Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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VIII. Kapitel.

Von drei Spielkameraden des kleinen Asmus und noch einem und von schlechten Menschen, die nicht borgen wollen.

Aber die Herrschaft des krummbeinigen Zwerges mit den knallroten Rundbacken ging zu Ende, und Frühling, der entzauberte Königsjunge, sprang draußen über Hecken und Gräben, die Schuhe in der Hand. An jedes Fenster drückte er das Näschen, schützte die Augen seitwärts mit den Händen, schaute wie ein dreister Schlingel hinein und hüpfte laut lachend zum nächsten. Asmus sprang die Treppen hinunter ihm nach. Die beiden musterten sich eine Zeitlang aus der Entfernung, wie zwei Jungen, die noch nicht wissen, ob sie miteinander spielen oder raufen möchten, und von denen keiner dem andern das erste Wort geben will. Aber der Frühling hatte einen Vogel in der Hand, und das überwand alle Scheu. »Was ist das?« fragte Asmus. Der Königsjunge warf den Vogel in die Luft – der flog über die Wiese und schrie: »Driiip – driiip.« »Das ist eine Sprehe«, sagte der Frühling, und so kamen sie in ein Gespräch und ins Spiel. Mit Wiebke Wiese spielte Asmus nur selten; sie wollte immer mit Puppen spielen, und für Mädchenpuppen hatte Asmus nun gar nichts übrig. Er ließ sich nie herab, eine Mädchenpuppe auch nur anzufassen. Sein Bruder Alfred mußte zur Schule gehen, und nach der Schule mußte er Tabak streifen, und wenn er doch einmal zum Spielen herunterkam, dann huldigte er vorwiegend dem nervenaufregenden Sport der Ratten- und Mäusejagd. Das Fangen und Töten der Tiere fand zwar Asmus auch famos; aber wenn er den kahlen Schwanz der Tiere sah, dann lief ihm ein Schauder vom Wirbel her den ganzen Rücken hinunter, und angefaßt hätte er solch einen Schwanz nicht um tausend Aepfel oder um tausend Bonbons. Oder Alfred wollte Marmel spielen und tüchtig dabei gewinnen. Und Asmus verlor immer – immer, immer, immer. Und Alfred, der schlechte Kerl, wollte ihm die verlorenen Marmel nicht wiedergeben. So spielte er denn auf den weiten Wiesen fast nur mit dem Königssohne.

Sie nahmen die hohlen Stengel des Löwenzahns, kerbten sie an den Enden ein und warfen sie ins Wasser, und nach fünf Minuten fischten sie herrliche Kandelaber, gelockte Säulen und Marschallstäbe heraus. Der Frühling sagte: Wenn man sie auch in der Mitte einkerbt, werden sie noch bunter, – Asmus versucht' es, und sie wurden wirklich noch bunter. Und als der Löwenzahn Früchte trug, blies Asmus dem Frühling die Pappushaare ins Gesicht; aber der, nicht faul, pustete zurück, daß die Haare dem Asmus auf den Kittel und ins Gesicht flogen. »Jetzt will ich sehen, wie lange ich lebe«, sagte Asmus; er blies auf die Haarkrone einer neuen Blume und blies nur wenige Fäden herunter. Dann pustete ihm der Frühling über die Schulter, und alle Härchen flogen davon. Der hatte den längeren Atem. »Jetzt wollen wir einmal ganz, ganz dorthin laufen, wo es am Himmel so schön blau ist!« rief der Frühling, und Asmus lief mit. Als er sich aber nach mehreren hundert Schritten umwandte, da war sein Elternhaus viel kleiner geworden. »Ich mag nicht mehr!« sagte er schnaufend. »Ach was«, rief der kleine König, »komm' doch weiter! Sieh' mal, wie blau, und mit weißen Streifen dazwischen; es wird immer heller!« – »Nein«, sagte Asmus, »wir verlaufen uns.« – »Haha! Verlaufen!« höhnte der Königsbengel, »du Bangbüx!« Asmus ärgerte sich, daß er »Bangbüx« sagte – er hörte es ganz deutlich, das Wort »Bangbüx« – aber er kehrte doch um. Ein andermal pflückten sie Pilze. »Die sind giftig«, sagte der Königssohn. »Nein«, sagte Asmus, »das sind Champignons, die essen die reichen Leute, hat mein Vater gesagt.« – »Das sind aber keine Champignons!« – »Das sind doch Champignons!« – »Das sind nicht Champignons!« – »Das sind doch Champignons!« und Asmus wollte hineinbeißen – er ließ es aber doch lieber bleiben.

