Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXII. Kapitel.

Wie Asmus in einem alten Korbe das Land der Goldorangen fand und wie seine Seele durch Feuer und Wasser ging. Wie er in die Politik eingeführt und ein Schlingel wurde.

Der Weg zum »Süßen Kringel« war fast noch schöner als der durchs Holstenloch. Er führte durch die Moortwiete, von deren beiden Seiten die Büsche so sehnsuchtsvoll einander zustrebten, daß sie oben ihre Arme in einander verschlangen und daß man glauben konnte, man wäre nicht mehr auf der Erde, sondern in einem Laubengange des Himmels, wo die Vögel wieder Vertrauen faßten zu den Menschen, wo man ohne Essen und Trinken leben könne in alle Ewigkeit. Und sicherlich war auch die Moortwiete der Himmel im Vergleich zur Tabakstube voll Dunst und Staub. Der gute Asmus ging nun ins zehnte Jahr und wurde immer ernster genommen, das heißt er mußte immer regelmäßiger die graue Leinenschürze vorbinden und sich an den Arbeitstisch setzen. Sobald er aus der Schule gekommen war und eine Schnitte Brot bekommen hatte, mußte er heran. Zuweilen gab er sich einen gewaltsamen Ruck und arbeitete wie ein Besessener; aber es war so viel Arbeit zu tun, daß er doch vor dem Abendessen nicht fertig wurde. Da entschloß er sich bald, konsequent zu sein und nur noch zu faulenzen. Er entwickelte die Faulheit zu einer Kunst. Er betrachtete ein einzelnes Tabaksblatt so lange, als wenn er seine Individualität gegenüber allen anderen Blättern festzustellen hätte; wenn er die Mittelrippe herauszog, schien er zu studieren, bis zu welchem Grade man die Bewegung der menschlichen Hand wohl verlangsamen könne, und bevor er das nächste Blatt in die Hand nahm, verfolgte er eine langsam vorüberziehende Wolke bis zum gänzlichen Verschwinden oder er repetierte im Stillen Schillers »Kassandra«, oder er führte im Vorübergehen den »Freischütz« auf, oder er dachte daran, wie er sich im Winterschnee verlaufen hatte (mit dem Hammer in der Hand!) und er verlief sich abermals und konnte aus der zauberischen Stille nicht zurückfinden und schrak heftig empor, als man ihn anrief und zur Arbeit ermahnte. Er erfand sinnreiche Methoden, den unzubereiteten Tabak verschwinden zu lassen, als wär' er erledigt; er ersann die unerhörtesten Vorwände, um auf einen Augenblick hinausgehen zu dürfen, und wenn er draußen war, riskierte er wohl eine Tracht von Rebekkens Schlägen und entwich aus dem Hause oder er schlich auf den Dachboden, wo der große Korb stand. Dieser Riesenkorb war eine Welt für sich. Frau Rebekka hatte die Eigentümlichkeit, sich von keinem Läppchen oder Bändchen trennen zu können, in der im allgemeinen richtigen Erwägung, daß sich in den Kleidern ihrer Kinder sicherlich eines Tages ein Loch finden werde, das man damit verschließen könne. So enthielt denn dieser Korb ein unentwirrbares Chaos von Lappen und Flicken, Mützen und Schuhen, Hosen ohne Boden und Strümpfen ohne Füße; er enthielt aber auch noch anderes: alte Jahrgänge von »Ueber Land und Meer« und »Gartenlaube«, und unvollständige Lieferungen der Werke von Wolfgang v. Goethe, Ladislav Pyrker, Freiherrn von Auffenberg und anderen. Hier auf dem Boden unter glühenden Dachpfannen begann Asmus Semper die Lektüre der »Wahlverwandtschaften«, ohne sie wesentlich zu fördern; dagegen nahm er sich vor, bei nächster Gelegenheit die »Farbenlehre« zu lesen, von der er sich viel versprach. Auf einem angeschmutzten, einsamen Lieferungsbogen fand er einen Kapitelanfang, der also lautete:

