Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XXVII. Kapitel.

Wiedersehen und Abschied, Wolkenschieber und Zigarrenmacher, Dichter und Seemann.

Nur in großen Zwischenräumen war Kunde von Leonhard zu den Seinen gedrungen. Ein Gehülfe hatte acht Tage lang mit ihm zusammen gearbeitet und erzählte, er habe immer »die ganze Bude« im Lachen erhalten, wenn er aufgelegt gewesen wäre, und sein Prinzipal habe ihn wie ein rohes Ei behandelt, damit er nur nicht von ihm gehe. Ein anderes Mal hatte ihn jemand mitten am Tage und mitten in der Woche am Hamburger Hafen daherschlendern und die Schiffe betrachten sehen, und wieder ein anderer hatte ihn in einer »Tannhäuser«-Aufführung mit Albert Niemann als Gast auf der höchsten Höhe der »Galerie« entdeckt und ihn mit gespannten Zügen und durstig-dunklen Augen horchen und schauen gesehen, und wieder ein anderer hatte ihn in einer Kutscherkneipe in recht geräuschvoller Gesellschaft gefunden. Im Elternhause hatte er sich seit seinem Auftreten als Dandy nicht wieder sehen lassen. Nun brachte ihn der Wolkenschieber herbei; aber er brachte ihn den Eltern nicht sogleich. Am Tage vor Weihnachten fragte er an, ob er ihn bringen dürfe.

Rebekka rief laut und jubelnd: »Ja, ja, natürlich!« Ludwig machte große Augen und widersprach nicht. Aber man konnt' es ihm anmerken, daß er nun noch viel heiterer dem hohen Feste entgegenging. Er sprach am folgenden Tage kein Wort von seinem ältesten Sohne; aber in allem, was er tat und sprach, war eine rasche Fröhlichkeit.

Als der Tannenbaum und die Wunderlampe brannten, ging draußen die Türglocke, und alle fühlten: Das ist er. Johannes trat schnell hinaus und führte ihn herein.

»Guten Abend«, sagte Leonhard.

Ach, wo war die weiße Piketweste geblieben, wo die Stiefeletten mit den Lackspitzen? Er hatte in dieser Kälte nicht einmal einen Ueberrock, und in dem ängstlich zugeknöpften Jackett fehlten ein paar Knöpfe.

»Guten Abend«, hatte Ludwig Semper gesagt; die Kinder konnten vor Erregung nichts sagen, und Rebekka kniete, als Leonhard eintrat, vor einer Schublade der Kommode, um ein Tischtuch herauszunehmen. Da trat Leonhard zu ihr, beugte sich zu ihr nieder, legte den Arm um sie und sagte: »Guten Abend, Mutter«, und Rebekka zog ihn so fest an sich, daß er neben ihr in die Knie sank, und küßte ihn und sagte: »Guten Abend, mein Kind!« und dann weinten sie gemeinsam in den armseligen Leinenschatz der Familie Semper hinein.

Nun wurden auch die Kinder mutig und begrüßten den ältesten Bruder. und Ludwig Semper reichte Leonhard die Hand. Dann entstand eine beklommene Stille. Da dachte Asmus: Er glaubt gewiß, weil er nicht gut angezogen ist, mögen wir ihn nicht mehr leiden – jetzt wollen wir erst recht freundlich gegen ihn sein, und er machte sich eilig und eng an ihn heran und zeigte ihm das Buch, das Moldenhuber ihm geschenkt. Es war »Sigismund Rüstig, der Bremer Steuermann«, nach dem Englischen des Kapitäns Marryat. Während er seinem Bruder die Bilder des Buches zeigte, hörte Asmus durch das frohe Lärmen der andern die leisen Worte Rebekkens: »Er ist doch 'n herzensguter Junge!« und hörte auch, wie Ludwig darauf erwiderte: »Jaja – hm.«

