Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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XX

Die Hochwachten, die in der nächtlichen Morgenfrühe vom Jura und vom Bucheggberge den Himmel gerötet, hatten ihre Botschaft schnell genug durch das ganze Land bis in die entlegenste Alpenhütte hinaufgetragen. Der letzte Nachhall der Alarmschüsse von den Bastionen Solothurns mochte in den Klüften des Weißensteins kaum gänzlich verstummt sein, als das Wächterhorn vom Münsterturme in Bern die Stadt aus ihrem Schlafe schreckte. Alles eilte auf die Türme oder durch die Tore nach den Schanzen, um die fernen Flammenboten zu schauen. Schon bei Tagesanbruch ging von Mund zu Mund die Kunde, die Franzosen seien unterhalb Biel blutig aufs Haupt geschlagen worden, was sich nicht durch die Flucht hinter den Jura gerettet, liege in Feld und Wiese um Lengnau erschossen, von den Hallbarden und Sensen des Landsturms bis in die einsamsten Bergpfade hinauf niedergeschmettert, oder treibe, den Fischen zur Beute, die Aare hinab. Sogar der französische Obergeneral Schauenburg werde den Schweizern keinen Schaden mehr tun, da die Kugel eines Oberländer Scharfschützen in der mondhellen Nacht den Weg zu seinem Herzen gefunden habe. Aber als gegen Mittag schweißtriefende Kuriere durch die Tore hereingejagt kamen, denen bald einzelne zersprengte Flüchtlinge folgten, da war der Angst und des Zornes kein Ende mehr über die Berichte, die unsägliche Verwirrung verbreiteten.

Verworrene Bruchstücke dieser Unglücksbotschaften von verlorenen Kämpfen und dem Übergange Solothurns waren im Laufe des Nachmittags auch nach Schloß Holligen gedrungen. Wer sie dahin gebracht, wäre kaum zu sagen gewesen, es war, als ob der Wind sie durch die kahlen Bäume herangeweht oder der Lauerfalke vom Turmdache herabgekrächzt habe; denn zu dieser Zeit kamen wenige Menschen in das einsame Schloß, wenn es nicht etwa ein Bettler war, der am verschlossenen Hoftore klopfte, und nicht einmal ein solcher war heute da gewesen.

Einsam und traurig war es seit langem geworden in den weiten Mauern. Der gnädige Herr war samt dem Reitknechte, dem Gärtner und den übrigen in den Krieg gezogen, und das Fräulein – daß Gott erbarm! der alte Ulrich mußte jedesmal mit der Hand über die Augen fahren, wenn der Name genannt wurde oder wenn er nur an der verschlossenen Türe ihres Gemaches vorüberging; sie war verschwunden. So war der Alte mit seiner Elsbeth allein zurückgeblieben, die, von einer armen Anverwandten unterstützt, die Küche und das übrige Hauswesen besorgte. Wenn er, in sein bekümmertes Sinnen verloren, über den stillen Hof schlich, ohne zu wissen, was er wollte, ging er manchmal unwillkürlich nach der Stalltüre hinüber, um das Ohr wenigstens an einem kräftigen Laute, an dem mutigen Stampfen der Pferde zu erfreuen; aber drinnen war es ebenfalls stille, die Rosse waren ja auch in den Krieg gezogen. "Es geht zu Ende – es ist vorbei", sagte der Alte leise und erschrak dann wieder über das eigene Wort, als hätte er eine unheilvolle Prophezeiung ausgesprochen. Am liebsten war dem Einsamen noch die Abendstunde. Die Nacht plagte ihn mit Schlaflosigkeit oder unheilvollen Träumen, der Morgen weckte ihn zu einem müßigen Tage, der doch nur neues Unheil bringen konnte; aber am Abend kam der Verwalter herüber, dessen Wohnung außer den Hofmauern lag, um bei einem Glase Wein über die schweren Zeitläufe zu reden und den eigenen Kummer in der Betrachtung der allgemeinen Not zu vergessen. Sehnlicher als irgend einmal hatte der alte Kammerdiener drum auch heute den ganzen Nachmittag den Abend herbeigewünscht, um vielleicht doch von dem Verwalter ein tröstendes, aufrichtendes Wort aus den Unglücksbotschaften zu hören oder wenigstens gemeinsam die langsam schleichenden Stunden verbringen zu können; aber als der Erwartete endlich später als gewöhnlich erschien, lief ihm der Alte mit freudestrahlendem Gesichte entgegen, legte den Finger auf den Mund und flüsterte: "Still, still, vor dem Bösen das Gute – das Fräulein, das liebe gnädige Fräulein ist wieder da. Dem allgütigen Himmel sei gedankt – sie will Euch morgen begrüßen und sich jetzt zur Ruhe legen. Sie ist müde und wollte nur wissen, ob wir vom gnädigen Herrn keine Nachrichten haben. Gott gebe, daß er wohlbehalten sei!"

