Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XXXII. Kapitel.

Asmus hört zum ersten Male eine gute Predigt, sieht zum ersten Male Tod und Begräbnis und wird aus Ueberfluß an Wissen Schulmeister.

Mit Herrn Germer, dem schwindsüchtigen Arbeiter, der ihm einmal ein Buch angeboten hatte, »einerlei, was es koste«, war er zufällig ganz allein im Arbeitszimmer. Der Leidende mit der eingesunkenen Brust und den vorstehenden Backenknochen sah ihn an und lächelte milde.

»Ach Herrje«, sprach er ohne Schärfe, fast freundlich, »nu sitzt de schon wieder da un dust nischt.«

»Ja«, sagte Asmus trotzig, »wenn man auch den ganzen Tag beim Tabak sitzen muß!«

»Ach Herrje«, sagte der Kranke, immer in demselben milden Tone, »den ganzen Tag! Du weeßt ja gar nich, wie gut daß du's hast! Ich nehm's der weiter nich iebel in deiner Unvernunft. Wenn de ooch 'n klugen Kopp hast, du bist doch halt ebend noch ä unverninftiges Kind. Du hast immer satt zu essen un hast was ieber de Fieße ze ziehen un gehst alle Dage in die Schule wie 'n Fürschtenkind. Un da willst de noch dich beklagen! Ach Herrje! Du hättst mal meine Jugend hättste mal durchmachen missen, ach Herrje! Ich will der'sch nich winschen, de bist ja ooch ä ganz anderer Mensch als ich, da will ich ja nischt gegen sagen; aber bloß zwee Wochen mecht ich der'sch mal winschen, daß de un kriegst ä Begriff! Wie ick finf Jahre bin alt gewesen, da hab ick mit missen in de Streichhölzerfabrik, un daderbei hab ick keene Schuhe ieberhaup nich gekannt, un Fleesch? Ja, wenn mein Vater un hat mal ä Hund gefangen – das war der aber schon ä großer Festtag, ei Herrje! Sunschten gab's Kartoffeln mit Salz, un de Kartoffeln hab ick gewehnlich stehlen missen, un wenn daß keene Kartoffeln da waren, ha'm mer Kartoffelschale gefressen. In de Schule – ach Herrje! Ick hätt mal meegen meinen Vater sehen, wenn ick, un hätte in de Schule wollen statt zu arbeeden! De Jacke hätt' er mer vollgehauen! Im ganzen bin ick heechstens 'n Jahr in de Schule gegangen, un ick hab ebend so viel gelernt, daß ick kann meinen Namen schreiben. Un daderbei mußt de nich glooben, daß ick wäre dumm gewesen; wenn der Lehrer was gesagt hat, da hab ich's ooch sofort begriffen, was er jemeent hat. Un als mein Vater war gestorben an der Schwindsucht, da hab'n meine Mutter und wir finf Kinder uns alleene durchschlagen missen. Da ha'm mer mehr Gestohlenes als Gekooftes gefressen, das kannste mer glooben. Ach Herrje, wenn ick so dran denke, denn wundere ick mir jedesmal, daß ich bin ä ehrlicher Mensch jeblieben un nich bin ins Zuchthaus jekommen. Un nu kommste un willst dich ooch noch beklagen! Du lebst ja wie ä Graf! Du hast so gute Eltern, un was haste alleen fier'n Vater, ach Herrje! Dein Vater is 'n Mann – ach Gott, der 's ja viel zu gut fier de Welt! So gut därf man gar nicht sein dahier in der Welt! Un nu is er ooch noch krank, un nu kommste ooch noch un ärgerst 'n. Du mußt nämlich nich glooben, daß der Mann un weil er nischt sagt, daß der Mann sich nich innerlich grämt. Der Mann, der grämt sich viel mehr, als ma denkt.«

Es wäre nicht nötig gewesen, diese Saite im Herzen Asmussens anzuschlagen: ihm rannen schon längst die stillen Tränen über die Backen, heiße, stille, reichliche Tränen. Kein Priester und Meister des Worts hätte das Herz des Kindes sicherer ergreifen können als dieser arme, kranke, gänzlich ungebildete Mann mit seiner leisen, bescheidenen, fast schüchternen Predigt.

»So'n Vater, wenn ich hätte«, fuhr der Prediger fort, »ach Herrje! Ins Wasser tät ich fiern gehen!«

»Das tu ich auch!« rief Asmus, er schrie es fast und warf die Arme auf den Tisch, den Kopf darauf, und er schluchzte heftig.