Diesmal dauerte die Freude der Weihnacht weit über das Fest hinaus; denn Leonhard trat nun wieder bei seinem Vater in Arbeit, und der Wolkenschieber obendrein! Da war nun jeder Arbeitstag ein hochgebenedeiter Freudentag! Heinrich Moldenhuber hatte die wogenden und glitzernden Träume des wirklichen Seefahrertums endgültig überwunden und war inzwischen auch Cigarrenmacher geworden, genau aus demselben Grunde, aus dem Ludwig Semper bei diesem Gewerbe blieb: nämlich, weil man so viel dabei denken konnte, wie man wollte. Und nun ward es im dunsterfüllten Arbeitsstübchen nicht stille von Norma und Euryanthe, von Walther von der Vogelweide und Penthesilea, von Thorwaldsen und Albrecht Dürer, von Danton und Robespierre, von Tiberius Gracchus und Ferdinand Lassalle. Sie waren inzwischen beide Lassalleaner geworden, Heinrich Moldenhuber und Leonhard Semper, aber an verschiedenen Orten und auf verschiedenen Wegen. Moldenhubers Ueberzeugungen waren durch Denken und Wissen und durch die Höhenluft seiner Wolkenwege geläutert; Leonhards Meinungen waren Leidenschaft und Phrase. Es mochte vier Wochen nach Weihnachten sein, als er die machtvolle These aufstellte, daß alle Fabrikanten Schufte seien. Ludwig Semper widersprach wie gewöhnlich seinem Sohne mit Lächeln und Kopfschütteln. Er verteidigte seinen Arbeitgeber, der freilich seine schlimmen, aber auch seine vortrefflichen Seiten habe. Aber in Leonhard gärte schon wieder der Drang ins Ungebundene. Zwar band ihn ja niemand, weder durch Handlungen noch durch Worte; selbst Rebekka hütete sich furchtsam vor Ermahnungen. Die Aufsicht der Eltern beklemmte ihn, eben weil sie keine Aufsicht war, sondern nur schweigend wirkende Gegenwart. Er erwiderte seinem Vater heftig und vergaß sich endlich so weit, daß er rief: »Das ist Blödsinn!«

Asmus bekam einen furchtbaren Schreck. Er würde es überhaupt nicht begriffen haben, daß jemand die Ehrfurcht gegen seinen Vater verletzen könne; daß es aber sein eigener Bruder tat, das entsetzte ihn. Die ganze Welt war ihm mit einem Male voll tiefer Trauer; denn sie war ihm entgöttert; sein Vater war immer noch der liebe Gott. Und dann brauste ihm das Herz von heißem Zorn . . . .

Ludwig Semper sagte gar nichts. Dafür sagte aber Frau Rebekka desto mehr. Sie machte ihren Aeltesten gehörig herunter und sparte die drastischen Wendungen nicht; der aber schien den Bruch als willkommene Befreiung zu empfinden; er brach sein Cigarrenbrett ab, nahm Hut und Rock und verließ zum letzten Male das Elternhaus.

Nun folgten wohl ein paar traurige, zerrissene Tage, an denen auch die hellste Sonne die Wolken der Tabakstube nicht durchdringen konnte; aber woher hätte wohl der Wolkenschieber seinen Namen gehabt, wenn er nicht verstanden hätte, graue Wolken beiseite und rot und goldumsäumte herbeizuschieben? Er war kein Spaßmacher und Witzbold; aber auf seiner Stirn wohnte die unüberwindliche Heiterkeit des Gedankens. Als er seinen Vater begraben hatte, stritt er auf dem Heimwege mit dem Pastor über Spinoza, und er sprach mit lachenden Augen. Die philosophische Heiterkeit, die alles Vergängliche mit Gleichmut erträgt und in allem Sein und Geschehen nur die notwendige Verwirklichung des Weltgedankens erblickt – er hatte sie sich nicht zu erlesen brauchen; sie war mit ihm geboren. Niemand hatte ihn jemals zornig oder erbost oder haßerfüllt gesehen; wenn er mit schlechten Menschen zu tun hatte, so sprach er von ihnen mit einer vergnügten Ironie, oder er schwieg und schob nachdenklich die Unterlippe so weit vor, daß Asmus dachte: Man könnte Bleisoldaten darauf aufstellen. Wenn einen Freund ein Leid betroffen hatte, so besuchte er ihn gewiß; er sprach aber von dem Unglück nur mit einem Satze oder mit gar keinem, und wenn der Bekümmerte ihn noch mit jenem Unglück beschäftigt wähnte, dann sprach der Wolkenschieber schon mit Begeisterung von »König Oedipus« und vom »Zerbrochenen Krug« und – seltsam – der Leidende hörte ihm gern zu und empfand es nicht als eine herzlose Entweihung seines Kummers. Nein, bald atmeten die Semper wieder die leichte, heitere Luft, die ihre eigentliche Atmosphäre war, und dazu hatte nicht wenig der Wolkenschieber getan.

