Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XXIV. Kapitel.

Die Rache der Prätorianer und der Verrat des Brutus.

Die »immanente Gerechtigkeit der Dinge« ist so groß, daß die dummen Menschen, selbst wenn sie im Besitz der höchsten Ehrenstellen sind und sie gar nicht verlieren können, sich dennoch über die größere Gescheitheit der niedriger Stehenden schmählich ärgern. Es liegt ihnen zwar nichts daran, gescheit zu sein; aber die andern sollen es auch nicht sein. Die Prätorianer studierten durchweg schon mehrere Jahre unter Herrn Rösing, und sie hatten der ganzen Klasse jenen Seelenfrieden mitgeteilt, der sich unter solch einem Lehrer bald genug über die ganze Schülerschar verbreitet. Nun waren da Gäste eingezogen, die schienen Neuerungen einführen zu wollen; die Gewächse des Herrn Schulz schossen aus den Bänken heraus und riefen: »Ich weiß es, Herr Lehrer, ich weiß es!« und besonders Heilmann und Semper waren von solch infamer Lebendigkeit, daß ein noch so narkotischer Unterricht sie nicht gänzlich einzuschläfern vermochte. Alle Augenblicke hieß es: »Du bist'n Baas« und »Du bist'n Hauptkerl«, und das paßte Klaus Rampuhn einfach nicht mehr. Er machte die Leibgarde mobil, und man begann mit einem Geplänkel aus der Entfernung. Wenn die beiden Lebendigen sich zeigten, hieß es: »Kuck, da sind die Baase! Halloh, da sind die Hauptkerls!« Friedrich Heilmann aber war ein Diplomat; er machte gute Miene zum bösen Spiel, ging sofort zur Leibgarde über und schloß mit ihr Freundschaft. Das hätte nun Asmus auf den Tod nicht können! Es war ihm eine Lust, sich necken und hänseln zu lassen; aber sobald er Feindseligkeit spürte, gefror seine ganze Außenseite im Nu! Dieser lumpige kleine Pfeifendreherjunge war überhaupt noch obendrein stolz! Er hatte Klaus Rampuhn wiederholt den Gehorsam verweigert! Ueberhaupt: Asmus Semper und Klaus Rampuhn! Es waren so zwei Menschen, die beim ersten Begegnen blitzschnell und blitzhell empfinden, daß eine ewige Kluft zwischen ihnen befestigt ist. Aber noch immer brannte der Kampf nur mit glimmendem Feuer. Eine große Menge Brennstoff lag auf der Glut; aber sie fand keine Luft, keinen Ausweg nach oben. Da endlich brachte eine Pelzmütze die überreichlich entwickelten Gase zur Explosion.

Marianne Semper hatte von ihrer Herrschaft eine abgelegte, sehr schöne und sehr hohe Pelzmütze geschenkt bekommen und sie an ihren Bruder weitergegeben. Asmus strahlte vor Glück, und weil sie so schön war und weil er sonst keine tragbare Mütze besaß, ging er an einem wunderschönen Junimorgen mit seiner Pelzmütze zur Schule. Da bekam das Feuer Luft. Ein brausendes Hurra begrüßte ihn, als man seiner ansichtig wurde. Man fragte ihn, ob er bange sei, daß er sich den Kopf erkälte, und weil sie so hoch war, fragte man, ob er eine Etage zu vermieten habe. Darüber mußte auch Asmus lachen; aber er war doch froh, als der Unterricht begann und die Sache ein Ende hatte.

Indessen: er hatte die Pause nicht bedacht. Auf dem Spielplatze bildete sich ein großer Kreis um ihn, und als er auf ihre Neckereien nur dadurch erwiderte, daß er schweigend sein Brot verzehrte, da nahm ihm Klaus Rampuhn die Mütze hinterrücks vom Kopfe und ließ sie von Hand zu Hand gehen. Asmus protestierte energisch und verlangte seine Mütze zurück; aber da wurde die Sache erst amüsant; denn nun begann die Mütze zu fliegen. Hoch über den Köpfen flog sie dahin und wurde nun eine Angelegenheit der ganzen Schule. Sie fiel in den Schmutz und der Nächststehende schleuderte sie mit dem Fuße wieder in die Höhe; so flog sie hin und her über den ganzen, weiten Schulhof, bald hierhin, bald dorthin, und Asmus lief atemlos hinterher, um sein köstliches Staatsstück wiederzuerlangen. Aber je mehr er lief und langte, desto wilder wurde die Jagd, bis er verzweifelnd stehen blieb und Tränen über seine Wangen rollten. Da endlich griff einer die Mütze auf und stülpte sie ihm mit allem Staub und Schmutz über beide Ohren. Er nahm sie ab, und als er sah, wie das einzige schöne Kleidungsstück, das er besaß, zugerichtet war, da brach er in lautes Schluchzen aus.

