Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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IV

Die erste Hälfte des Januars verging unter der dumpfen Beängstigung, wie sie der Erwartung schwerer Ereignisse voranzugehen pflegt und von einer trüben Witterung noch gesteigert wird. Das beunruhigte Menschengemüt mag sich nicht denken, daß die Natur an seinen Kümmernissen keinen Teil nehmen und ihren Gang gleichmütig in gewohnten Geleisen fortwandeln sollte; es erblickt daher im Rauschen des nächtlichen Windes, im hellern oder dunklern Scheine des aufsteigenden Mondes, im Ruf und Geschrei der Tiere, in der toten Stille und lauten Empörung der Elemente Abbilder und Verkündiger seiner eigenen Hoffnungen oder Befürchtungen und vermehrt auf diese Weise noch die unheimliche Qual der Ungewißheit kommender Begebnisse. So geschah es auch in diesen Tagen, wo nach eingebrochener Abenddämmerung vom Hochgebirge her ein Meteor mit funkelndem Lichte über das Land herabzog und dann, nachdem es Tausende durch seine ausstrahlenden Feuergarben erschreckt, mit erschütterndem Knalle in die Lüfte entschwand. Das sei die geheimnisvolle Weltkanone, deuteten die Propheten, die in solchen Zeitläuften auf Weg und Steg entstehen, welche den letzten Völkerkrieg verkünde, aus dem nach unerhörten Blutbädern der Antichrist als Sieger hervorgehen werde. Bald da, bald dort wollten in den Lüften fechtende Heere gesehen worden sein, und als gar noch nächtlicherweile der ganze nördliche Horizont sich mit dunkler Glut füllte, die wie vom Winde angefacht hin und wider zog, sich senkte und höher hob, ging für viele ein unumstößlicher Glaube auf, daß sie den flammenden Vorboten des jüngsten Tages gesehen hätten. In dunkeln Bibelstellen und halb-erschollenen alten Sagen wurde die Bestätigung des nahenden Weltendes gesucht und selbst mutige Herzen mit unklarer Bangnis erfüllt, während schon auf manchen Straßen bewaffnete Scharen daherzogen und auf den Hochwachten weithinschauender Berggipfel mächtige Holzstöße zu Feuersignalen für die Stunden höchster Feindesgefahr aufgetürmt wurden.

An dieser allgemeinen Bekümmernis hätte wohl jedes Herz genug zu tragen gehabt; aber das Schloßfräulein von Holligen vergaß dieselbe fast über dem eigenen größern Leid. Seit der Neujahrsnacht hatte sie den Vater kaum noch etwa zum Morgengruße gesehen und nie mehr ein Wort gewohnter Zärtlichkeit von ihm gehört. Damals, als sie nach dem ersten erstickenden Schmerze, mit dem sie die Botschaft von dem Tode Rudolfs überwältigt, ihm mit noch halbschwindenden Sinnen gestanden, daß ihr Herz in aller Gewalt der Liebe dem toten Maler angehöre, hatte er ihr kalt und streng befohlen, sich auf ihr Zimmer zu begeben und das Haus ohne seine Erlaubnis nie zu verlassen. Während er vom frühen Morgen bis in die späte Nacht und noch öfter während derselben sich in der Stadt befand, um an den Vorkehren und Ratschlägen der Kriegskommission teilzunehmen, saß sie da, als wäre sie eine Fremde unter diesem Dache oder als hätte sie eine Schuld begangen, die in einsamer Haft verbüßt werden müßte. Wie oft nahm sie sich vor, dem Vater um den Hals zu fallen und ihn anzuflehen, ihr seine Liebe wieder zuzuwenden und in ihrem unsäglichen Leide ihr nicht den letzten einzigen Trost zu entziehen; aber wenn sie sein kaltes, strenges Gesicht erblickte, drängte sich die zaghafte Klage alsbald wieder ins Herz zurück.