»Nu ja«, sprach der Arbeiter begütigend, »das will ich ja ooch gewiß nich sagen; ich will dir ja ganz gewiß nich wehdun, siehste, so mußte das nich verstehen! Wenn ick mir schlecht ausgedrickt habe, da mußte ebend entschuldigen; ick hab ja nischt gelernt. Du bist ja doch keen schlechter Mensch nich, i bewahre, du weeßt es ebend noch nich besser; du kennst eben 's Leben noch nich. Aber du hast noch ä weeches Herz, un wenn der Mensch bloß noch ä weeches Herz hat, da kann ooch noch allens jut werden. Na, nu weene man nich mehr, heerste? Das hab ick ja gar nich wollen, daß de weenen sollst. Weeßte, ick hab noch 'n paar Biecher zu Hause; ick versteh' se doch nich, die werd ick dir schenken, un wenn de un besuchst mich wieder ä mal, da soll dir meine Frau 'n Eierkuchen backen, weil de 'n so gerne ißt.«

Asmus wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Ich will auch jetzt anders werden«, sagte er. »Ich will jetzt –«

Da trat ein Arbeiter ein, und Asmus bückte sich tief auf seine Arbeit, damit man seine rotgeschwollenen Augen nicht sehe.

Er hielt Wort; so viel man von dem Gedächtnis eines kaum Zwölfjährigen verlangen konnte, hielt er Wort. Er wurde fleißiger, und niemand wußte, warum.

Mit seinem Moralprediger aber verband ihn von nun an eine feste Freundschaft. Asmus besuchte ihn wiederholt, und jedesmal mußte die Frau einen Eierkuchen backen. Es war ein Eierkuchen, wie ihn Asmus durchaus nicht mochte; aber jedesmal aß er ihn mit Todesverachtung hinunter, so treu war seine Freundschaft. Herr Germer besaß auch ein zweibändiges Handlexikon, und eines Tages sagte er zu dem Knaben:

»Wenn ick werde gestorben sein, denn kriegst du das Lexikon; bis mein kleener Junge so weit is, wer weeß . . .«

»Sie sterben aber doch noch lange nicht!« sagte Asmus lachend.

»Ach herrje!« lachte Herr Germer. Schon acht Tage darauf lag er im Krankenhause, weit hinten in St. Georg; denn er wohnte in Hamburg. Am nächsten Sonntag stiefelte Asmus allein hinaus, um ihn zu besuchen. Auf dem schwarzen Brett über dem Bette des Kranken stand »Phthisis«.

»Des heeßt Schwindsucht«, sagte Germer.

»So?« sagte Asmus bedrückt, und wußte nicht, was er weiter sagen sollte.

»Des hier is alles Schwindsucht«, fuhr der Kranke fort, indem er mit den Augen auf die anderen Betten deutete.

Es war eine bange, schwere Stunde. Ringsumher in den Betten lagen hohlwangige, bleiche Menschen mit scharfroten Flecken auf den spitzen Backen und mit glanzlosen Augen, die mit einer merkwürdig apathischen Ausdauer nach dem kleinen Besucher starrten als nach dem Interessantesten im ganzen Zimmer. Einige schliefen; einer lag auf dem Rücken und starrte nach oben, und die Bettdecke ging mit seinem Brust in schneller Bewegung auf und ab, immer auf und ab. Ein anderer ging im Zimmer umher und unterhielt sich sehr vergnügt mit Kranken und Wärtern.

»Der gloobt, er kommt noch wieder raus«. sagte Herr Germer mit einem mitleidig-ironischen Lächeln.

»Da drieben in dem Bett is heit nacht eener gestorben«, fuhr er nach einer Weile fort. Der Knabe sah mit scheuen Augen nach dem Bette hinüber, und ein Schauer lief ihm über das junge Herz. Aber das Schrecklichste von allem war ihm doch die vollkommene Teilnahmlosigkeit der Wärter, die auf dem Gange vor der offenen Tür Allotria trieben und Scherze machten. Er dachte sogleich an die Totengräber im »Hamlet«, die beim Auswerfen eines Grabes Witze machten, und er sagte sich: Sie sind wohl schon an alles gewöhnt; aber doch blieb ihm dies das Grausigste von allem.