Am nächsten Tage nahm er die Mütze schon zwanzig Schritte vor der Schule ab und stopfte sie in seine Tasche, und auf den Schulhof ging er mit bloßem Kopfe. Aber das sollte ihm nichts helfen. Ein Findiger hatte den Aufenthalt des amüsanten Objektes bald erspäht; er entriß es heimlich seinem Besitzer, und nun begann das Fang und Fußballspiel von neuem. Mit bebendem Herzen und geballten Fäusten sah Asmus zu; als jedoch einer die Mütze mit Ekel von sich stieß und rief, man könne nicht wissen, ob sie nicht »lebendig« wäre, da bezwang sich Asmus nicht länger: er stürzte auf den Beleidiger zu. Aber ehe er ihn erreichte, warf ihm jemand eine Handvoll Sand in die Augen, daß er laut aufschrie und mit beiden Händen nach den Augen fuhr.

Hätte er sich klagend an den Lehrer gewandt, so würde er seine Lage nur verschlimmert haben. Der Korpsgeist belegte mit Acht und Bann jeden, der einen Mitschüler beim Lehrer verklagte. Er suchte sich anders zu helfen: er ging ohne Mütze zur Schule. auch bei Regen und Wind. Aber er sollte sogleich inne werden, daß nicht die Mütze, sondern er selbst der Gegenstand des allgemeinen Interesses war. Dergleichen Gemeinschaften in Schulen und Kasernen suchen ein Opfer, an dem sie sich vergnügen können, und wehe dem, der auffällt, wehe dem, der dann durch eine unzeitgemäße Mütze die Furien entfesselt; sie lassen nicht wieder ab von ihm. Freilich, in einem Falle wäre die Frage sofort gelöst gewesen: wenn er ein Riesenkerl gewesen wäre mit derben Fäusten. Aber er war klein und hatte nur ein Paar unbedeutende Aermchen; so flutete alle Grausamkeit der Jugend auf ihn zusammen.

Sie ließen sich mit Willen auf ihn stoßen, daß er fiel, und wenn er sich aufraffte, riefen sie entrüstet, das habe der andere getan; sie rissen ihn an den Haaren und stachen ihn mit Stahlfedern, und wenn er sich umsah, machten sie unschuldige Gesichter; sie rezensierten schonungslos seinen dürftigen Anzug; sie glossierten die Antworten, die er in der Stunde gegeben hatte, und nannten ihn einen furchtbar dummen Kerl; sie schlugen ihm, wenn er aß, scheinbar unversehens das Brot aus der Hand, oder sie warfen ihm Sand oder Erde darauf. Und seltsam: die in der Klasse die schläfrigsten waren, sie waren hier die lebhaftesten, lautesten und erfinderischsten. Und bei alledem war das Peinvollste, daß er keinen harmlosen und unbefangenen Augenblick mehr verbrachte, daß er sich, sobald der Lehrer den Rücken wandte, als Mittelpunkt einer nicht ablassenden Aufmerksamkeit fühlte.

Er versuchte es mit hundert Mitteln, dieser Qual zu entweichen. Wenn Herr Rösing ihn wieder einmal einen »Baas« genannt oder ihn sonstwie gelobt hatte, dann war es in der nächsten Pause besonders schlimm. Er nahm sich vor, in der Stunde gar nicht mehr zu antworten und sich dumm zu stellen. Aber das gewann er nicht über sich. Wenn sein Interesse geweckt war, ging es mit ihm durch. Er dachte sich: Wenn ich sie bitte, sie möchten mich doch jetzt in Frieden lassen, und mich durch Gefälligkeiten mit ihnen anfreunde, dann wird es aufhören. Aber wenn er das nur dachte, dann ballten sich schon seine Fäuste und preßten sich seine Zähne aufeinander. Er hätte sich lieber die Zunge abgebissen.