Er verstand eben das Wolkenschieben unendlich viel besser als das Cigarrenmachen. Seine Cigarren erbten durchweg von ihrem Erzeuger die elegisch-schiefe Haltung des Kopfes; auch knetete er zuweilen so schwere Probleme hinein, daß sie keine Luft behielten und nicht brannten; oder er schnitt ihnen in der edlen Raserei eines hehren Gefühls die Füße bis zum Unterleibe ab, oder er vergaß, wenn er gerade auf der Terrasse von Helsingör mit Horatio sprach, überhaupt das Abschneiden, so daß sie an ihrem unteren Ende aussahen wie geplatzte Würste, deren Inneres sich empört und nach Freiheit strebt. Unter diesen Umständen empfand es Ludwig Semper als ein Glück, daß Moldenhuber in Hinsicht auf Cigarren nur von geringer Produktivität war; denn wenn der Fabrikant bei der Ablieferung solche »Raupen« entdeckte, dann konnte er sehr unangenehm werden, ja, es konnte Ludwig Sempern die Arbeit kosten; trotzdem hätte er es nie übers Herz gebracht, dem Raupenerzeuger, den er wie einen Sohn liebte, ein tadelndes Wort zu sagen. Es würde auch nichts genützt haben. Was einmal den Auftrieb eines Fliegers hat, das läßt sich nicht in einer Kammer festhalten, oder, wie Rebekka diesen Gedanken auszudrücken pflegte: »Was einmal zum Schweinetrog ausgehauen ist, wird mein' Lebtag' keine Violin'.«

Aber bald verfiel Ludwig Semper auf eine geniale Idee, die alle Schwierigkeiten auf die einfachste und angenehmste Weise löste. Es bildete ohnedies schon die Regel, daß Moldenhuber am Morgen oder Mittag mit Büchern vom Sedezformat bis zum größten Foliantenformat geschleppt kam und erklärte, das müsse man lesen, das sei großartig – daß er dann vorzulesen begann, bis der Tabak auf seinem Platze trocken geworden war, und daß er dann am Ende der Woche heiter und erhaben wie ein Vollschiff mit einer Kontantenfracht von sieben bis acht Mark nach Hause segelte. Das beschloß Ludwig Semper anders zu organisieren. Er ernannte Heinrich den Seefahrer zum ständigen Vorleser, und er sowohl wie die drei übrigen Gehülfen erklärten sich freudig bereit, dafür die Cigarren zu machen, die der Seefahrer eigentlich machen sollte, und sie ihm anzurechnen. So mußten sie denn freilich über den Feierabend hinaus arbeiten; aber gerade beim Lampenlicht, wenn die Welt still geworden war, las und hörte sich's wundergut. Der Segler verdiente mehr denn je, und die Sempersche Akademie hatte einen festangestellten Lektor. Sie konnte sich das leisten. Da aber der Wolkenschieber doch nicht immer lesen konnte, so wurde Asmus, der beim Zuhören so wenig Blätter entrippte, wie nie vor ihm und nie nach ihm ein Tabakzurichter entrippt hat, eines Tages zur Aushülfe herangezogen, und Asmus fuhr mit solchem Feuer vom Tabak in die Lektüre, daß die Eltern wohl hätten glauben können. ihr Kind sei ihnen unter den Händen ausgewechselt worden. Man fand, daß es sich gut anhöre, wenn er lese, und da er sich nebenher etwas Französisch und Englisch angeeignet hatte, so konnte er sogar solche Fremdwörter wie »Bourgeoisie« und »Trades Unions« lesen, was einen armen, kränklichen Gehülfen so in Begeisterung versetzte, daß er sagte: »Wenn de und willst gern mal ä neies Buch haben, alsdann brauchste mer'sch bloß zu sagen, da koof ich's dir, ganz einerlei, was 's kostet.«