Er hatte sich vorgenommen, die ganzen zwei Besuchsstunden hier auszuhalten; aber nach einer Stunde schickte sein Freund ihn fort.

»Nu geh man lieber«, sagte Germer, »des is hier nischt fier Kinder.«

»Ach –«, sagte Asmus etwas künstlich, »ich bleibe sonst gern noch hier.«

»Nee, nee«, lächelte der Kranke, »geh man lieber. Um drei kommt noch meine Frau, sie kann von ihrer Stelle nich eher loskommen. Grieß alle recht scheen, besonders dein'n Vader! Sag ihm man, ick hätt uff keener Stelle so gern gearbeed wie bei ihm. Un grieß ooch deine Mutter, det is 'ne dicht'ge Frau. Weeßte, wenn dein Vader un hätte de Enerschie von deiner Mutter gehabt, da war er – ä großer Mann wär er gewor'n! Na, laß der's gut geh'n im Leben, mein Junge! Aber da hab ich gar keene Bange; ich bild mer'sch nu ä mal ein, daß aus dir noch ä mal was werd! Pfeifendreher werste nich, das steht nu mal feste! Da denk nur an mich, was ich gesagt hab.«

Asmus war schon fast an der Tür, als ihn der Kranke noch einmal anrief.

»Grieß ooch den Wolkenschieber, heerste? Des is 'n gediegener Kerl. Un sag'm, er soll ooch seine Liebste von mir grießen, de Ephigenia – wie heeßt se man noch?«

»»Auf Tauris« oder »in Aulis««, sagte Asmus gewissenhaft.

»Na ja«. Und Herr Germer lachte sehr vergnügt über seinen Witz, und dann mußte er husten.

»Auf Wiedersehen! Und gute Besserung!« rief Asmus.

»Na ja!« rief der Kranke, zwischen Husten und Lachen hin- und hergeworfen, »ick werde mir Miehe geben.«

Als der Knabe die letzte Tür des ungeheuren Hauses hinter sich hatte, lief er mehr, als er ging. Erst nach fünf Minuten merkte er, daß er in ganz verkehrter Richtung gegangen war. Er hatte nur laufen müssen, Bewegung fühlen, seine Kraft fühlen müssen, alles andere war gleichgültig.

Vierzehn Tage später erschien Germer plötzlich im Arbeitszimmer bei Sempers. Er hatte Urlaub bekommen. Er habe die »Bude« noch einmal wiedersehen müssen, sagte er. Er blieb stundenlang, als könne er sich nicht von dieser Stätte trennen; endlich nahm er Abschied, nachdem er sein Werkzeug an die anderen Arbeiter verschenkt hatte. Die erklärten unter Lachen und Witzen, sie würden es ihm seinerzeit schon wiedergeben; Germer winkte nur abwehrend mit der Hand. Schon fünf Tage darauf begruben sie ihn.

Es war das erste Begräbnis, an dem Asmus teilnahm. Das viele Schwarz: die Schwärze des Sarges, des Leichenwagens und der Träger erschien ihm äußerst widerwärtig. Warum sieht das alles so abscheulich aus? Man kann gar nicht recht traurig sein, dachte er. Er wunderte sich, daß er nicht trauriger war. Erst als der Schrein hinabsank und man Erde darauf warf, fror es ihn plötzlich vom Kopf bis zu den Füßen; denn jetzt erst dachte er: »Nun sieht man ihn niemals wieder«. Und als er die Gattin weinen und das Söhnchen des Toten ratlos umherblicken sah, da trat ihm eine einzige, große und heiße Träne ins Auge. Dann ging er schweigend mit seinem Vater, seinem Bruder Johannes und dem Wolkenschieber heim. Der Wolkenschieber sprach davon, warum Schiller in seiner »Braut von Messina« die Chöre angewandt habe. Aber Asmus schwieg. Er dachte: Vor einem Vierteljahr hat er noch zu mir gesprochen, so daß ich weinen mußte. Wie kann er nun mit einem Male weg sein. Er kann nicht mit einem Male weg sein. Ich glaube, er geht jetzt neben uns; aber er läßt sich nichts merken.

Das war nun im Laufe weniger Jahre schon der vierte von Ludwig Sempers Gehülfen, der an der schrecklichen Seuche dahinstarb. Es waren unter diesen armen Leuten zu viele erblich belastete und schlecht genährte Körper, und die Staub- und Gifthölle der Arbeitsstube war nicht geeignet, ihre Lungen zu bessern. Auch Asmus litt zuweilen an monatelangen Husten, die ihm den Kopf zu sprengen drohten.

