Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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XI

"Ah, zum Teufel", machte der Judenbube aufatmend, als er den ersten Riegel des Pförtchens, das aus dem Gange in den leer stehenden Wurstembergerturm hinaufführte, vorgeschoben, "diesmal hat’s mächtig pressiert; da hättest du deine werte Nase tüchtig anrennen können, braver Jakob, wenn dich die hirnwütigen Bursche in dem Loche drunten erwischt haben würden. Was der Esel von Kratzer gedacht hat, mir die ganze Meute so bald auf die Ferse zu schicken! Aber holla... jetzt ist’s auch Zeit, die Blindschleichen und Maulwürfe drunten wieder an Schatten zu bringen, das Licht könnt’ ihnen sonst die Augen angreifen." Mit diesen Worten faßte er grinsend einen schweren Eisenring, der neben dem Pförtchen herabhing, und über ihm bewegte sich eine Steinplatte in der Turmmauer, um sich knapp eingefügt auf ein eisernes Gitterwerk zu legen, das bisher dort wie eine kleine verwahrte Fensteröffnung sichtbar gewesen war. "So, jetzt können die in der Unterwelt ihre Kreuzer und Heller zählen", sagte der Judenbube mit Daumen und Mittelfinger schnalzend, indem er langsam die schmale Steintreppe hinaufstieg; "aber was fang’ ich nun mit meiner ehrenwerten Person selbst an? Die Geschichte ist mir doch verdammt in die Glieder gefahren; wenn ich nur den sauer verdienten Lohn hätt’ dafür!"

Er setzte sich an eine Schießscharte, um begierig die frisch hereinströmende Luft einzuatmen. Tief unten, dem jäh abschießenden Borde entlang, auf dessen oberem Rande der Turm steht, wälzte die Aare ihre trübe Winterflut, und über das Hochfeld des Wyler zog ein graues Schnee- und Regengestöber heran.

Er öffnete, nachdem er noch vorsichtig nach allen Seiten durch die Schießscharten ausgeguckt, eine kleine Türe, die auf eine verdeckte Galerie an der innern Seite der Stadtmauer führte. "Durch die Stadt gehst du nicht", sagte er, sich hier abermals einen Augenblick besinnend; "der Teufel könnt’ dir den Unrechten in den Weg führen... besser ein kleines Stück um." Er schritt eine enge dunkle Holztreppe hinab, die in einen schmalen Fußpfad auslief, der hart an der innern Seite der Mauer, von mancherlei Gestrüpp gedeckt, über den Rain zur Aare hinableitete.

Hier glaubte er in dieser Jahreszeit vor jeder Begegnung sicher sein zu können; doch kaum hatte er die Hälfte des Abhanges zurückgelegt, als ihm langsam, mit gesenktem Kopfe und die Hände auf dem Rücken übereinandergelegt, der Junker v. Dießbach entgegenkam. "Was zum Kuckuck der hier herum treiben mag", murmelte Jakob vor sich hin; dann aber sagte er laut: "Ich grüße den gnädigen Herrn auf unerwartetem Wege, wahrscheinlich spürt Ihr nach einem Marder oder gar nach einem Fuchse, der sich in die Mauerlöcher verkrochen haben könnte."

Der Junker sah erschrocken auf, blickte scheu nach beiden Seiten um, als suche er einen Ausweg; dann erwiderte er, mit der Rechten über das bleiche Gesicht streifend: "Ich weiß gar nicht, wie ich da herauf geraten bin; ich wollte der Aare nach über die Altenbergerbrücke."

"Da müßt Ihr ja hart dran vorbeigegangen sein", entgegnete der Judenbub mit seinem gewohnten lauernden Schielen; "aber sagt, habt Ihr den Herrn v. Amiel die letzte Stunde nicht gesehen?"

"Nein", sagte der Junker, kurz sich umwendend.

"Und Ihr wißt auch nicht, was droben in der Kaserne vorgefallen ist und wie es beim Marterturme geht?"

"Was sollte da vorgehen!"

"Nun, beim großen Christoffel", rief der Judenbube, "wenn Rebellion und Meuterei ausbrechen, dürfte sich der Sohn eines Standeshauptes schon etwas mehr darum kümmern!"

"Weißt du etwas, so bericht’ es mir", entgegnete der Junker unmutig, "oder geh deiner Wege und laß mich in Ruhe!"