Das war nun freilich richtig, Adelaide hatte dem alten Diener, der in seiner ungemessenen Herzensfreude über ihre unerwartete Ankunft sogleich auch den Verwalter zur Begrüßung hatte herbeiholen wollen, gesagt, sie wünsche diesen erst morgen zu sehen; aber zur Ruhe gedachte sie gleichwohl noch nicht zu gehen.

Sie dachte und sann, wie sich in jener Nacht dem Glücke über die Befreiung des geliebten Verfolgten so schnell der Jammer beigesellt und die kaum wieder aufkeimende Hoffnung aufs neue geknickt hatte. Als sie damals vom Rathause mit dem Junker heimkehrte, hatte sie wohl bemerkt, wie ihnen schon vom Kreuzwege bei der großen Linde an eine Gestalt nachschleiche, die sich vorsichtig von Baum zu Baum zu verstecken suchte; Adelaide ängstigte sich, sie möchte in ihrer Verkleidung erkannt werden und der heimliche Lauscher sei wohl gar von ihrem Vater bestellt; auch der Junker war unruhig, trotz des Trostes, den er ihr zuzusprechen sich bemühte, so daß sie mit eiligen Schritten die Allee erreichten. Aber da, gerade am Hoftore, sahen sie wieder deutlich, wie zwei Gestalten, die dem Anrufe des Junkers keine Antwort gaben, in das Buschwerk verschwanden. Er begleitete sie bis zum Seitenpförtchen, das vom Garten ins Schloß führte, und suchte ihre Angst noch beim Abschiede zu beschwichtigen, indem er ihr versprach, den Burschen nachzuspüren und, wenn sie wirklich die Absicht gehabt, ihren nächtlichen Gang auszukundschaften, sie durch irgend ein Vorgehen auf falsche Fährte zu leiten. Adelaide hatte indessen ihr Gemach noch nicht lange erreicht, als sie nah unter ihren Fenstern die Stimme des Junkers rufen hörte: "Ei, Schurken, die ihr seid, was wollt ihr da mit Strickleitern?" Trotz ihres Schreckens öffnete sie das Fenster und sah ihn durch die Dunkelheit an der Mauer herablaufen, als verfolge er jemanden, und schon entfernt hörte sie ihn nochmals rufen: "Steht mir, Herr v. Amiel! Ihr seid es, ich kenne Euch!" Darauf ward es stille; aber nach einer halben Stunde wurde der Junker als Leiche in den Schloßhof hereingetragen.

