dieser war überrascht und erschreckt stehen geblieben, während der Müller dem Stadttor zueilte, als ob er dem dumpfen Schmerze der Trauerbotschaft entfliehen könnte. Die Leute, die ihm begegneten, kamen ihm wie vorüberhuschende Schatten vor, und nur da oder dort sagte er zu einem, ohne ihn anzusehen, im Vorbeieilen: "Wißt Ihr’s schon? Der Hauptmann König ist ermordet worden." Erst als er an sein Haus herankam, blieb er stehen. Er mußte sich lange besinnen, um die Einzelheiten der letzten Stunde wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, als ihn plötzlich ein Gedanke durchfuhr, der ihm wie eine Art von Trost erschien. "Hat die Herrschaft im Schlosse heute schon von dem Unglücke gewußt?" dachte er. "Gewiß... drum wurde ich über die Ersetzung des Hauptmanns so ausgefragt; da kann ich vielleicht mehr erfahren als von seiner armen, jammernden Mutter; vielleicht... geb’ es Gott... ist das Schlimmste nicht einmal zur Wahrheit geworden. Die Zinsgeschichte gibt mir einen erwünschten Anlaß, hinüber zu gehen."

Er schritt durch die bereits einbrechende Dämmerung dem Schlosse zu und wurde auf sein Begehr sofort in das Zimmer geführt, in dem nur noch Vater und Tochter am Kamin beisammen saßen. "Ah", rief der erstere dem Eintretenden entgegen, "da kommt mein pünktlicher Zinsmann. Nun, hier habt Ihr die Quittung." Der Müller griff mechanisch in die Tasche und brachte eine schwere Geldrolle hervor; aber der Oberst machte eine rasch abwehrende Handbewegung und sagte freundlich: "Laßt das, laßt das, Nachbar; heute nehm’ ich kein Geld. Seid Ihr um Lichtmeß noch daheim, könnt Ihr’s dann bringen; müßt Ihr vorher ins Feld, so nehmt’s mit und braucht es, wo’s nötig ist. Euren ärmern Kameraden werdet Ihr schon etwas davon zugute kommen lassen."

Der Müller war zu sehr von andern Gedanken erfüllt, als daß er für dieses unerwartete Benehmen viele Worte gefunden hätte; vielleicht auch hatte er die freundliche Absicht des Schloßherrn nicht einmal ganz verstanden und sagte daher, ohne das Geld aus der Hand zu legen: "Ach ja, heute hab’ ich noch nicht gewußt, daß das Unglück schon da sei."

"Ein Unglück... ist Euch denn ein Unglück begegnet?" fragte der Oberst näher tretend.

"Ja wohl ist’s für mich so gut als für meine Kameraden ein Unglück... ich bin noch immer der gleichen Meinung."

"Ich versteh’ Euch nicht... sprecht doch deutlicher!"

"Ich meine eben den Tod unseres Hauptmanns, gnädiger Herr; ich habe vorhin noch nichts davon gewußt, als ich hier war."

"Wie... was sagt Ihr?" rief Adelaide, erbleichend sich von Ihrem Stuhle erhebend, "der Tod Eueres Hauptmanns... des Hauptmanns König?"

"Leider Gottes ja", erwiderte der Müller leise; "so weiß die gnädige Herrschaft noch nichts davon?"

"Kein Wort... kein Wort", entgegnete der Oberst rasch, "was ist’s denn, was hat’s gegeben?"

"Unser Hauptmann ist tot... verunglückt oder vielleicht ermordet und ins Wasser geworfen worden. Man hat seiner Mutter erst vor einer halben Stunde seinen Mantel gebracht, der hinterm Blutturm an einer in die Aare hinaushangenden Staude gefunden wurde. Er ist ganz zerrissen und der Kragen mit Blut bespritzt... ich hab’ es selbst gesehen."

"O heilige Allmacht... o mein Herz", stieß das Fräulein leise hervor, indem es, beide Hände gegen die Brust drückend, einen Schritt vorwärts machte, dann aber zur Seite schwankte und lautlos neben ihrem Vater zusammensank.


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