        »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?
Im dunklen Laub die Goldorangen glüh'n? –«

O, das war ja das wunderbare Lied, das sein Vater vor Jahren einmal gesungen hatte –

»In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut;
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut«

das Lied, bei dem er sofort sein Spiel hatte ruhen lassen, weil er nur horchen konnte, mit starren Augen nur horchen konnte. Er fragte nicht, welches Land es sei; es war das neue Land, das beim Klange des Liedes aus der Flut seiner Seele emporstieg, ein ungenanntes, heiliges Land, das er nun entdeckte, das er noch nie in seiner Seele gefunden hatte. Er hatte viele Bilder gesehen mit Säulenhallen und Lorbeerhainen, mit schroffen Bergen und finsteren Höhlen – aber dies war ein ganz anderes Land; ein Land, wie es auf der Erde nicht sein konnte. Er wußte nicht, daß es das Land der Sehnsucht war.

Er las weiter und fand nun, daß Italien gemeint sei. Italien, dachte er, das liegt im Süden. Und er schob eine Kiste herzu, stellte sich darauf, kletterte mit Mühe zum schrägen Dachfenster empor und schaute hinaus. Dort ist Süden, dachte er, und dort ist Italien. Und er starrte in den südlichen Himmel und dachte:

»Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht« – –

Da erscholl hinter ihm eine laute Stimme: »Ist es die Möglichkeit?« rief Johannes. »Wir sitzen unten und können nicht weiter arbeiten, weil wir keine Zurichtung haben, und der Faulpelz sitzt hier oben und schnappt Fliegen! Willst du wohl die Güte haben, Herr Baron, und schleunigst herunterkommen?« Und Asmus schlich aus dem Lande der Orangen zurück an seine Marterbank. Wenn er sich nun hätte überwinden können, zu arbeiten, dann wäre wenigstens die Zeit vergangen. Aber er konnte sich nicht dazu zwingen, in einer Stunde tausendmal dasselbe zu tun, und so wuchs ihm durch seine Faulheit die Zeit ins Hundertfache und seine Qual ins Tausendfache. Denn die Qual des Gewissens kam hinzu. Er sagte sich ganz klar: Es ist schändlich von dir, daß du deinem Vater nicht hilfst. Aber arbeiten konnte er deshalb doch nicht. Und dieser Vater löste oft unvermutet seine Ketten und gab ihn frei. Es waren ja fette Jahre, Ludwig Semper war leichtsinniger denn je; seine Blicke gingen oft seitwärts nach dem trübsinnig faulenzenden Sohne, und nicht selten sprach er: »Mach nur, daß du wegkommst«, was dann regelmäßig den melancholisch an einem Tabaksblatte hängenden Asmus in einen Blitz verwandelte, aber auch regelmäßig die entschiedene Mißbilligung Rebekkens fand.

»Was soll aus dem Jungen eigentlich mal werden?« fragte sie, »du bestärkst ihn ja noch in seiner Faulheit! Du willst ja wohl 'n Grafen aus ihm machen!« worauf dann Ludwig Semper etwa lachte und ausrief:

»Sunt pueri pueri, pueri puerilia tractant!«

und dagegen konnte Rebekka Semper nichts mehr einwenden.