Und so trieben sie sich Tag für Tag herum, und Asmus merkte gar nicht, daß er ein immer größerer und auch dickerer Träumer wurde und daß aus dem Königssohn ein schöner, herrlicher Mann geworden war, der Sommer hieß und goldglühende Augen hatte, der ihn in seinen heißen Arm nahm und duftende Büsche über ihn bog, wenn er im Grase entschlummert war, und der, wenn er wieder erwacht war, nach dem Licht und den Wolken des Himmels zeigte und sagte: »Sieh einmal! Da ist es gerade, wie eines Nachmittags in deiner früheren Wohnung!« oder »Sieh einmal, dort hinter dem Hügel, da schwebt das Lied aus dem »Fidelio«:

»Komm Hoffnung, laß den letzten Stern,
Den letzten Stern der Müden nicht erbleichen.«

und sieh' da – er ließ ihn durch eine kleine, kleine Oeffnung der Hecke nach einem fernen Baume blicken – »sieh da, da ist es, wie es vor langer Zeit einmal war, als deine Mutter dich auf dem Arme wiegte und du gegen die Decke des Zimmers blicktest.«

Und Asmus träumte und spielte und merkte gar nicht, wie aus dem jungen, sonnenhellen Manne ein älterer Mann wurde mit breitem, braunem Bart, in einer Försterjoppe und mit Vogelfedern am Hut. Der führte ihn zu den Bäumen am östlichen Wiesenrand und schüttelte sie, und es prasselten grüne Bälle herunter, die zerplatzten beim Aufschlagen, und es schauten aus weißen Lidern feuchtfunkelnde, tiefbraune Augen hervor. Das waren Kastanien, und Asmus konnte nicht aufhören, aus den weißen Höhlen der grünen Früchte die glühend braunen Kerne hervorzuholen, die sich – ach – sobald sie ans Licht der Welt kamen, mit einem trüben Tau überzogen und dann trotz allen Reibens nie wieder so blank und schön wurden, wie sie im allerersten Augenblick gewesen. Und Herbst, der freundliche Oheim, lehrte ihn, die Kastanien auf eine Schnur zu reihen und sie um den Hals zu hängen wie einen Königsschmuck. Und führte ihn eines Morgens gar unter einen Eichbaum und zeigte ihm die Kelchnäpfchen der Eicheln, die mit ihren Stielchen zusammen aussahen wie richtige Tabakspfeifchen.

»Steck' mal eine in den Mund«, sagte der Herbst.

Asmus tat es.

»Siehst du? Genau wie eine Pfeife!«

Asmus empfand einen tiefen Stolz; er fühlte sich zum Manne gereift.

»Weißt du was?« sagte er, »mein Vater hat 'ne ganze Menge Cigarren; ich will mal 'ne Cigarre rauchen.«

»Das tu nur«, sagte der Herbst, »das macht Spaß.«

Am andern Morgen spazierte Asmus vor dem Hause auf und ab, eine Cigarre bald zwischen den Zähnen wälzend, bald zwischen den Fingern drehend und ihren Brand mit Kennermiene prüfend. Sie brannte aber gar nicht; denn er hatte sie gar nicht angezündet. Es kam ihm nicht auf das Rauchen an; er wollte nur einmal so tun; es war ein reiner Darstellungsgenuß. Es dauerte nicht lange, so tat sich oben ein Fenster auf und die Nachbarin schaute heraus. Asmus legte die Hand mit der Cigarre auf den Rücken; er hatte das dunkle Gefühl, daß dies das Richtigere wäre.

»Na, Asmus, gehst du spazieren?« fragte die Nachbarin.

»Ja. Das Wetter ist so schön.«

»Fühlst du dich denn ganz wohl?«

»Ja. Mir fehlt nichts.«

»So.« Die Frau lächelte in einer ganz merkwürdigen Weise. Und es dauerte wieder nicht lange, so erschienen an einem andern Fenster Asmussens Eltern. Asmus konnte ja nicht wissen, daß die Nachbarin zu seiner Mutter geeilt war und gerufen hatte: »Ach, Frau Semper, kommen Sie doch schnell mal ans Fenster und sehen sich ihren Asmus an; es ist zum Totlachen: er spaziert unten auf und ab genau wie sein Vater und raucht!« Auch die Eltern begannen mit Asmussen ein ganz harmloses Geplauder über Sonnenschein und Wetter; aber er behielt die Hand auf dem Rücken; er hielt es für besser so. Erst als die drei von den Fenstern verschwunden waren, nahm er seinen Spaziergang und den Genuß der Morgencigarre wieder auf, von Zeit zu Zeit die duftende Rolle an die Nase führend oder sich den nicht vorhandenen Rauch mit der Linken zufächelnd wie ein raffinierter Qualitätenraucher und beeidigter Importenprüfer. Sein unverdorbenes Gemüt konnte ja nicht ahnen, daß die droben hinter den Vorhängen standen und sich köstlich amüsierten. – –

