Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XXXVIII. Kapitel.

Ein schier unglaublicher und doch wahrer Bericht von den Taten der Herren Bendemann und Ludwig Semper.

Um diese Zeit hätte aber Ludwig Semper beinah' noch einen andern Beruf ergriffen. Es hieß, daß an einer der Oldensunder Schulen die Stelle eines Schuldieners frei geworden sei.

»Geh' doch mal hin!« sagte Rebekka.

»Ach, wozu soll ich dahin gehen!« sagte Ludwig. Er ging aber doch hin; denn die Not hatte ihn unternehmend gemacht. Er erhielt auch die Versicherung, daß »sein Name vorgemerkt sei«, und dann wurde ein Schuhmacher angestellt, der alle Sonntage in die Kirche gegangen war und alles glaubte, was man von ihm verlangte. So wurde auch das Mißverhältnis vermieden, daß der Schuldiener gebildeter war als der Schuldirektor. Dann wollte Ludwig Bote bei einer Krankenkasse werden. Aber da wollten sie einen jungen, kräftigen Mann haben, der all die Treppen zu den kleinen Leuten hinaufsteigen konnte, und eine Treppe war für Ludwig schon so viel wie für andere Leute der Blocksberg. Und dann endlich bekam er wieder Arbeit als Cigarrenmacher, vierzehn Tage vor Asmussens Konfirmation bekam er gute Arbeit, so gute, daß Rebekka ihrem Sohne einen Hut zu zwei Mark und beim Trödler einen schwarzen Gehrock zu vier Mark kaufen konnte. Ihr war sehr feierlich dabei, und sie, die konsequente Pfaffenfeindin und Kirchenhasserin ging mit ihrem Sohne zur Konfirmation, zur Beichte und zum Abendmahl und war ganz still vor Feierlichkeit und weinte vor Frömmigkeit. Asmus aber, als der Prediger den Kindern das Bekenntnis abforderte und sie im Chor sprechen sollten: »Ja, ja, wir glauben es« – Asmus schwieg. Er wußte sehr wohl, daß dies Schweigen keine Bedeutung habe, daß seine Teilnahme an dieser Zeremonie schon ein Bekenntnis sei; aber an diesem ernsten Tage und an diesem erhabenen Orte war ihm so feierlich ums Herz, daß er keine Lüge über die Lippen brachte. Ja, sein Herz schlug den ganzen Tag über gedämpft vor Feierlichkeit; er mußte immer wieder denken, daß er an einer großen Wende seines Lebens stehe, daß sich nun sein Schicksal für immer entscheiden werde, und dazwischen langte er immer wieder hinten in die Rocktasche; denn es erfüllte ihn mit Stolz und Freude, daß er nun sein Schnupftuch hinten aus der Rocktasche zog wie sein Vater und die ganz großen Erwachsenen alle.

Aber aus der Wahl eines Berufes wurde immer noch nichts. Ludwig Semper verschob die Entscheidung von Woche zu Woche, und Asmus saß nun statt der halben Tage ganze Tage beim Tabak, richtete zu, machte »Wickel« und fing an, das Cigarrenmachen zu lernen. Nur an einigen Tagen ging Asmus noch zur Schule. Der alte Herr Rösing hatte nämlich »den ehrenvollen Ruf« an ihn ergehen lassen, die alten, zerrissenen und beschmutzten Schreibvorlagen durch neue zu ersetzen, und Asmus widmete sich diesem Geschäft mit frohem Eifer; es war doch etwas anderes als Tabakstreifen. Herr Rösing schaute ihm wohlgefällig zu und war stolz darauf, diesen Schüler auf die höchste Höhe der Bildung erhoben zu haben; denn er konnte sogar gotische und lateinische Ueberschriften malen, mit Schraffierungen und Schnörkeln. Und eines Tages schrieb Asmus die folgenden Verse ab:

»Wenn alles eben käme,
Wie du gewollt es hast,
Und Gott dir gar nichts nähme
Und gäb' dir keine Last,
Wie war's da um dein Sterben,
Du Menschenkind, bestellt?
Du müßtest fast verderben,
So lieb wär' dir die Welt.