Aber solch ein Freiheitsaufgang war gleichwohl so selten wie ein Sonnendurchbruch in einem Hamburger November. Da das Geschäft, mit Erlaubnis zu sagen, »glänzend« ging und Ludwig Semper außer seinem Johannes noch zwei Gehülfen anstellen konnte, so mußte viel Arbeit getan werden. Zeit seines Lebens bewahrte der Gefangene ein dankbares Andenken dem flammenden Befreier, der eines Tages in Gestalt eines grellen Blitzes herniederfuhr und seine Ketten zerschmolz. Fast unmittelbar folgte dem Blitz ein Schlag, als bräche ein ganzes bretternes Weltgebäude zusammen, und Johannes sprach erbleichend: »Das hat eingeschlagen!« Und als er eine Minute später zum Fenster hinaussah, rief er: »Feuer, Feuer, ein großes Feuer, bei der Reitbahn muß es sein!« und dann stürzte er hinaus. Ihm folgten die andern Gehülfen. Asmus aber war allen vorangeeilt. Langsam und würdevoll schritt nach einer Viertelstunde Ludwig Semper hinterdrein. Asmus zog die Holzpantoffeln von den Füßen und lief auf den Strümpfen durch die Straßen – wenn er das tat, dann buhlte er an Schnelle mit des Adlers Flug. Der Blitz war in eine volle, strohgedeckte Scheune gefahren, und das Feuer hatte bereits auf die ebenfalls mit Stroh gedeckten Wohnungs- und Stallgebäude übergegriffen. Es war das erste Mal, daß Asmus eine Feuersbrunst erlebte. Er konnte die Augen nicht wegwenden von den Wölfen und Drachen, die in immer größerer Zahl, in immer wilderen Rudeln aus den Höllenkesseln der Brandstätten in den Himmel sprangen, von den Schlangen, die aus den Fenstern hervorzischten, von den langhälsigen roten Geiern, die auf den Firsten entlang hüpften und raublüstern mit den Flügeln schlugen. Er sah, wie die Flammen an den Balken entlang liefen und dann plötzlich an anderer Stelle emporsprangen, und er dachte: wie Hunde, die sich gierig schlingend an einem Knochen entlangfressen, dann plötzlich sich auf eine fettere Beute stürzen, an der schon andere zerren: nun springen die Neidischen hechelnd gegen einander auf und schnappen einander mit weit klaffenden Mäulern nach den Hälsen, und dann fallen sie wieder wetteifernd herab auf ihren Fraß. Und unlöslich hingen seine heißen Augen an den heißen Augen der Bestien. Fast sengte die Glut ihm die Wimpern; aber er hätte nicht um Haaresbreite weichen mögen. Sah er doch in den viereckigen Fensterhöhlen ganze Qualm- und Flammenschlachten toben; rauchgraue Kraken und Lurche rollten und ringelten die dicken Schwänze und schossen vor mit mastigem Ungestüm; breite, goldene Schwerter fuhren ihnen jach in den Bauch, und rotrauchendes Blut quoll wolkig hervor. Dann verwirbelte, verknäulte, verbiß und verfilzte sich alles in Glut und Wut, zu einem Weltuntergang in Flammen und Raserei. Da stürzte eine Mauer ein und juchzend wie trunkene Furien schlugen die Flammen ihre Mantelfetzen dem Mond ins Gesicht, der bleich und zitternd hervorgetreten war. »Ach«, dachte Asmus, »wenn nun erst die große Giebelmauer einstürzt, dann werden die Flammen noch höher schlagen, ach ja, noch immer höher müssen sie schlagen, immer höher!« und sein Herz flog mit den Flammen empor.

Aber nach wildem Triumphe wendet sich das Glück – die fallende Mauer hatte einen großen Teil des Feuers erstickt, und nun kam auch die »freiwillige Feuerwehr« und suchte emsig, wo der Wasserposten wäre, an den sie ihren Schlauch anschrauben könne. Es war eine sehr brave Feuerwehr, und eine Niedertracht des Volkswitzes war es, daß er sie standhaft die »mutwillige Feuerwehr« nannte. Er behauptete nämlich, die »Mutwilligen« stellten so oft zwecklose Uebungen an, nur um regelmäßige Löschübungen in der Kneipe von Peter Ramm daranschließen zu können, er behauptete, sie stellten die Welt auf den Kopf; denn nach jeder Löschübung wüte in Oldensund tagelang ein entsetzliches Sodbrennen. Aber alles das war nur die bekannte Bosheit, mit der die Menschen ohne Amt sich an offiziellen Personen und Einrichtungen schadlos zu halten pflegen. Freilich wären die Mutwilligen dieses Feuers wohl nicht Herr geworden, wenn der Brennstoff ihnen nicht zu Hülfe gekommen und gänzlich ausgegangen wäre; aber dafür konnte man sie nicht verantwortlich machen. Sie rannten wacker nach den verschiedensten Richtungen hin und wieder, ließen laut ihre hallenden Männerstimmen erschallen und behandelten einander in dieser drangvollen Stunde nicht mit unzeitgemäßer Zartheit, und ihnen konnte man es nicht zur Last legen, wenn ihre Spritze einen so dünnen und wehmütigen Strahl gab, daß die unanständigen Vergleiche sich von selbst ergaben.