In dieser schweren Zeit erstand der Einsamen ein ebenso unerwarteter als teilnehmender Trost, wo sie es am allerwenigsten erwartet hatte. An einem Nachmittage fiel nah unter ihrem Fenster ein Schuß, dem der schrille Schmerzensschrei eines getroffenen Tieres folgte. Von raschem Mitleide ergriffen, öffnete sie das Fenster und bemerkte gerade vor der Hofmauer ihren Verwandten, den Junker von Dießbach, der ein nun zum Schweigen gebrachtes Wild in die Weidtasche schob. Dem Klange des sich öffnenden Fensters nachblickend, schaute er am Turme empor und lief dann spornstreichs dem nächsten Seitenpförtchen zu das über den Hof hereinführte. Adelaide hatte kaum das Fenster wieder geschlossen, als er rasch ins Zimmer trat. "Ei, ei, schöne Cousine", rief er noch unter der Türe, "wie freu’ ich mich, daß du schon wieder da bist; wann bist du denn zurückgekommen?" "Ich versteh’ dich nicht, Vetter", erwiderte Adelaide, "wo sollt’ ich denn gewesen sein?"

"Wie, was?" entgegnete er verwundert, "warst du nicht bei der Tante in Oberhofen?"

"Ich glaube, dir hat geträumt; du willst doch nicht deinen Scherz mit mir treiben, jetzt nicht, Albert."

Bei dem wehmütigen Klange der Stimme, mit dem diese Worte gesprochen wurden, trat der Junker langsam näher, überrascht und erschrocken seiner Cousine in das bleiche Antlitz schauend, aus dem ihm zwei müde, tränentrübe Augen entgegenblickten. "Mein Gott, Adelaide", sagte er ihre Hand erfassend, "du wirst doch nicht krank sein, du siehst ja so elend und bleich drein wie der leibhaftige Tod."

"Krank gerade nicht, Albert", erwiderte sie leise, "aber warum meintest du denn, ich sei fort gewesen?"

"Nun, wahrhaftig", sagte er, mit der Hand verlegen über das Gesicht fahrend, "ich glaubte, dein Vater habe es selbst meiner Mutter und andern Damen gesagt; ich kann mich indessen verhört haben, Adelaide."

"Du hast’s noch nicht weit gebracht in der Verstellungskunst, Vetter", sagte sie wehmütig lächelnd; "ich bin meinem Vater nur dankbar, daß er mir in dieser Zeit überflüssigen Besuch ersparte."

"Ich verstehe und werde dich nicht lange aufhalten; aber zürne mir nicht, Adelaide, wenn ich jetzt nur ungern gehe, ohne von deinem Kummer einen kleinen Anteil mitzunehmen."

"Nein, bleib, Albert", bat sie", ich habe diese Tage oft genug an dich gedacht; du meintest es doch besser mit ihm als alle andern."

"Mit ihm – mit dem Hauptmann, meinst du wohl?"

"Ja, mit dem unglücklichen Rudolf", sagte sie leise, indem große Tränen aus ihren Augen rannen; "wenigstens war er dir gewiß aufrichtig zugetan."

"So ist’s wirklich das?" rief der Junker aufstehend, "nun wahrhaftig, Cousine, da gesteh’ ich, du hast’s in der Verstellung weiter gebracht als ich."

"Du hast mich früher nie um mein Vertrauen ersucht", erwiderte sie, mit kummervollem Ernste aufschauend; "aber gleichwohl hätte ich geglaubt, der gewaltsame Tod eines Freundes müsse deinem Herzen näher gehen, Albert."

"Vielleicht, Adelaide", sagte der Junker, nachdenklich auf und nieder gehend, "ich glaube, nie unrecht an ihm gehandelt zu haben, aber weißt du auch gewiß, daß er tot ist?"

"Was sagst du?" rief sie mit gepreßter Stimme; "weißt du etwas anderes? Ach nein, Albert, jetzt willst du mich täuschen!"

"Hat dein Vater nie etwas davon gesagt?"

"Nein", sagte sie mit leisem, wehmütigem Kopfschütteln, "seit der Todesnachricht nie mehr."

