Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XI. Kapitel.

Wie Asmus ins Wunderland kam und dann in einen Schafstall.

Als am Rain das Pflaster aufgerissen und ein gewaltiges Siel gebaut wurde, machte Asmus täglich Forschungsreisen durch schwarze Erde, Sand und Lehm. Er fand es wunderhübsch, so ganz, ganz tief unten in der dunklen Erde sitzen und arbeiten zu dürfen, und als er eines Morgens mit weit ausgerecktem Halse zusah, wie Mörtel und Steine an langen Seilen zu den Mauernden hinuntergelassen wurden, da kam es ihm recht ungelegen, daß seine Mutter ihn von dieser interessanten Besichtigung hineinrief. Was sollte er nur? Er dachte nach, ob er irgend etwas ausgefressen habe; aber er wußte nichts. Als er in die Stube trat, waren aller Augen auf ihn gerichtet. O weh, dachte er, hab' ich doch etwas verübt? Dann sagte Ludwig Semper ganz langsam: »Was meinst du wohl, wenn du heute abend mit Johannes und Alfred ins Theater kämest?«

Asmus sah seinen Vater, seine Mutter, seinen Bruder Johannes an und konnte wieder nur ein dreifaches kurzes »o – o – o« hervorstoßen; als er aber an der lachenden Miene seines Vaters sah, daß es Ernst damit wäre, da heulte er ein langes »oooooh!« sprang wie toll im Zimmer umher, sprang dann seinem Vater an den Hals und küßte ihn, dann seiner Mutter und küßte sie, dann seinem Bruder und küßte ihn. Seine Mutter gab ihm bald darauf ein Stück Brot, ein mit Butter bestrichenes; er biß einmal hinein und gab es ihr dann zurück. »Ich mag nicht«, sagte er. So gegen Mittag sagte die Mutter: »Es gibt Regen, da ist es wohl besser, ihr geht ein andermal ins Theater«. Asmus blickte so tief unglücklich seinen Vater an, daß der ihm schnell mit den Augen zuzwinkerte: Glaub's nicht, es ist nur Spaß. Beim Mittagessen schob er seinen Teller zurück. Die Freude hatte ihm allen Appetit verschlagen. Und er fragte so viel, wie es im Theater sei, was man da tun müsse, ob man da auch sprechen dürfe, ob dort ebensolche Puppen wären, wie in seinem Theater, ob man dort auch hinausgehen könne, wenn man mal hinausmüsse usw. usw., daß die Mutter endlich rief: »Junge, nu hör auf vom Theater, sonst kommst du überhaupt nicht hin!« Das half. Er schwieg mäuschenstill.

Um sieben Uhr sollte das Theater beginnen; um vier Uhr machten sich die Brüder auf den Weg. Sie kamen nach der großen Stadt Hamburg. Ach, das war ja schon Erlebnis genug! Der kleine Semper wäre wohl zehnmal gefallen und überfahren worden, hätte ihn Johannes nicht festgehalten mit treuer Hand. Denn seine Augen gingen ganz andere Wege als seine Füße. Sie gingen bald hoch an den ragenden Häusermauern entlang, krochen bald heimlich in schwarzgähnende Kellergewölbe hinein; sie schlüpften in halberhellte Seitengassen und verträumten sich dort unter einer einsamen Laterne; sie sprangen schnell in schimmernde Läden hinein und hingen noch festgesogen an einem riesigen Apfel oder an einem bunten Spielzeug, wenn die Füße schon sieben Schritte voraus waren; sie glitten scheu an einem furchtbaren Riesengespenst empor, das durch Nebel und Dunkel näher kam und das seine Brüder den Michaelisturm nannten, und als er stolperte, da fuhr er zusammen; es war ihm, als wäre er oben vom Turm herabgestürzt. In allen Straßen eilten zahllose Menschen hin und her. Sie sind alle vergnügt, dachte Asmus, sie wollen ins Theater. Ueberall war Licht auf den Straßen und in den Häusern. »Weil heute Theater ist«, dachte Asmus. Auf einem freien Platze standen Straßenmusikanten und spielten einen Walzer. Ja, heut ist ja Festtag, dachte Asmus, heute gehen die Leute ins Theater.