Es kann nicht wunder nehmen, daß Asmus von nun an Tag für Tag, wenn er vor dem Tabak saß und ihm die Stunden zu Ewigkeiten ausquollen, gleichwie dem appetitlosen Kranken der Bissen im Munde schwillt, daß er Tag für Tag nach dem Blitz auslugte, der ihn befreien sollte. Bei jenem Brande war kein Mensch getötet oder verletzt worden, und das machte Asmus ausdrücklich zur Bedingung: Menschen dürften nicht verbrennen, Vieh auch nicht; im übrigen aber durfte es alle Tage brennen, und zwar möglichst von vier Uhr nachmittags an, wenn die Schule zu Ende war und die Herrschaft des Nachtschattengewächses begann. Aber der Blitz ging seine eigenen Wege und fragte nicht nach den Leiden des kleinen Asmus.

Dagegen hieß es eines Tages: Auf der Hörmannschen Werft weit unten an der Elbe darf man Späne sammeln, so viel man will, und sie nach Hause tragen. Dergleichen ließ sich die ökonomische Rebekka nicht zweimal sagen: Asmus und Alfred mußten sich mit Säcken auf den Weg machen, und das wieder einmal befreite Herz des Asmus Semper jauchzte hoch auf. Und auf diesem Wege hatte er ein Erlebnis, bei dem nicht das Geringste geschah, bei dem es nichts gab als ein stilles Fließen und ein stilles Anschauen, und das doch für alle Zeiten eins seiner größten Erlebnisse war. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er die Elbe.

Mehr denn neun Jahre lebte er auf diesem Erdenfleckchen und hatte die Lieblichkeit seiner Heimat zu tausendmalen erfahren; an diesem Tage empfand er zum ersten Mal, daß es ein großes Ding um seine Heimat war. Zum ersten Mal sah er den Strom, den Deutsche und Nichtdeutsche weniger kennen und besungen haben als den Rhein, weil er nicht so anmutig und heiter bewegt ist wie der Rhein, weil er still und groß ist. Der Rhein ist des Deutschen offene, harmlose Fröhlichkeit, die Elbe ist seine sinnende, gedankentiefe Schwermut. Aber der Rhein fließt nur durch die westliche Seite Deutschlands – die Elbe strömt ihm mitten durchs Herz. Der Rhein in seiner Fülle ist Heiterkeit in Wirbel, Tanz und Sprung; die Elbe in ihrer Fülle ist Seligkeit in der Ruhe. Am Rhein klingt Gesang und Gläserklang; an der Elbe dreht eine Windmühle ihre Flügel ohne Laut, und der Strom trägt wiegende Nachen und lastende Schiffsriesen mit demselben großen Schweigen. In den Rhein schauen Felsen hinab und verfallene Burgen aus versunkenen Zeiten – an der Elbe rauschen leise die weiten Gärten königlicher Kaufherren, die geruhig lächelten, wenn man sie drinnen im Lande Krämer schalt, deren Muße so groß war wie ihre Geschäfte und deren Parks vor ungezählten Schloß- und Fürstengärten eines voraus haben: schwere, breitbeschwingte Poesie. Und fährst du die Windungen des Rheines hinab, so öffnen und schließen sich dir Bilder in neckischem Wechsel – die Elbe ist weiter und breiter als ein Auge sehen kann und gegen ihren Ausgang verschwistern sich am Abend Himmel, Land und Strom in einem Glanz. Und die Elbe atmet. Lautlos hebt und senkt sich ihre breite Brust, und senkt sie sich, so steigen schweigende Inseln daraus hervor, silberne und grüne Inseln, Inseln der keuschen Seligkeit, auf denen weder Menschen noch Tiere wohnen können und deren silbernes Gras die Sonne vergoldet, und hebt sich die Brust, so versinken sie lautlos, wie sie erschienen. Und wenn sie versunken sind, so leuchten über ihrem Orte stille Feste des Schauens, die das Beste sind, was dem Menschen gegeben ist und die durch unsere Erinnerung ziehen wie in der Sonne zerfließende Schleier, so daß wir uns fragen: »Wo war es doch, daß ich einst so glücklich war – wo war es doch?«