Der rote Jakob wußte, wie und was er zu erzählen hatte, um einen aufmerksamen Hörer zu finden. Schon als er von der äußern Veranlassung zu den spätern Auftritten, von dem Leichenbegängnisse der Mädeli Messer berichtete, lehnte sich der Junker an einen jungen Buchenstamm zurück und sagte leise mit tonloser Stimme: ’’Ich weiß es wohl; es schreit um Rache und wird sie haben."

"Was sagt Ihr, gnädiger Herr?"

"Nichts, nichts für dich; fahr’ nur weiter!"

"Der Maler König war also wirklich die ganze Zeit über im Marterturme", unterbrach der Junker nach einer Weile den Erzähler, indem eine leichte Röte über sein Gesicht glitt; "und du sahst ihn öfter?"

"Nur wenn ich ihn nachts ins Verhör zu führen hatte", erwiderte der Judenbube; "einmal hat er auch nach Euch gefragt und ob Ihr wohl wüßtet, wo er wäre; aber natürlich, unsereins hat keine solchen Aufträge auszurichten. Eines hingegen muß man ihm lassen, dem König – ein flinker Gesell ist er und schade um ihn, daß er ein solch verteufelter Duckmäuser geworden. Maske und Handschelle ließ er sich vorhin ruhig anlegen, weil er meinte, es gehe nochmals ins Verhör oder er habe seine Reise nach der Festung Aarburg anzutreten; gleichwohl hat er mich da drunten zu Boden geworfen. Ich hatte ihn schon auf die Achsel geladen, um ihn in den Wurstemberger hinaufzutragen und seinen Herren Kanonieren dann fröhliche Rückreise nach dem Marterturm zu wünschen; aber trotz der gefesselten Hände schnellte er wie ein Aal mit einem solch verfluchten Rucke auf, daß es mir durch alle Glieder wirbelte, die ich, Gott sei Dank, mit Angst und Not noch salvieren konnte. Aber jetzt, Junker, muß ich schnell ins Rathaus hinübergehen, um den gnädigen Herren meinen Bericht abzustatten", schloß der Judenbube; "besser ist’s auch, Ihr selber laßt Euch bei dem Handel nicht zu nahe heran, bis Ihr etwas mehr wisset, wie es geht. Der Henker weiß, ob nicht auch Euch eins geladen ist!"

Trotz dieser Warnung setzte der Junker seinen Weg nach dem Wurstembergerturme aufwärts fort und öffnete, auf der Höhe angelangt, ein Mauerpförtchen, das auf einem schmalen Pfade zum Aarbergertore hinübergelangen ließ. "Jetzt sei ein Mann", sagte er vor sich hin, "vielleicht ist’s das einzige Wackere, das du in dieser Welt noch tun kannst. In dieser Welt?" fuhr er nach einem Augenblicke fort, indem er stehen blieb und sinnend die Hand über die Stirne legte, "aber woher eigentlich dieser einfältige Gedanke, daß es mit mir zu Ende gehe? Warum sollt’ ich denn seit zwei Tagen dem Tode um mehr als eben zwei Tage näher gerückt sein? Was hat es mit meinem Leben oder Sterben zu schaffen, wenn ein anderes, mir fremdes Leben zufällig dahingeht? Oder hast du sonst noch keine Leiche gesehen, närrischer Kauz? Und doch geht’s mit dir zur Neige, Junker v. Dießbach", rief der junge Mann nach einer Weile laut, indem er wieder zu gehen anfing, "ich ahne es, ich spür’ es in allen Gliedern – die Tote hat mir’s angetan."

Als er raschen Schrittes am Aarbergertore vorbei außerhalb der Mauer gegen den Christoffelturm hingelangte, sah er den ganzen weiten Platz bei den Werkhütten mit einer fest ineinander gekeilten Menschenmenge bedeckt. An ein Durchdrängen zum Marterturme war nicht zu denken, und ebensowenig konnte gesehen werden, was in dessen Nähe vorging. "Was gibt es da?" fragte der Junker den Nächststehenden, "sind die Kanoniere noch immer im Turme droben?" "Ja, freilich", erwiderte der Mann, "vorhin wurde geschossen, und es hieß, sie hätten den Oberst Stettler und den Herrn von Holligen erschossen; es war aber nicht so. Der Oberst Stettler ist in vollem Galopp die Stadt hinuntergesprengt, man sagt, um vom Wyler herein Militär zu holen."