Als nun der braune Bart des Herbstes immer mehr weiße Fäden bekam und seine Augen so klar blau und durchsichtig wurden wie Eis, da floh Asmus vor ihm ins Haus. Die Schönheit und Güte des Winters verstand er noch nicht. Es fehlte ihm auch zum rechten Verständnis an festen Schuhen, dicken Strümpfen und einem starken Winterrock. Stiefel und Winterüberzieher sind eine teure Mode, und man hatte gerade genug zu tun, so viele Semper leidlich einzuhüllen, als hin und wieder unbedingt in die Winterkälte hinaus mußten. Zudem ging in diesem Winter im Semperschen Hause eine merkwürdige Veränderung vor. Der Vater und die Brüder waren fast den ganzen Tag außer dem Hause; sie kamen gewöhnlich nur am Mittag und am Abend heim. Es gab keinen Tabak mehr im Hause; die Stube blieb von Morgen bis Abend sauber und fein, und Asmus konnte gehen und stehen, wo er wollte. Das behagte ihm, und er fand dies Leben zur Abwechselung sehr hübsch. Etwas anders wurde es nur, als auch die Mutter oft und öfter auf viele Stunden verschwand und er mit dem kleinen Reinhold ganz allein zu Hause sein mußte. Er mußte den Kleinen stundenlang wiegen, und das fand er entsetzlich. Sobald er zu wiegen aufhörte, schrie der gute Reinhold. Endlich holte der Sechsjährige den Zweijährigen aus den Kissen hervor, setzte sich auf einen Schemel und hielt ihn auf dem Schoße. Das gefiel dem Baby, und zehn Minuten lang gefiel es auch seinem Wärter. Aber dann kriegte er eine schreckliche Lust, zu spielen, und er legte Reinholden wieder an seinen Platz zurück. Reinhold war nicht gesonnen, sich das bieten zu lassen, er schrie wie ein gereizter Elefant. Da mußte Asmus ihn wieder herausnehmen und ihn auf dem Schoße halten, halbe Stunden lang, ganze Stunden lang, mehrere Stunden lang, und Reinhold sprach kein brauchbares Wort außer »dadadada« und »babababa«. Da wurde das Herz des kleinen Asmus oft vor Verlangen so groß, daß es ihm wehtat. Aber seltsam: allgemach strömte aus dem warmen Körperchen des kleinen Bruders ein Trost auf ihn hinüber; es erwachte in ihm die Zärtlichkeit für das Brüderchen, das ihm bis dahin eigentlich nur ein uninteressantes Tierchen gewesen war. Er fühlte mit Lust das weiche warme Wänglein an dem seinen, er betrachtete mit staunendem Vergnügen das zierliche Wunderwerk dieses unendlich kleinen und zarten Fingers; er begann mit dem Baby zu spielen und war fast so glücklich wie eine Mutter, wenn Reinhold lachte oder gar jauchzte. So weit war nun alles gut. Aber es verschwanden nicht nur die Eltern und Brüder, es verschwand auch das Fleisch vom Mittagstisch und vom Brote die Butter. Es gab Tag für Tag Klöße mit Pflaumen. Es währte aber nicht allzu lange, so gab es nur noch Kaffee und Brot. Jetzt ging Asmussen ein Licht auf. Er hatte wohl schon vordem gehört, daß die Eltern und die Brüder Arbeit suchten; aber er hatte es sich ganz lustig vorgestellt, jeden Tag auszugehen und Arbeit zu suchen. Jetzt begriff er die Situation: sie hatten kein Geld mehr, sie verdienten kein Geld mehr, und ohne Geld wollten ihnen die schlechten Menschen kein Brot und keine Butter geben. Aber er sollte die Lage der Dinge noch klarer begreifen. Täglich kam jetzt der Vater oder die Mutter oder einer der Brüder heim mit den Worten: »Der Krämer will nichts mehr borgen« oder »der Schlächter will erst Geld haben« oder »der Bäcker will mir nichts mehr geben; er will uns verklagen«. Und doch sollte das Allerschlimmste noch kommen. Wenn die Krippe leer ist, beißen sich die Pferde. An einem Morgen sprachen die Eltern erregt und immer erregter miteinander; sie gaben sich harte Worte, und endlich rief Ludwig Semper: »Tut, was Ihr wollt! Ich weiß nicht mehr, wohin!« und stürmte zur Tür hinaus.


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