Alfred erklärte seinem Bruder die jenseitigen Ufer: das sei hannöversches Land, dort liege Harburg. und die blauen Höhen da hinten, das sei die Haake; in der Haake gebe es unendlich viel Heidelbeeren, und daher seien die Berge so blau, und dort liege Finkenwärder, und dort Cranz; aber Asmus hörte keinen Laut von alledem; er war gar nicht mehr da, er wohnte ja schon auf den silbernen Inseln. Er sah, er fühlte zum ersten Mal den Lebensstrom seiner Heimat, und als sie gar durch den Hohlweg beim »Halben Mond« an den Strom hinuntergestiegen waren und als Asmus wohl eine Stunde lang im Ufersande gelegen hatte, da hatte er zum ersten Mal an der Mutterbrust der Heimat gelegen und in vollen Zügen einen Trank in sich gesogen, der ihn an ihr Herz bannte in alle Ewigkeit.

Es war richtig: die Kinder durften auf dem Werftplatze ihre Säcke voll Hau- und Hobelspäne stopfen, und wohl ein halbes Dutzend eifriger Sammler war bereits an der Arbeit. Im Gedränge kam es auch wohl vor, daß einer ein ganzes ansehnliches Balkenstück in seinen Sack verschwinden ließ, was man mit einem technischen Ausdrucke »sich einen Splitter in den Finger jagen« nannte. Und mancher Arbeiter achtete solch eines Splitters nicht, besonders wenn er selbst einen Balken im Auge hatte. Schließlich ist ja auch die Grenze zwischen Splitter und Balken außerordentlich flüssig: wo hört der Splitter auf und wo fängt der Balken an? Gleichwohl beschränkte sich Asmus auf zweifellose Splitter; denn er fand es schändlich, den freundlichen Mann, der die Späne zu sammeln erlaubte, zu bestehlen; zur Sicherheit aber dachte er noch an etwas anderes. Er stellte sich vor, daß man ihn erwischte; er konnte sich dergleichen in vollster Gegenständlichkeit vorstellen, und er hatte das Gefühl, daß er vor Schreck und Schande auf der Stelle tot sein würde. Und zum dritten war auch die Vorstellung von dem Gefängnis mit den Gitterstäben und den vergifteten Klößen noch nicht ganz in ihm verblaßt.

War es von der Brunnenstraße bis zur Werft mit leeren Säcken eine Stunde Wegs, so waren es mit vollen Säcken und abschiedsschwerem Herzen zwei. Keuchend und schweißtriefend trabte Asmus unter seiner schweren, mit hundert Ecken und Kanten drückenden Bürde daher; aber was war das gegen die Lust, die Elbchaussee, die nirgends in der Welt ihresgleichen hat, hinunterzutrappeln und in die birkenverhangenen, welttiefen Gärten zu lauschen, den Hohlweg beim »Halben Mond« hinunter zu schlendern, den eine verschwiegene Brücke überwölbte, über die er niemals eines Menschen oder eines Tieres Füße schreiten sah; was war es gegen das Glück, an den Augen der Elbe zu hängen? Und vor allem: wie federleicht war auch der allerschwerste Sack, wenn man nicht in der Tabakstube zu husten und sich vor Sehnsucht zu winden brauchte!