Mit fast ängstlicher Unruhe überschaute der Junker die Menge, ob sich nirgends eine Möglichkeit zeige, durchzubrechen und zum Turme hinüberzugelangen. Dabei kam es ihm vor, als sähe er bereits da und dort ein Gesicht, das drohend und feindselig nach ihm umblicke. Die meisten dieser Gesichter waren ihm bekannt und erinnerlich; aber bei einem mußte er unwillkürlich die Augen niederschlagen und sich besinnen, wo er dasselbe schon gesehen habe. Dieser ganz eigentümliche Blick des großen dunkeln Auges hatte ihn gewiß schon einmal beschäftigt und an Vergangenes gemahnt, ohne daß er sich auch jetzt erinnern konnte, wo und wie er mit dem Menschen in dem groben Fuhrmannskittel in Berührung gekommen; aber als er nach kurzem Besinnen wieder aufschaute, um das Gesicht noch einmal zu fixieren und an irgend einem Zuge eine nachhelfende Stütze für das Gedächtnis zu finden, war es spurlos verschwunden.

"Da ist im Augenblick nichts für dich zu machen", sagte Herr v. Dießbach halblaut, indem er sich abwendete und den Rückweg nach dem Christoffelturm einschlug; "am besten ist’s doch, du gehst gerade zu ihm. Er ist dein Pate und hat dir stets ein schöneres Vertrauen geschenkt als der eigene Vater." Auffallend kam es ihm vor, wie still die Stadt war, in der Spitalgasse ließ sich kein Mensch auf der Straße oder in den Lauben erblicken, und selbst am Tore war keine Wache vorhanden. "Am Ende hatte der Judenbube mit seiner Warnung recht", dachte der Junker, unwillkürlich einen raschern Schritt einschlagend, "es ist nicht geheuerlich und so etwas in der Luft, was ich früher auf den Pariser Boulevards eingeatmet habe." Unter dem Torbogen des Käfigturmes stand jedoch wieder die gewohnte Wache, und die Marktgasse, in die er nun eintrat, schien von dem ganzen Vorgange vor den Mauern gar nichts zu wissen, die Leute gingen ruhig ihrer Wege, und unter den Seitenbogen der Lauben zeigte sich nicht einmal eine Gruppe, die Ungewöhnliches verhandelt hätte. Dem Junker würde diese ungestörte Alltagsgeschäftigkeit bald unheimlicher vorgekommen sein als die ungewohnte Stille in der Spitalgasse, wenn nicht mit einem Male eine frische Bewegung entstanden wäre, die ein neugieriges Hin- und Herrennen und Fragen veranlaßte. Vom Zeitglockenturme her kam nämlich im Laufschritte eine Abteilung Grenadiere mit aufgepflanztem Bajonette und einer beträchtlichen Zahl Sappeurs an der Spitze. Der Junker begriff schnell genug, was das zu bedeuten habe, war aber hocherfreut, in dem die Truppe befehligenden Offizier einen Kameraden zu erkennen. Er lief ihm auf der Straße entgegen und rief ihn schon auf ein paar Schritte Entfernung an: "Nicht wahr, Kapitän, du hast Ordre, um jeden Preis den Marterturm zu erobern... wahrhaftig eine schöne Gelegenheit, sich auszuzeichnen."

"Ei ja, zum Kuckuck", entgegnete der Offizier, nachdem er seinen Grenadieren ein kurzes Halt zugerufen; "aber gescheiter, du sagst mir, was an dem Spektakel eigentlich ist, statt mich zu necken. Kommt der alte Stettler schweißtriefend auf den Wyler geritten und schreit, die ganze Stadt sei in Aufruhr und Meuterei, daß ich ohne langes Besinnen mit meinen zwei Kompagnien den Stalden herabgerannt bin und glücklicherweise noch die Zimmerleute erhaschen konnte; mais diable, ich sehe keinen Anfang zu Barrikaden, kein aufgerissenes Straßenpflaster, keine geschlossenen Türen und geöffneten Kellerlöcher, wie wir’s seinerzeit zusammen in Paris erlebt, so daß ich mich, parole d’honneur, eigentlich meines Eifers schäme. Was ist denn an der Geschichte?"