Zu Hause verriet er keinen Hauch von seinem Kummer. Es war das Sempersche Schweigen, was ihm die Lippen schloß. Sie konnten ja doch nicht verstehen, wie das alles gekommen war, wie das wehtat; er konnte es auch gar nicht so beschreiben, wie es war. Und wenn er zehn Minuten im Bereiche des Hausfriedens geatmet hatte, dann fiel auch die ganze Schule von ihm ab, und die leichtsinnige Phantastennatur Ludwig Sempers gewann in ihm die Oberhand. Dann wandelte er wieder an jenseitigen Gestaden. Dann schwang er sich wieder singend den Spänesack über die Schulter und trabte hinab, seiner großen, weichumfangenden Mutter Elbe ans Herz. Und wenn er ferne Segel ziehen sah, dann dachte er, wie merkwürdig es sei, daß er früher zuweilen glücklich gewesen war, ohne daß irgend etwas geschehen wäre! Um die und die Zeit – an irgend einem Tage – gleich nach Mittag – in einem völlig leeren, ereignislosen Augenblicke – da war ein wunderbarer Glückshauch durch sein Herz gezogen, er wußte nicht, warum – er hatte nichts verlangt, und es hatte sich nichts erfüllt. Und er genoß im Nachglanz noch einmal diese geheimnisvollen Feste der Seele, die nach einer höheren, unbekannten Ordnung kommen und entschwinden.

Wenn er dann aber am nächsten Morgen zu einem Schultage erwachte, dann war es, als wenn eine wüste Faust ihm jäh ans Herz fuhr und es mit rohen Fingern zusammenkniff. Er ging auf Umwegen zur Schule, um niemandem zu begegnen, und er wartete den äußersten Augenblick ab, um unmittelbar vor dem Lehrer in die Klasse zu treten. Am Schlusse der Schule wartete er, bis alle gegangen waren, um allein zu gehen; aber sie hatten Zeit, sie lauerten ihm draußen auf und geleiteten ihn. Da versuchte er, als erster hinauszukommen und rasch zu entweichen; aber sie stürmten hinterdrein und liefen schneller als er mit seinen Holzpantoffeln. Er schützte Erkältung vor, um während der Pause im Zimmer bleiben zu können; aber die Strelitzen erklärten Herrn Rösing, Semper sei gar nicht erkältet, er wolle nur im Zimmer hocken; da jagte ihn Herr Rösing hinaus. Und wenn er drinnen blieb, so kamen sie wieder herein und quälten ihn zwischen vier Wänden, das war noch schlimmer als unter freiem Himmel. Wenn er so nach einem Ausweg suchte und seine Seele hin- und herflatterte wie ein geängstigter Vogel, dann mußte er immer zu sich selber sagen: »Du bist feige – du bist feige –« und dies Gefühl machte ihn sterbenselend. Endlich beschloß er, ein Ende zu machen, und klagte Herrn Rösing sein Leid. Der hörte ihn kaum an, nahm die Pfeife aus dem Munde und sagte:

»Ach was, ihr müßt euch vertragen. Du wirst wohl auch Schuld haben. Du bist 'n Krakehler!«

Asmus war, als habe er einen Stoß vor die Brust bekommen. Er sollte krakehlen? Gegen Klaus Rampuhn? Und gegen die andern zwanzig Athleten? Eine wilde, bittere Flut brauste in ihm auf und überquoll sein Herz; ein Gefühl, das er bis dahin nicht gekannt, vergiftete ihn, das Gefühl von einer großen Ungerechtigkeit. Wenn ihm seine Mutter einmal Unrecht tat, so wußte er trotz alledem, daß sie ihn liebe; aber dieser Mann war ein Richter; bei ihm mußte man Recht finden, und er urteilte so! Sekundenlang bäumte ein unnatürlicher Haß gegen seinen Lehrer in ihm auf. Asmus Semper war zum ersten Male in seinem Leben tief und schwer an der empfindlichsten Stelle getroffen worden.