"Nun höre, Adelaide", erwiderte der Junker, vor der wieder still weinenden Jungfrau stehen bleibend, "daß es so mit dir bestellt wäre, habe ich wahrlich nie geahnt; eine kleine Neigung, weiter nichts, konnt’ ich höchstens denken. Aber bei meiner Ehre, unter diesen Umständen ist das hart von deinem Vater."

"Du quälst mich, Albert; bei seinen Ansichten kann ich ihm keinen Vorwurf machen."

"Nein, nein, das ist’s nicht", fuhr der Junker fort, "aber grausam sollte er nicht sein; denn ja, Adelaide, ich glaube nicht, daß Rudolf tot ist, so viel können sie nicht gewagt haben. Was ich jedoch nur glaube, muß dein Vater bestimmt wissen."

"Aber mein Gott, so sprich doch", bat das Fräulein angstvoll; "man hat ja seinen blutigen Mantel in der Aare gefunden, und ach, es wäre mein letzter Trost gewesen, wenn seine Leiche nicht von den Wassern fortgetragen worden, sondern neben andern lieben Toten hier seine Ruhe gefunden hätte."

"Darüber beruhige dich", sagte der Junker; "so viel ist gewiß, daß der Hauptmann damals nicht tot war und der Mantel nur in die Aare geworfen wurde, um die öffentliche Aufmerksamkeit irre zu führen und seine Gefangennehmung geheim zu halten."

"Albert, gütiger Gott", brachte Adelaide mit zitternder Stimme hervor, "ich beschwöre dich, täusche mich nicht! Heilige Allmacht, wie hätte man seine arme, alte Mutter so hintergehen und ihr diesen tödlichen Schmerz verursachen können!"

"Armes Herz", erwiderte der Junker gerührt, auf das abgehärmte Antlitz des Fräuleins blickend, "mitten in deinem Leide mußt du zuerst an den Gram anderer denken. Um so mehr – du sollst dein Vertrauen nicht bereuen, Adelaide; bei Gott, das war grausam. Nun will ich erst alle Hebel ansetzen, um dir hoffentlich bald wirksameren Trost bringen zu können. Man hält mich zwar fern und mißtraut mir selbst, weil ich Rudolf in Schutz genommen, der unter gegenwärtigen Umständen freilich schwerer Dinge angeklagt wurde; drum hüte dich und laß auch du dir nichts merken! Hab’ ich weiteres in Erfahrung gebracht und weiß ich deinen Vater in der Stadt, so wirst du mich wieder sehen." Er beugte sich auf die Hand seiner Verwandten nieder und schritt dann rasch der Türe zu.