Nach einer Stunde erreichten sie einen mächtigen, säulengeschmückten, von Gasflammen umflackerten Bau. Durch eine große, düstere Seitentür traten sie ein, und nun ging es unzählige Stufen hinauf. Endlich, vor einer verschlossenen Tür blieben sie stehen. Hier standen wartend schon eine Anzahl Leute, Männer, Frauen und Kinder. Eine Stunde hatten sie hier zu stehen. Der kleine Semper hatte noch keine rechte Vorstellung von einer Stunde, besonders nicht von einer Wartestunde; daher dachte er wohl hundertmal: Jetzt – jetzt wird aufgemacht! Aber immer war es ein trügerisches Geräusch gewesen, oder gar eins, das gar nicht stattgefunden hatte, als höchstens in seiner erregten Einbildung. Immer mehr Menschen stellten sich hinter ihnen auf; jetzt war es schon eine wimmelnde Menge. Die Wartenden unterhielten sich von diesem und jenem; derjenige, der der Tür am nächsten stand, ließ aber die Klinke nicht aus der Hand. Besonders Schlaue schoben sich ganz langsam, ganz behutsam, ganz unmerklich vor, bis ein günstiger Augenblick gekommen war, wo sie den Ellbogen einsetzten und einen Vordermann hinter sich bringen konnten. Die Zurückgedrängten protestierten; man stritt und zankte, eine hohe Frauenstimme schalt, und von unten antwortete ihr Spott und Gelächter. Asmus blickte die ganze Stunde gegen den feuchten Ueberzieher eines großen Mannes; die Luft war so schlecht, daß ihm fast übel wurde. Da – da – ein Riegel wurde fortgeschoben – noch einer – ein Krachen. ein heller Spalt wurde sichtbar, und hinein stürmte die Menge wie losgelassene Panther, einer den andern zurückstoßend, am Rockschoß zurückreißend, ihm den Ellbogen auf die Brust setzend. Alfred und Johannes hatten den Kleinen in die Mitte genommen, und wie im Sturmwind ging es zur Kasse. Als die Karten gelöst waren, ging es in Sprüngen weiter hinauf. Die drei fanden Platz auf der vordersten Bank der Galerie, unmittelbar an der Brüstung – das war der Lohn.

Hier hatten sie abermals eine Stunde zu warten. Aber hier war es keine Kunst, zu warten. Was es hier zu sehen gab, das war ja schon allein die drittehalb Schilling wert, die ein Kind zu zahlen hatte, und was nachher auf der Bühne geschah, war eigentlich Zugabe! Eine Viertelstunde lang hatte man ja allein an dem Vorhang und am Proszenium zu schauen und an dem geheimnisvollen Platze vor dem Vorhang, wo vier Baßgeigen und zwei Pauken sich ausruhten, und eine weitere Viertelstunde an der riesigen halbrunden Rotunde des Zuschauerraums, in die Asmus mit schwindelndem Staunen hinabsah, und eine Viertelstunde und ach! noch viel länger an dem Kronleuchter und an den Deckengemälden, die so wunderbar schöne, schwebende Gestalten darstellten, daß man wirklich wie im Himmel war. Und so lange ging Asmus im Himmel spazieren, daß ihm endlich der Nacken schmerzte. Er war noch lange nicht mit dem Schauen fertig, als es im Parkett und in den Rängen lebendig wurde. Wahrhaftig, diese Menschen da unten setzten sich auf die rotsamtenen Stühle und in die goldenen Logen, als wenn sie zum Sitzen gemacht wären und zu nichts anderem! So wie man sich bei ihm zu Hause auf einen Holzstuhl setzte, so setzten sie sich in die kostbaren Sessel, so mir nichts dir nichts, ohne sie anzugucken, ohne etwas unterzulegen! Er dachte nach, welch eine Unmenge Geld wohl dazu gehören müsse, um da unten zu sitzen, und alle, die dort unten saßen und gingen und miteinander plauderten, als wärs gar nichts, sie schienen ihm wie Könige und Königinnen.

Da – da rauschte Musik empor; Asmus sah seinen Bruder Johannes mit einem Gesicht an, als wenn er sagen wollte: Wie ist es nur möglich! Wie kann es nur so etwas geben! Es mußte ein ganz besonderer, seltsamer Blick gewesen sein; denn Johannes legte den Arm um Asmus und zog ihn an sich.

Dann ging der Vorhang auf. Was da alles vor sich ging, das konnte Asmus nicht auf einmal bewältigen. Er hörte oft nichts von den Worten, weil er mit den Augen an einem besonnten Baumwipfel oder an einer blauen Wolkenferne hängen blieb; er sah oft nicht, was vorging, weil er mit allen Sinnen am Munde eines Sprechenden hing. Alle Zuschauer ringsherum hätten fortgehen können, er würde es nicht bemerkt haben; denn sein Sinn und seine Sinne hatten nur ein Ziel. Noch als Erwachsener sah Asmus Semper mit greifbarer Lebendigkeit, wie der Jäger (seltsamerweise vor dem Vorhang!) das zitternde Schneewittchen mit dem Hirschfänger bedrohte und wie er sie endlich auf ihr inständiges Flehen, das dem kleinen Semper zwei große Tränen entlockte, frei gab, wie die sieben Zwerge in possierlich abgestufter Reihe mit einem drolligen Gesange auftraten, wie das arme vergiftete Königskind tot hinstürzte, wie es mitten in einem Kranze dunklen Waldesgrüns in gläsernem Sarge lag und wie die Zwerge Wache hielten im schweigenden Abendrot. In einem Zwischenakte fragte er seinen Bruder mit leiser, unterdrückter Stimme, ob die Menschen dort auf der Bühne nun wirklich Menschen wären oder was sie sonst wären, und jedesmal, wenn das Schneewittchen leblos hingefallen war, fragte er dringend und bange, ob sie nun wirklich tot sei.