Adelaide erhob sich bei dieser Erinnerung, um unruhig das Gemach auf und nieder zu gehen; sie sah das im Tode fast schöner gewordene Antlitz des Junkers, über das die vom Luftzuge bewegten Lichter wechselnde Schatten warfen, als fange es sich wieder zu bewegen an; sie sah die starre Hand am Pistolengriffe, die ihr vorher noch mit so warmem Drucke einen glücklichen Traum gewünscht, und sie fühlte aufs neue den zuckenden Schmerz, der ihr beim Anblicke des blutigen Mantels durch die Seele gegangen. Sie drückte beide Hände gegen das Herz und blickte zum Bilde des Vaters empor. "Weißt du noch", sprach sie das Bildnis an, "weißt du noch, was du mir sagtest, als ich in meinem namenlosen Jammer gestand, was ich für den schuldlos Eingekerkerten getan, aber auch meine Überzeugung aussprach, daß der Marquis um den Mord an unserm Vetter wisse? Du weist es vielleicht nicht mehr, und ich will es vergessen, es waren Worte wilden Zornes und Hasses, die du jetzt bereuen wirst, da derjenige, den ich anklagte, als Verräter bei den Feinden steht, aber als du deine Hand selbst erhobst gegen mich, dein Kind – da griff ich in meiner schwersten Not nach einer andern Hand, die sich mir hilfreich entgegenbot. Du kannst mir nicht mehr zürnen, Vater. Das Schicksal hat schwer auf uns beiden gelegen; möge dir der Himmel dafür noch um so frohere Tage schenken."

Nach kurzem Besinnen ergriff sie das silberne Glöcklein, das auf dem Tische stand, und kaum hatte sein heller Ton ausgeklungen, als auch schon die eiligen Schritte des alten Ulrich durch den Gang hörbar wurden: "Ach, ach", rief er noch unter der Türe, "das gnädige Fräulein ist noch nicht zur Ruhe gegangen, hätt’ ich das gewußt!"

"Und dann, guter Ulrich?"

"Dann hätt’ ich mir erlaubt, schon früher heraufzukommen; der Bruder des Verwalters, er ist bei den Dragonern, gnädiges Fräulein, hat gestern unsern gnädigen Herrn in Hofwil und Jegistorf gesehen, ganz wohlauf, Fräulein. Er war dort wie immer mit dem Obergeneral v. Erlach und konnte also heute nicht bei Solothurn sein."

"Ist der Verwalter auch der Meinung?"

"Ei gewiß, gnädiges Fräulein; der General hat mit seinem ganzen Begleite im Schloß Jegistorf übernachtet."

"Dem Himmel sei Dank", sagte Adelaide erleichtert; "es wurde mir schon gesagt, der Vater könne heute nicht in der Nähe des Kampfes gewesen sein; aber mit einem Male ist’s mir wieder so bange geworden, Ulrich!"

"Es ist mir selbst so gegangen den ganzen Tag, solange ich nichts Genaueres wußte", erwiderte der Alte; "aber der Verwalter hat auch noch gar kuriose Berichte aus der Stadt gebracht, und sie müssen wahr sein, er hat sie von einem reitenden Boten, der vom General v. Büren an unsere gnädigen Herren geschickt wurde, selbst gehört."

Erzähle, Ulrich; vom Vater wußte er nichts?"

"Nein, nichts vom gnädigen Herrn", erwiderte der Alte zögernd, "aber was wird er sagen dazu, ich kann’s noch immer nicht glauben von einem, der so oft in unserm Hause gewesen, die Schlechtigkeit!"

"Daß der Marquis zu den Franzosen übergegangen ist, meinst du vielleicht?" sagte Adelaide, die ein Lächeln über den verlegenen Zorn Ulrichs nicht unterdrücken konnte; "ja freilich, das wird dem Vater schwer und unerwartet gekommen sein!"

"Ihr wißt das schon?" fragte der Kammerdiener überrascht, "und also wohl auch, daß der – der – Mann am ganzen Unglück schuld ist?"

"Der Schurke? wolltest du sagen, Ulrich", entgegnete Adelaide mit dem Ausdrucke des Zornes und der Verachtung, "sprich dich nur aus, wie es dir ums Herz ist; ich weiß nur noch, daß er mancherlei wichtige Papiere mit sich genommen, abgesehen davon, daß er sonst in mehr Geheimnisse eingeweiht war, als gut sein wird."

"Und daß er den Kanonieren während der Nacht verfälschte Munition geschickt, nur wenige Patronen mit Pulver, die übrigen mit Sägemehl gefüllt!"

"Was du nicht sagst", rief Adelaide; "war die Kompagnie König auch dabei?"