Als der Junker das Schloß verlassen hatte, wandte er sich, ohne auf Weg und Steg zu achten, durch den weichen Schnee mitten über Äcker und Wiesen dem Bremgartenwalde zu. Er dachte zwar nicht mehr an Jagdbeute, aber es war ihm, als müsse er sich mit den dunkeln, widerstreitenden Gedanken und Gefühlen in die tiefste Einsamkeit verbergen. Der Junker gewahrte mit schmerzlichem Erschrecken, daß er das Bild seiner schönen Cousine schon lange her tiefer im Herzen getragen, als er sich’s selbst je gestanden oder auch nur geahnt hätte. "Das ist nun vorbei", sagte er laut, fast trotzig, als müsse er sich selbst einen ernsten Befehl zurufen, "und du hast auch längst das Recht verscherzt, deine Hand nach diesem reinen, leuchtenden Kleinod auszustrecken." Bei diesem Gedanken trat ihm ein kalter Schweiß auf die Stirne, und er mußte sich, von plötzlicher Mattigkeit ergriffen, auf eine Bank setzen, die sonst zu kühler Sommerrast am Waldrande stand. Mit einem Male trat als schwer anklagende Schuld das verlorene, in gedanken- und gemütlosem Leichtsinne vergeudete Leben vor ihn, und wie ein höhnender Kobold rief es ihm zu: "Was willst du? Du hast dir ja nicht einmal die Kraft und Mittel gesammelt, das Gute zu tun, selbst wo du den Willen hättest! Du, der Sprößling und Erbe einer der mächtigsten Familien im Lande, bist jetzt nicht imstande, dir über das Geschick eines Freundes volle Gewißheit zu verschaffen, dem vom Hasse Verfolgten die hilfreiche Hand zu bieten und die Tränen eines Mädchens zu trocknen, das, wenn auch für deine Liebe zu gut, dir doch sein heiligstes Vertrauen geschenkt hat." Er mußte sich wieder erheben, als könnte er die immer schwerer drückende Seelenlast durch äußere Bewegung abschütteln; aber der Gedanke, daß er bei allfälligem Rettungsversuche nicht einmal auf das Vertrauen des eigenen Vaters, geschweige auf dessen tätige Beihilfe zählen könne – dieser Gedanke der Ohnmacht und Ungewißheit jagte ihn mit ruheloser Hast durch den Wald bis der Abend über denselben hereindämmerte. "So weit hast du’s bis heute schon gebracht, edler Herr von Dießbach", sagte er bitter, einen Pfad betretend, der ins Freie führte, "daß du, um nur vor Frauenaugen nicht als unnützer Wicht zu erscheinen, deine Zuflucht zu einem Schurken nehmen mußt, der dich in der nächsten Stunde um größeren Gewinn wieder verraten wird. Ja, du bist unser Aller Herr und Meister, roter Judenbube, und das ist auch ein Stück Vergeltung!"

Der betretene Pfad führte zu einer Waldecke, wo auf hohem Bord über der Aare, die in der Tiefe zwischen mannigfaltigem Buschwerk ihre wunderlichen Krümmungen gegraben hat, ein einsames Schenkhaus stand. Zur Sommerszeit war es ein von den Städtern gern besuchter Vergnügungsort, von dem sich der Blick über Fluß und Stadt hinweg nach den duftigen Firsten des Hochgebirges öffnet, während zu Häupten waldfrische Lüfte durch die Kronen mächtiger Kastanienbäume wehen; im Winter dagegen war’s still und einsam da herum, und das Haus wurde nur etwa zu einem heimlichen Stelldichein benutzt oder von allerlei lichtscheuem Volke besucht, das sich nicht in die Stadt wagen mochte. Mehr von der ungewohnten inneren Aufregung, als von der Anstrengung des zurückgelegten Weges ermüdet, trat der Junker hinein und stieg, an der zu ebener Erde liegenden Schenkstube, aus der laute Stimmen ertönen, vorübergehend, die Treppe hinauf, die zu einer Reihe kleiner, für vornehmere Gäste behaglich eingerichteter Stübchen führte. Er drückte auf die nächste Klinke, trat aber, als er diese verschlossen fand, durch eine Türe, die sich sogleich auf der anderen Seite des Ganges geöffnet hatte.

Hier wurde er mit ebenso warmem Handreichen als verlockendem Schmollen empfangen, daß er nach so langer Abwesenheit nun erst noch mit einem so trüben Wettergesichte erscheine, und alsbald gaben sich zwei kleine weiße Hände schmeichelnde Mühe, seine Stirne wieder glatt zu streichen. Bei dem leichtgewohnten Sinne des Junkers war ein solches Streben nie ohne Erfolg, und kaum wurde das rote Blut der Burgunderrebe kredenzt, als auch schon jede Sorge und Bekümmernis in seiner berauschenden Flut zu versinken begann.

"Ach, lieber Junker", klagte das schöne Wirtstöchterlein, als sich der junge Mann nach bereits eingebrochener Nacht wieder zum Fortgehen anschickte, "wie werde ich lange Weile und Heimweh bekommen, wenn nun der Krieg losbricht und ich Euch dann so lange, der Himmel weiß – vielleicht nie mehr sehen werde."

"Du wirst dich doch nicht vor dem Kriege fürchten, Kleine?" sagte der Junker leichthin, indem er seine Weidtasche umhing; "solch’ schönem Kinde wird kein Leid getan."