"Ganz genau kann ich dies selbst nicht sagen", erwiderte der Junker; "ich weiß nur, daß die Artilleriekompagnie König in den Marterturm eingebrochen ist, um ihren ehemaligen Hauptmann dort aufzusuchen. Jedenfalls rat’ ich dir, nicht allzu hitzig vorzugehen, und bitte dich freundlich, unnötigerweise keine Gewalt anzuwenden, bis du weitere Ordre empfängst. Ich gehe augenblicklich zum Schultheißen und will dir baldigst Bericht bringen.

"Ah, ah", machte der Kapitän, "so ist also doch etwas Wahres an der Geheimmunkelei von dem König; nun, parole d’honneur, die Burschen gefallen mir, wenn die Geschichte auch verdammt undisziplinarisch aussieht. Ein paar werden schon füsiliert werden müssen."

"Wie ich dir sage, Genaueres über Veranlassung und Verlauf des Vorganges weiß ich noch nicht", entgegnete der Junker; "aber erfülle meinen Wunsch, in einer Viertelstunde bin ich wieder bei dir, droben am Marterturm."

"Au revoir", sagte der Kapitän, "ich mag meine Grenadiere gerne zu Besserem aufsparen als zu einem Marterturmsturme. Komm bald zurück!"

Der Junker eilte schnell durch die Metzgergasse hinab dem Rathause zu; von der vorderen Straße her ertönten die Trommeln und Pfeifen eines einrückenden Bataillons, das ohne Zweifel ebenfalls von dem eifrigen Obersten Stettler eiligst nach dem Marterturme geführt wurde. Der Junker verdoppelte seine Schritte und sprang schon in raschen Sätzen die Rathaustreppe hinan, als ihm von oben der Judenbube entgegenkam. "Hu, hu", machte dieser, "was wollt Ihr in dem Hause, gnädiger Herr? da weiß ja der Teufel nicht mehr, wer Koch oder Kellner ist, und was der eine will, das will der andere just expreß nicht. Saubere Wirtschaft das!"

"Ist der Schultheiß da?" fragte der Junker hastig, "und weiß er schon von der Geschichte?"

"Eben fehlt der, man will ihn holen lassen."

Der Junker wandte sich und eilte die Treppe wieder hinunter, während ihm der Judenbube noch nachrief, ob er Herrn v. Amiel nicht gesehen habe oder nichts von ihm wisse. Da, mit einem Male, als der Name genannte wurde, stand plötzlich klar vor seiner Erinnerung, was er vorhin vergeblich gesucht hatte. Der Fuhrmann, den er droben am Marterturm in der Menge bemerkt und der ihm so schnell wieder aus den Augen entschwunden, war kein anderer als der fremde Bediente, den er vorgestern abend im Wirtshause draußen am Walde bei Herr v. Amiel gesehen, und dieser Bediente war der nämliche – es fuhr wie ein blendender Blitzstrahl durch die Seele des Junkers – den er in Aarau als Sekretär des französischen Geschäftsträgers Mengaud gesehen hatte.

Er eilte raschen Schrittes über die Kreuzgasse in die Gerechtigkeitsgasse und fragte dort an der Türe eines stattlichen Hauses den gravitätisch auf und ab gehenden Bedienten, ob Seine Gnaden der Schultheiß zu Hause seien. Auf die bejahende Antwort schritt er ohne weiteres in den Flur hinein.

Nach kaum zehn Minuten kam der Junker an der Seite eines stattlichen Mannes in schwarzer Ratsherrentracht zurück. Er schritt raschen Ganges an seiner Seite die Stadt hinauf dem Christoffelturme zu, und alle Begegnenden blieben ehrfurchtsvoll stehen, um mit entblößten Häuptern dem hohen Greise nachzuschauen. Vor dem Marterturme war die Menge zurückgedrängt, und in weitem Bogen schloß sich ein Kordon von Bajonetten um denselben her. Sobald der Junker mit seinem Begleiter vom Christoffeltore her auf den Platz einlenkte, präsentierten die Truppen, auf einen Wink öffneten sich die geschlossenen Reihen, und die beiden Ankömmlinge schritten unbehindert dem von Kanonieren besetzten Tore des Turmes entgegen.


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