"Ja, dem Himmel sei gedankt! wär’ die nicht gewesen, so wäre noch alles gefangen oder niedergemacht worden. Dem vorsichtigen Hauptmanne gegenüber hatte er den Fälschungsversuch doch nicht gewagt! Aber denkt nur, als der Schurke, wie Ihr sagtet, sah, daß unsere Leute mit Hilfe dieser braven Kanoniere wieder die Oberhand gewinnen möchten, ritt er nach Solothurn hinein, gab vor, er komme im Auftrage des Generals v. Büren, welcher der Stadt zur Kapitulation rate, um sie vor Brand und Plünderung zu bewahren. So steckten sie denn die weiße Fahne aus, und als unsere Leute das sahen, hielten sie sich von allen Seiten für verkauft und verraten und suchten sich zu retten, jeder wie er konnte."

"Sollte das alles auch wahr sein!" rief Adelaide, "ein einziger wär’ all das zu tun imstande gewesen!"

"So hat der Verwalter erzählt und noch viel mehr", erwiderte der Alte nickend, "ich weiß gar nicht, wie es heute in meinem Kopfe aussieht; er wird’s Euch morgen selbst berichten."

"Sorge dafür, daß ich mit dem frühesten einen Boten bekomme, ich will an den Vater schreiben. Und nun geh’ zur Ruh’, Ulrich, wir müssen uns drein fügen, was der Himmel schickt."

Sie setzte sich zum Schreiben nieder; aber die Hand zitterte, und ihre Gedanken wogten durcheinander. Sie erhob sich, um die heiße Stirne an der Nachtluft zu kühlen, und blieb horchend am Fenster stehen, als sie rasche Schritte gegen das Hoftor herannahen hörte. "Trügt mich das Ohr nicht", sagte sie leise, "so ist das meine Stütze und mein Stab, die Müllerin; aber was sollte die noch wollen zu dieser Zeit?"

Das Pförtchen klinkte, und die Schritte nahten sich über den Hof gerade gegen ihre Fenster heran. "Seid Ihr noch wach, gnädiges Fräulein?" rief eine ängstliche Stimme von unten herauf; "ich muß Euch noch was sagen, mein Christi ist heimgekommen."

"Euer Christian! Um Gotteswillen, ich hör’s Euch an, es ist ein Unglück begegnet."

"Erschreckt nicht, Fräulein", entgegnete die Müllerin, "es ist wohl auch ein Glück dabei, ich seh’ schon die Hand einer gütigen Vorsehung darin, daß Ihr da seid. Ich bitt’ Euch, kommt herunter auf einen Augenblick!"

Der alte Ulrich, der die Stimme ebenfalls gehört, erschien mit einem Lichte auf dem Hofe und fragte, wer hereingekommen sei. "Nur ich bin’s, Ulrich", flüsterte die Müllerin, ihm entgegentretend; "sage der Elsbeth, sie soll noch schnell Feuer machen im Schlafzimmer des gnädigen Herrn."

"Er kommt?" rief der Alte, "noch diese Nacht?"

"Still, still!" erwiderte die Müllerin; "er wird im Augenblicke da sein."

Als Adelaide mit angstvollem Gesichte auf den Hof trat, nahte sich dem Tore ein kleiner Wagen, dessen Pferd der Wachtmeister sorgsam an der Halfter führte, zur Seite ritt der junge Lieutenant v. Dießbach, der, sobald er das Fräulein erblickte, vom Sattel sprang und ihr entgegenlief.

"Dem Himmel sei gedankt, daß du wieder da bist, liebe Cousine", rief er; "nun bin ich ganz beruhigt, und es ist durchaus keine Gefahr vorhanden. Ich habe die Wunde erst noch in der Stadt von Eurem alten Doktor untersuchen lassen – er wird im Augenblicke selbst da sein. Still, still – erschrick nicht! es ist nur augenblickliche Erschöpfung, wenn er bewußtlos liegt."

Adelaide war während dieser Worte an das Wägelchen gestürzt und drückte, nachdem sie die Decke zurückgezogen, mit dem Jammerrufe "mein Vater, mein armer Vater" das Gesicht auf eine kalt herabhängende Hand.


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