Es war ein eigentümliches Zusammentreten, daß Asmus genau um dieselbe Zeit, als ihn die Heimat so fest an ihr Herz zog, die erste Bekanntschaft mit der roten Internationalen machte. Hinter dem Semperschen Hause, in einer Hofwohnung, hauste nämlich der Minutenschuster. Wenn man diesem ein Paar Stiefel zum Ausbessern brachte, dann sagte er stets, ob man nun schnelle Fertigstellung verlangte oder nicht, mit treuherziger Heftigkeit: »In de Minut, in de Minut!« und daher nannte man ihn den Minutenschuster, im Gegensatze zum »Ewigkeitstischler«, der fast für ganz Oldensund den Bedarf an Särgen deckte. Aber während der Ewigkeitstischler stets rechtzeitig lieferte, hatte der Minutenschuster die Eigenschaft, mit den Stiefeln, die man abholen wollte, noch lange nicht fertig zu sein. So mußte denn auch Asmus zuweilen warten, wenn er ein Paar Stiefel abzuholen hatte, und bei solcher Gelegenheit geschah es wiederholt, daß er die Schustersfrau, eine grobknochige, gefahrdrohende Person, aus dem »Sozialdemokrat« vorlesen hörte. Sie las von »Organisation« und »Refoluthion«, von der Feigheit der »Buhrghoasie« und vom »Stricken der Maurer«, und wenn sie an besonders wuchtige und kraftvolle Stellen kam, dann schien ihr der Schaum vor dem Munde zu stehen.

Die Frau war dem Knaben in der Seele zuwider; aber wie er nach allem Geistigen schnappte, wo es sich ihm bot, so horchte er hier mit beiden Ohren, und war bald überzeugt, daß den Leuten, die da schrieben, bitteres Unrecht geschehen sein müsse und daß die, die sie anklagten, ausbündig schlechte Menschen sein müßten. Wenn gar einer ins Gefängnis hatte wandern müssen, dann bäumte das Herz des kleinen Semper empor, und er hätte weinen mögen, daß solch eine Schändlichkeit ungestraft begangen werden durfte.

Neben dem Schuster wohnte im Hinterhause ein langer, magerer Mann, ein Schreiber, wie es hieß, der eine ewig bettlägerige Frau hatte. So kam es, daß man ihn nicht selten mit einem Henkelkorbe über dem Arm und einem Milchtopf in der Hand über die Straße gehen sah, um die Gänge zu besorgen, die sonst den Frauen zufallen. Da der melancholisch dreinblickende Mann überdies bei solchen Verrichtungen einen in der Taille eng anschließenden Rock mit langen Schößen und einen kerzengeraden Zylinder trug, so war mehr als nötig vorhanden, um das Interesse der Straßenjugend wachzurufen. Er hieß Bunger, und ein dicker, ungewaschener Witzbold verfiel eines Tages auf den superben Reim:

»Herr Bunger,
Haben Sie Hunger?«

Von nun an konnte der Mann sich nicht sehen lassen, ohne daß ihn ein wüster Chorus mit dieser Frage verfolgte, und da der Mann leider Temperament besaß, so beging er den Fehler, sich umzudrehen und den Buben Vorhaltungen zu machen, ja, da die Verfolgungen nun erst recht zunahmen, so verstand er sich dazu, den größten Quälgeistern Geld zu geben, damit sie ihn doch in Ruhe ließen. Die Folge war, daß sie nun, nach weiterem Gelde lüstern, nicht mehr von ihm abließen; denn es gibt nichts Grausameres als eine kompakte Masse von Kindern. Selbst Asmus Semper rief an einem Tage, da ihn offenbar der Hafer stach, dem vor ihm auftauchenden Manne nach:

»Herr Bunger,
Haben Sie Hunger?«

Da wandte Herr Bunger sich langsam um, machte große, traurige Augen und schüttelte tadelnd langsam den Kopf. Dann ging er seinen Weg weiter. Asmus Semper war über und über rot geworden; der Anblick des Mannes hatte ihn bis ins Herz erschreckt; er schwieg mäuschenstill. Er rief niemals wieder, und er sollte noch bitter bereuen, daß er es überhaupt getan hatte.


 << zurück weiter >>