Und so wurde denn ein Ehrliches und Erbauliches gelesen: dann einmal aus Virgils »Aeneis« und dann Gedichte von Herwegh und Freiligrath, dann aus Rousseaus »Emile« und dann die »Regulatoren aus Arkansas« von Gerstäcker, dann aus Humboldts »Kosmos« und dann Spielhagens »Hammer und Ambos«, dann aus Schlossers Weltgeschichte und dann Lassalles Arbeiterprogramm, dann aus Thiers' »Geschichte der französischen Revolution« und dann Hufelands »Makrobiotik«, dann Vossens »Louise« und Gellerts Fabeln und dann wieder Hackländer und Ferdinand Lassalle – ja, einmal brachte der Wolkenschieber eine Uebersetzung von Platons »Phädon« mit; der wurde aber von seinen Mitgehülfen entschieden abgelehnt, ebenso wie Fichtes Reden. Und wenn man nicht mehr las, so wurde über das Gelesene gesprochen; was unverständlich war, das mußten Ludwig Semper oder Heinrich Moldenhuber erklären, und auch Asmus durfte seine Meinung sagen, wenn er eine hatte.

In Asmus aber kämpften um diese Zeit zwei Ideale mit einander. Was sollte er werden? Beim Lesen all der schönen Bücher hatte sich ihm die Ueberzeugung aufgedrungen, daß es um den Dichterberuf doch eine wunderschöne Sache sein müsse. Vielleicht wollte er Dichter werden. Vielleicht aber auch nicht. Denn es gab da noch einen andern Beruf, der vielleicht noch herrlicher war. Das war der des Seemanns. Wenn er sich als Seemann dachte, dann sah er sich nachts allein auf dem Verdeck liegen und sah vom dunklen, tiefblauen Himmel das Kreuz des Südens herniederflammen. Das Kreuz des Südens hatte es ihm angetan, seitdem er »Salas y Gomez« gelesen.

»Von deinem Himmel wird auf mein Gebein
Das Sternbild deines Kreuzes niederschauen.«

sagte er oft bei sich selbst. Oder er saß in heller, silberner Luft im Mast einer Fregatte. Da mußt' es gut sein: er hatte nun schon so oft an der Elbe gelegen und hatte seinen Blick mit den in die goldene Ferne strebenden Dreimastern stromab schweben lassen; das wußte er ganz genau: um diese Masten wob ein sonderes Leben; sie ragten auf in eine andere Welt. Und so im Maste sitzend, sah er sein Schiff einlaufen in den in der Sonne sich breitenden Hafen von Vera Cruz. Vera Cruz mußt' es sein, davon ließ er nicht ab. Auch wenn ihm jemand der Wahrheit gemäß gesagt hätte, daß Vera Cruz in dürrer Ebene zwischen öden Sandhügeln liege und wenig Schönes auszuweisen habe, er wäre doch nach Vera Cruz gefahren; das war Bestimmung. Er hatte einmal eine Geschichte gelesen, in der der junge Held. ein Kadett. nach Vera Cruz fuhr, und sofort bei dem Namen Vera Cruz hatte er eine Vision gehabt von allen Farben und Prächten der Tropen, von einer selig träumenden Stadt der goldenen Türme, die am Hafen des ewigen Sonnenglückes ruht. Darum mußte er nach Vera Cruz.

Sigismund Rüstig hatte wieder alle Fernenlust und Abenteuersehnsucht der Knabenseele in ihm aufgeregt.


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