Nach der Weihnachtskomödie gab es noch eine ganze Oper, nämlich »Maurer und Schlosser« von Auber. Davon verstand er zwar nicht viel; aber er hielt bis zum Ende aus, weil es Musik war, und am andern Morgen fragte er seinen Vater:

»Soll ich mal was aus »Maurer und Schlosser« singen?«

»Ja«, sagte Ludwig Semper.

Und Asmus sang:

»Plaget dich die Langeweile,
Arbeit verlanget, daß man sie teile;
Wackre Gefährten sind dir nah.
Darfst nur wagen, nicht verzagen;
Wackre Freunde sind dir nah!«

Und der Spazierstockbläser und Cigarrenkistenleiermann Asmus Semper nahm den Maurer und den Schlosser in sein Repertoire auf.

Langsam, langsam verebbend floß durch viele Wochen die goldene Welle fort, die dieses Ereignis in des kleinen Sempers Seele erregt hatte. Dann begegnete ihr eine andere Welle, aber keine goldene. Wenn ein Cigarrenfabrikant einem Hausarbeiter die Beschäftigung nahm, sei es, weil ihn dessen Leistungen nicht befriedigten, sei es, weil er Ueberfluß an Fabrikaten hatte, so hieß das in der Sprache der Zunft »rausschmeißen«. Eines Sonnabends kam Ludwig Semper mit Kisten und Seronen nach Hause wie gewöhnlich; aber es war kein Tabak darin.

»Na?« fragte Rebekka Semper bestürzt.

»Er hat mich rausgeschmissen«, sagte Ludwig.

Da lief Asmus ängstlich herbei, untersuchte den Rock des Vaters von allen Seiten und fragte: »Hast du dir denn auch wehgetan?« Er faßte das Hinausschmeißen körperlich auf. Und Ludwig und Rebekka Semper mußten trotz ihres Kummers lachen. Asmus aber faßte einen tiefen Groll gegen die Fabrikanten, die er von nun an für sehr schlechte Menschen hielt.

Das Lachen der beiden Eltern war auch nur kurz und schwächlich. Die Forderungen der Steuerkasse standen schon so lange an, daß die Behörde sich nicht mehr gedulden wollte und die Pfändung verhängte. Asmus schwebte wieder in großer Angst; denn unter dem Exekutor dachte er sich einen Mann, der alles wegnehmen und die Eltern schelten, ja, wohl gar mißhandeln würde. Es kam aber ein netter, höflicher Mann, der an einen Tisch, ein paar Stühle und ein Schränkchen runde Zettel klebte und eine Cigarre, die Ludwig ihm freundlich anbot, freundlich dankend annahm. Nach einigen Tagen wurden dann der Tisch, die Stühle und das Schränkchen weggetragen und weggefahren.

Mehr konnte man den Sempers beim besten Willen nicht nehmen. Asmus freute sich, daß die Sache so glimpflich abgelaufen war, und da die Stube nun viel geräumiger war und ein anderes als das gewohnte Gesicht zeigte, so fand er die Begebenheit eigentlich ganz interessant. Und seine Augen ergingen sich mit munterer Neugier in den leeren Winkeln, wo die Blicke seines Vaters mit Sorgen und die Blicke seiner Mutter mit Tränen des Schmerzes und des Grolles verweilten.

Als der Hauswirt von der Pfändung vernahm, kündigte er schleunigst den Sempers die Wohnung. Aber da er Vertrauen in Ludwig Sempers Ehrlichkeit setzte, ihm übrigens auch nach geltendem Rechte nichts mehr nehmen konnte, so ließ er ihn, obwohl der letzte Mietzins nicht bezahlt worden war, in Frieden ziehen. Hatten die Sempers bis dahin eine Etage bewohnt, so bezogen sie jetzt ein ganzes Haus. Freilich hatte die Etage drei richtige Stuben und eine wirkliche Küche gehabt, während das Haus im ganzen zwei Kämmerchen und einen dunklen Bodenraum umfaßte. Es war ein Haus, das, von außen gesehen, auch für einen Schafstall gelten konnte, und die Familie Semper hatte die größte Mühe, alle ihre ungepfändeten Sachen darin unterzubringen. Und doch war diese Wohnung größer, schöner, herrlicher als die drei richtigen Stuben »am Rain«; denn zu dieser Wohnung gehörten endlose Wiesen, die der Horizont umsäumte, breite Heckenwege, die sich ins Abendrot verliefen, und ein schwarzer Teich, den noch kein Mensch ergründet hatte. Es war eben eine Wohnung im »Holstenloch«.


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