"O ja, ich fürchte mich schrecklich davor; besonders wenn die Franzosen kommen."

"Die werden aber nicht hierher kommen, sei ohne Sorge."

"Ach, man kann es nicht wissen und hört gar mancherlei", erwiderte das Mädchen; "drüben im grünen Stübchen sitzen schon den ganzen Nachmittag zwei, die in einer großen Landkarte die Wege aufschreiben, auf denen die Franzosen marschieren können. Sie meinen beide, es gehe gar leicht, ich hab’ es wohl verstanden, wenn ich ihnen etwas zu bringen hatte, obschon sie welsch parlierten."

"Was, daneben in der verschlossenen Stube?" fragte der Junker; "sind es Herren aus der Stadt?"

"Ich kenne sie gar nicht", sagte das Mädchen, "der eine ist wohl vornehm, und ich meine, ihn schon in der Stadt gesehen zu haben; der andere aber sieht fast wie ein Bedienter aus."

"Seltsam", machte Herr von Dießbach; "wer sollte denn hier außen über Kriegspläne beratschlagen? Du wirst dich geirrt haben; die Herren werden wohl nur über den Krieg gegen den gefährlichsten Feind sprechen – schöne Augen und rote Lippen, wie diese da sind, kleine Schmeichelkatze."

"Nein, nein", entgegnete das Mädchen eifrig, "mich haben sie nicht einmal angesehen und recht geärgert erst noch dazu, ich hab’ es ganz deutlich verstanden. Der Vornehmere sagte – er hat ein so schwarzes Gesicht, wie wenn er das Wasser fürchtete – ja, der hat gesagt, er kenne nun die Berner gut genug, sie werden sich wie Dachse in den Löchern übertölpeln lassen, und mancher Offizier werde von seinen eigenen Leuten Püffe bekommen, daß ihm für immer der Atem vergehe. Das hat er gesagt, gewiß und wahrhaftig; ich habe doch selbst expreß an der Wand gehorcht."

Das Mädchen hatte kaum ausgesprochen, als drüben die Türe klinkte und mit leisem Geräusche geöffnet wurde. Der Junker zog mit raschem Griffe die seinige ebenfalls auf und stand in dem herausfallenden Lichtscheine überrascht dem Herrn v. Amiel gegenüber, hinter dem eine andere Gestalt hastig wieder ins Zimmer zurücktrat. Die erste Bewegung des Herrn v. Amiel bezweckte ebenfalls einen Rückzug; aber mit schneller Besonnenheit trat er über die Schwelle hinaus und reichte seinem Gegenüber mit freundlichem Lächeln die Hand entgegen. "Ei, welch glücklicher Zufall, Herr v. Dießbach, wahrhaftig – Euch hofft’ ich nicht hier zu treffen."

"Ich muß das nämliche gestehen, Herr v. Amiel."

"Dafür darf ich vielleicht auf das Vergnügen Eurer Gesellschaft nach der Stadt zurück rechnen", erwiderte der Franzose; "wirklich, ich könnte mir nichts Angenehmeres wünschen."

"Ich möchte nicht stören, Herr v. Amiel; es schien mir, Ihr habet bereits Gesellschaft."

"St" – machte der Emigrant geheimnisvoll mit den Augen zwinkernd, "es ist nur der Diener und Bote eines Freundes, eines Schicksalsgefährten im Exile, der heute noch sein Nachtquartier im Schlosse Jegistorf nehmen wird; die Sache hat einige Eile. Komm nur, François", fuhr er ins Zimmer zurückgewendet fort, "es ist Zeit, daß du dich auf den Weg machst. Melde deinem Herrn die Versicherung meiner unabänderlichen Freundschaft und meine Hoffnung auf baldige glückliche Wendung unseres Loses, wenn sich die Canaille einmal die Stirne an den Schweizerfelsen einrennt."