Nun fällt, eins nach dem andern,
Manch' süßes Band dir ab,
Und heiter kannst du wandern
Gen Himmel durch das Grab,
Dein Zagen ist gebrochen,
Und deine Seele hofft. –
Dies ward schon oft gesprochen;
Doch spricht man's nie zu oft.«

Ach ja, dachte Asmus, es ist ganz gut, wenn es einem nicht so gut geht. Dann kann man leichter sterben. Da sah er plötzlich etwas Langes neben sich stehen, und als er aufblickte, war es Herr Bendemann. Der sah mit seinen geraden, niemals abirrenden Augen auf die Schrift des Asmus Semper. Und dann sprach er:

»Willst du denn nicht wenigstens deine schöne Handschrift verwerten?«

Da war es Asmus, als ob ein anderer aus ihm spräche, ein stärkerer Wille in ihm nahm über seinen Kopf hinweg das Wort und sagte:

»Ich möcht wohl gern Lehrer werden« – und als Asmus hörte, was der andere in ihm sprach, da erschrak er und fügte schnell hinzu: »aber das können meine Eltern nicht.«

Da sagte Herr Bendemann die folgenden Worte: » Sprich doch einmal mit deinen Eltern. Ich will dich wohl umsonst unterrichten.«

In diesem Augenblick sah der grau gekleidete Herr Bendemann mit dem überhängenden roten Schnurrbart aus wie der lichte Erzengel Gabriel, und Asmus stotterte:

»Ja – ja – ich will – danke – danke – ich will noch mal mit meinen Eltern sprechen – danke –«

Wenn Herr Rösing gesehen hätte, was Asmus in der folgenden Stunde schrieb, so würde er wohl an der Vollkommenheit seines Schülers ernstlich irre geworden sein. Das sah wunderlich aus und ging in Wellenlinien auf und ab; denn die Augen des Schreibers waren immer anderswo als die Feder, und seine Hände liefen über den Rand des Blattes hinaus und wollten durchaus nach Hause. Wenn die Uhr nur erst zwölf war – dann wollte er nach Hause laufen, nein springen, nein fliegen – aber als es so weit war, da ging er ganz langsam. Seine ganze Armut legte sich ihm breit und wuchtig aufs Herz. Seine Eltern konnten's ja doch nicht! Viele Jahre mußte er dann studieren, und nichts würde er in dieser Zeit verdienen – nachher freilich, als Lehrer, dann bekam er ein riesiges Gehalt, dann hatte alle Not seines Hauses ein Ende; aber bis dahin – nein, sie taten's doch nicht.

Und doch flog und flackerte sein Herz, als er in der Küche zu seiner Mutter sagte:

»Herr Bendemann will mich umsonst unterrichten, wenn ich Lehrer werden will.«

»Ach, Junge«, sagte Rebekka, »wie kannst du Lehrer werden! Wir können ja schon so nicht vor Sorgen in Schlaf kommen. Deine Brüder sind auch keine Lehrer geworden!«

Aber ein interessantes Ereignis war es doch, und sie ging mit ihrem Sohn in die Wohnstube, wo Ludwig Semper mit aufgestützten Armen und keuchend am Tische stand.

Und sie berichtete, was Herr Bendemann gesagt hatte.

Da kam in Ludwig Sempers trübe Augen ein Licht aus frühen, frühen Tagen langsam zurück, immer näher kam es, immer näher, und seine Augen wurden immer größer und immer heller und verbreiteten ihr Licht über seine Stirn und seinen Mund und sein silbernes Haar, und sieh, er lächelte, und er stützte sich nicht mehr, sondern stand frei und aufgereckt da und ergriff noch einmal das Fahrzeug seines Lebens am Steuer, ergriff es mit lächelndem, blind wagendem Griff und legte die Hand auf den Kopf seines Sohnes, wie damals im »Holstenloch«, als er der Erste in der Klasse geworden war, und sagte:

»Gut, du sollst Lehrer werden.«

Nur ganz leise und ganz schüchtern fragte Rebekka:

»Aber, wie willst du das möglich machen?«

»Laß nur«, sagte Ludwig, »es wird wohl gehen.«

Er rechnete nicht, er fragte nicht einmal nach den Kosten; er konnte nicht sorgen für den kommenden Tag; aber mit erhabenem Leichtsinn etwas Großes und Gutes tun – das konnte er.

In Asmussens Familie und Asmussens Heimat küßten Eltern und Kinder sich nur, so lange die Kinder noch klein waren. So große Kinder wie Asmus küßten ihre Eltern nicht mehr, besonders Knaben nicht, und besonders nicht den Vater. Man schämte sich dessen. O wie gern wäre Asmus mit einem wilden Sprunge seinem Vater an den Hals geflogen und hätte ihm Mund und Wange und Stirn und Haar und Bart mit Küssen bedeckt. O, diese dumme, alberne, abscheuliche Scham! Und so stand er nun da und wandt' und drehte sich und rang und zerkniff die Hände und sagte endlich mit brennenden Augen und zuckendem Munde:

»Ich – will mir auch schrecklich Mühe geben – –« und dann konnte er keinen Ton mehr hervorbringen, und dann lief er hinaus. – –


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