Die Folge seiner Anklage waren erneute, gesteigerte Quälereien. Er wurde nun obendrein als »Angeber«, als »Klatschmaul« und »Verräter« verhöhnt. Und noch ein bittererer Schmerz stand ihm bevor. Friedrich Heilmann, sein Mitbaas und Vertrauter, ging offen zur Uebermacht der Feinde über. Eines Morgens sah er ihn höhnend und lachend in den Reihen seiner Peiniger. Das begriff Asmus anfangs gar nicht. Er wollt' es gar nicht glauben; aber als er den Treulosen auf dem Heimwege zur Rede stellen wollte, da lief dieser eilends davon, als wäre sein Gewissen eine Dampfmaschine geworden. Noch lange nachher, als Asmus bei Shakespeare las, wie der stürzende Cäsar rief: »Auch du, Brutus?« und mit der Toga sein Angesicht verhüllte, mußte er denken: »Friedrich Heilmann«, und er verstand es bis auf den Grund des Herzens, als Mark Anton dann sprach:

»Kein Stich von allen schmerzt ihn so wie der!«

Ja, einmal sah er, wie Heilmann und mehrere Strelitzen die Köpfe zusammensteckten, wie Heilmann sprach und die andern begierig horchten. Irgend etwas schien von Mund zu Mund zu gehen, und dann mit einem Male klang es rings um ihn von zwanzig, dreißig johlenden Kehlen:

»Trudel, Trudel, Trudel, hohoooo Trudel, hurra Trudel, Trudel, was macht Fidelio? Trudel, sing' mal was aus 'm Troubadur, hoooooooo . . . Trudel, Trudel, Trudel, Trudel . . . ..«

Asmus war bis in die Lippen hinein erblichen. Ahnungslos hatte er seinem Freunde Heilmann anvertraut, wie sie ihn im Hause nannten, und mit glücklichem Stolz hatte er von seinem Vater erzählt, was der alles könne, wie schön er singen könne, aus »Fidelio« und aus dem »Troubadour« und aus allen Opern, und wie fein er vorlesen könne . . . . Das alles hatte Heilmann jetzt den Feinden verraten! Wie schrecklich anders klang sein Neckname aus diesen Kehlen! Ein Kosename war es daheim, ein wilder Schimpf war es hier; wenn die Seinen ihn so riefen, war es ein Wangenstreicheln; hier schlug es ihm wie eine Stachelpeitsche ins Gesicht und übers Herz; die Zärtlichkeit hatte diesen Namen gefunden, und die Grausamkeit sprach dieselben Laute mit einem Klange, daß sie wie eine Höllenmusik von Roheit, Neid, Haß, Uebermut und Schadenfreude klangen. Wie hatte er sich gefreut und wie hatte er gelacht, als sein Brüder ihn zum ersten Male »Trudel« nannte, und nun sollte ihm dieser Name für seine ganze Schulzeit anhaften wie ein Brandmal. Ein Mensch mit einem Spottnamen ist nicht mehr ein Mensch; er schleppt ein doppelgängerisches Gespenst auf dem Rücken mit sich, und der Haß oder die Lieblosigkeit hält sich, wenn es ihr gefällt, an das Gespenst und achtet des Menschen nicht.

Er nahm sich zum hundertsten Male vor, ihr Gejohle mit Stillschweigen zu übergehen; aber das half ihm nicht das Mindeste. Das ärgerte sie und reizte sie nur noch mehr. Sie wußten, daß seine Geduld nicht unendlich war, und sie waren immer entschlossen, es so weit zu treiben, daß er tobte und weinte. Schon am nächsten Tage reizten sie ihn durch das neue Peinigungsmittel so weit, daß er alles um sich her vergaß und den Kampf aufnahm mit Klaus Rampuhn. Im Wirbel der Wut, mit geballten Fäusten sprang er auf den Schlagetot los, und er flog mehr als er sprang; der aber stieß ihm nur kaltlächelnd die Faust entgegen, und der kleine Semper lag rücklings am Boden, und das Blut floß ihm aus Mund und Nase.


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