Auf diese Worte, die mit warmen Tone gesprochen waren, trat ein Mann in mittleren Jahren heraus, der dem Junker mit bedientenhafter Höflichkeit eine Verbeugung machte und in gleicher Weise von dem Herrn v. Amiel Abschied nahm. Seine Kleidung war geeignet, die Angabe über seinen Stand vollkommen zu bewahrheiten und schien aus dem Nachlasse einer früheren Livree zu bestehen, die ein bäuerlicher Schneider umgewendet und teilweise nach ländlichem Schnitte umgemodelt haben mochte. Der anfängliche Argwohn des Junkers begann auch rasch zu verschwinden, als er auf das unbefangene Benehmen des Herrn v. Amiel und diesen Boten blickte, dessen Äußeres nur zu deutlich die verschämte Dürftigkeit seines verbannten Herrn kennzeichnete. "Halt, François, oder wie dein Name ist", rief er dem bereits an der Treppe Stehenden nach, "dein Weg ist noch weit, da – trink unterwegs ein Glas auf meine und deines Herrn Gesundheit!"

Der Bediente machte zuerst eine bescheiden ablehnende Bewegung, aber ein Wink des Herrn v. Amiel genügte zur Beschwichtigung seines Bedenkens, und er kam sogleich zurück, um das Dargebotene in Empfang zu nehmen. Der Junker dagegen blieb noch einen Augenblick nachdenklich stehen, als er in das nun vollbeleuchtete Gesicht des Mannes geblickt hatte; es war ihm, als müßt’ er die schwarzen Augen mit dem eigentümlich leuchtenden Aufschlage und diese schmal geschnittenen Lippen, um die es wie ein widerstrebendes stolzes Zucken spielte, schon irgend einmal gesehen haben; und noch als er mit Herrn v. Amiel bereits eine Strecke schweigend nach der Stadt hingegangen war, konnte er diesen Gedanken nicht los werden. "Wahr ist es", begann er endlich, "Ihr müßt das Geheimnisvolle außerordentlich lieben, Herr v. Amiel, daß Ihr die Boten Eurer Freunde da draußen empfangt; ich meine, Ihr dürftet dieselben ungescheut in der Stadt empfangen."

"Ah", machte der andere, "Ihr denkt nicht, zu wie manchem Schritte die Rücksicht auf das Ehrgefühl eines Leidensgefährten nötigt, der noch die volle Erinnerung seiner einstigen Stellung in sich trägt. Der Marquis würde es schmerzlich empfinden, wenn sein einziger dürftiger Diener mich etwa in einer standesgemäßen Gesellschaft hätte aufsuchen müssen."

"Nun freilich, und doch ist’s mir, ich sollte den Mann auch schon gesehen haben."

"Kann sein", erwiderte Herr v. Amiel zögernd, "der Marquis war vor einem Jahre einige Wochen in Bern; jetzt lebt er bei einem alten Freunde, der selbst nichts Überflüssiges hat, in der Nähe von Solothurn. Aber was ich Euch noch sagen wollte: morgen trete ich in Dienst; die erste Zwölfpfünder-Batterie wird einberufen, und da soll ich nach heutigem Beschlusse der hohen Kriegskommission den verloren gegangenen Hauptmann ersetzen."

"Ihr?" rief der Junker, überrascht stehen bleibend, "an die Stelle des Hauptmanns König? Unmöglich!"

"Warum denn unmöglich, Verehrtester", entgegnete der andere kalt, fast höhnisch; "hab’ ich doch schon an der Piece gedient, als der Maler kaum anfing, Farben zu reiben."

"Ja, ja, kann sein", sagte Herr v. Dießbach hastig, indem er das Gesicht abwandte, als müsse er die Röte des Unwillens in der Nacht verbergen; "ich meinte nur, es hätte noch mancher Berner Offizier diese Stelle ebenfalls gewünscht. Die Kompagnie ist vielleicht die beste im ganzen Auszuge."

"Die schlechteste würde ich mir auch verbeten haben." "Nun gut, schon recht", erwiderte der Junker; "ich wünsch’ Euch Glück dazu; doch sagt, habt Ihr über das Schicksal des armen Jungen noch nichts Näheres vernommen?"