Ueberhaupt ein seltsamer, wechselvoller und lehrreicher Zug von Menschen, der in diesen Arbeitern an dem still beobachtenden Auge des Knaben Asmus vorüberging. Jeden neuen Arbeiter sah er sich lange von der Seite an und machte sich seine Gedanken über ihn. Da waren Dänen, Schweden, Belgier und Franzosen, Katholiken, Protestanten und Juden, adrette, saubere Leute und Säufer, Lüderjahne und Diebe, stramme Monarchisten und wütende Königsmörder, sinnende Schwärmer und brutale Rüpel. Eines Mittags trat Asmus gerade in die Arbeitsstube, als zwei Brüder in rasender Wut mit Messern aufeinanderstürzten. Er schrie laut auf, da ließen sie voneinander ab. Einmal war auch ein Halbidiot dabei. Das war, als Ludwig Semper so viel Arbeit hatte, daß er noch einen zweiten Zurichter anstellen mußte, und dieser Zurichter war »Hannis mit de Klock«. Hannis besaß nämlich eine Taschenuhr, die so groß war wie eine kleine Untertasse, und diese Uhr war der Stolz, die Freude, das Zentrum seines Lebens, wenn man von seinem Appetit absehen wollte. Das war freilich schwer; denn er aß so viel Brot, daß ein mäßiges Pferd sich daran hätte genügen lassen können. Seine Uhr aber band er sich mit vielen Bändern und Stricken am Leibe fest, damit sie ihm niemand nehmen könne. Natürlich war es eine der reinsten Freuden der Dorfjugend, den guten Hannis, sowie er sich erblicken ließ, zu fragen:

»Hannis, was ist die Uhr?«

Und dann war Hannis so glücklich, daß er seinen Ehrgeiz nicht zügeln konnte; er nestelte mit unendlicher Mühe sein Heiligtum los und sagte ihnen auf die halbe Minute genau die Zeit. Selbstverständlich trieben auch die Semperischen Arbeiter mit ihm ihr gutes und arges Spiel, und das war nun etwas, worüber sich Asmus niemals freuen konnte. Er hatte ein ungeheures Mitleid mit diesem Menschen, dessen Unglück ihm vielmals größer schien, als es war, ja, er liebte ihn förmlich. Denn er hatte noch die kindliche Anschauung, daß zum Glücke ein klarer Verstand erforderlich und dienlich sei. Er suchte seinen Klienten vor Kränkungen zu schützen; er sprach nur Ernsthaftes mit ihm und erzählte ihm aus der Schule von der Schiefe der Ekliptik und von adverbialen Bestimmungen, weil er auf diese Weise seinen Verstand zu kurieren hoffte.

Ueberhaupt konnte Asmus das ungeheuer Viele, das er bei seinem jetzigen Lehrer Herrn Cremer lernte, unmöglich alles bei sich behalten. Er erstattete nicht nur seinem Vater regelmäßig Berichte über Lykurg und Solon, über Marius und Sulla, sondern er machte auch aus einem großen Brett eine Wandtafel, verschaffte sich ein Stück Kreide und unterrichtete die Arbeiter. Sie waren sehr empfänglich dafür, hörten aufmerksam zu und gaben Antwort wie die Kinder, und der arme Germer, der kaum seinen Namen schreiben konnte, war einer der Gescheitesten gewesen und hatte sogar das präpositionale Objekt von der Adverbialbestimmung unterscheiden gelernt. Der Allereifrigste und Ehrgeizigste aber war ein Rostocker mit einem Shakespearekopfe. Der nahm Sonntags noch Extrastunden, und nach zwei Jahren konnte er noch immer nicht Substantiv und Subjekt unterscheiden. Aber er ließ nicht locker; er wollte seinen Verstand durch die Masse zwingen und nahm immer noch mehr Stunden, und Asmus dachte: Schließlich muß es doch in seinen Kopf hineingehen, und er stürmte dieses harte Bollwerk mit immer neuem Mute; aber er drang nicht hinein. Wenn Asmus fragte: »Was für ein Wort ist also »und«?« dann sah ihn der Shakespearekopf mit leuchtenden Augen an und rief: »Imperativ!« oder sonst ein Wort, und weiter hat er es auch in seinem Leben nicht gebracht.


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