"Darnach frag’ ich nicht und kümmere mich nicht darum", sagte Herr v. Amiel stolz; "mich ärgert’s nur, daß ich damals das Engagement ablehnen mußte und er so meiner Lektion entwischen konnte. Indessen – hier ist das Aarbergertor, und ich bin genötigt, Euch gute Nacht zu wünschen, ich habe noch dringende Geschäfte zu besorgen."

Der Junker trat verdrossen in die noch von mancherlei Geräusch belebte Stadtstraße ein. Der Ärger, den ihm die unerwartete Dienstberufung des Emigranten verursacht, während ihm selbst immer noch keine bestimmte Verwendung zugewiesen war, und das kurze, hochmütige Benehmen, mit dem der Franzose ihn verabschiedet hatte, riefen mit einem Male wieder den erdrückenden Gedanken und Vorstellungen, die ihn diesen Nachmittag gepeinigt hatten, und es stieg ein Gefühl tiefen Unmutes in ihm auf, daß er sich so schnell wieder unnützem Leichtsinne überlassen habe. Voll unruhigen, bangen Sinnes, der sein Gemüt wie eine Ahnung nahenden Unheils erfaßte, hatte er unwillkürlich die laute Straße verlassen und an der Reitschule in den einsamen Weg eingelenkt, der außerhalb der Häuserreihen, am Rande des hohen Aarraines, nach der untern Stadt hinabführt. Verwundert blieb er stehen, als sein Fuß an einen Stein stieß und er bemerkte, daß er an dem Rathause bereits vorübergeschritten und an jene dicht zusammengedrängte Häusergruppe gelangt war, in welcher die abgeschiedene Lage und die Armut der Bewohner mancherlei Heimlichkeit Vorschub leistete. Sei es ein vorbedeutendes Zeichen, sagte der Junker vor sich hin – ich will annehmen, der Stein habe auf mich warten müssen; und nach flüchtigem Umblicken durch die hie und da von einem herausfallenden Lichtscheine etwas erhellte Dunkelheit trat er an ein niedriges Hinterpförtchen heran. Auf ein leises Pochen, dem ein gedämpfter Pfiff folgte, kamen schlurfende Tritte gegangen, und nach leiser Frage und Antwort wurde rasch aufgetan. "Gütiger Himmel, seid Ihr es, gnädiger Herr", wisperte eine alte Frau, die dürre Hand über das Lämpchen haltend; "ach, ich habe Euch den ganzen Tag suchen lassen und nirgends finden können."

"Nun, was hat’s denn so Dringendes gegeben?" fragte der Junker nicht ohne einen Anflug des Schreckens; "das Kind ist ja gut aufgehoben, und Mädeli wird hoffentlich wohl sein!"

"O gnädige Allmacht – ja, jetzt ist es wohl; aber heute hatte es einen jammervollen, schweren Tag durchzukämpfen."

"Laß sehen", erwiderte der Junker, von dem geheimnisvollen Tone der Alten noch mehr erschreckt, eine kleine Treppe hinansteigend; "ist’s etwas Gefährliches, so mußt du gleich einen Arzt holen."

"Nein, wartet", jammerte das Weib, "geht nicht gleich hinein, ich muß Euch noch etwas sagen vorher, Ihr wißt noch nicht alles – laßt die Türe, ich bitt’ Euch, Junker!"

Ohne Antwort zu geben, trat er in ein kleines, matt erhelltes Stübchen und schritt rasch zu einem Bette, das in der Ecke stand; aber mit einem lauten Schrei des Entsetzens prallte er zurück, als er auf demselben eine Leiche sah, die, schon in ein langes, weißes Totenhemd eingehüllt, da lag.

"O himmlische Barmherzigkeit", stöhnte die nachkommende Alte, als sie den Junker mit verhülltem Gesichte an der Wand lehnen sah, "das arme Mädeli hat bis zum letzten Augenblicke jammervoll nach Euch gerufen; aber jetzt hat’s überwunden, schon mehr als zwei Stunden. Mit dem Tage ist es dahingegangen."


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