Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XX. Kapitel.

Von Blattern und Krieg und von lichten Tagen unter dunklem Himmel. Von Ludwig Sempers Hoffnung.

Es dauerte auch nur kurze Zeit, so war der ganze kleine Asmus mit Pocken übersät; auch im Munde und auf der Hornhaut des Auges waren sie hervorgekommen. Als er endlich Pocken genug hatte, fühlte er sich ein wenig wohler. und er sprach ab und zu leise mit Eltern und Geschwistern. Und dann ging die eigentliche Krankheit los. Der Arzt sagte: »Es sind richtig die schwarzen Blattern geworden«, und kam jetzt zweimal am Tage. Die Mutter mußte das ganze Männlein in Tücher mit Salben einschlagen und ihm kalte Tücher auf die Augen legen, und das Zimmer mußte ganz dunkel gemacht werden. Das Männlein ließ sich alles stumm gefallen; nur abends ward es gesprächig. »Ich hab' mich verlaufen«, rief es, »o Gott, o Gott, ich hab' mich verlaufen, warum habt ihr so viel Schnee gemacht? Und meine Laterne ist auch ausgegangen; Fräulein Johanna, zündest du sie mir wieder an? – – Uuu, was 'ne Menge Oesterreicher!« murmelte er vor sich hin. Aber endlich wurde er ganz still und sagte gar nichts mehr; er lag ohne alle Bewegung da, und der Arzt sagte den Eltern, sie möchten sich keine Hoffnung mehr machen.

Was der Kranke an Nahrung brauchte, flößte man ihm ein; er ließ indessen kein Lebenszeichen merken. Aber während er still dalag, floß ihm Blut aus dem Näschen und aus dem Munde.

Man merkte es dem Arzte an, daß er sich jeden Tag wunderte, wenn er den Kleinen noch am Leben fand. »Die Pusteln fangen an abzuheilen«, sagte er, »wer weiß, vielleicht holt er's doch durch.«

So hell war den Semperischen die Sonne noch nie vorgekommen wie an diesem kurzen Wintertage.

Und sieh, eines Morgens hörten sie Worte vom Bette des Kranken her. Im selben Augenblick stand auch schon Rebekka am Bettchen und fragte:

»Was willst du, mein Trudel?«

»Es juckt so«, sagte Asmus ganz deutlich.

»Ach Gott, mein Junge!« jauchzte sie, »mag es doch jucken, wenn du nur lebst!« Sie dachte in ihrem Jubel nicht daran, daß er über das Jucken anders denken mußte.

»Es juckt aber so schrecklich!« rief er jetzt drängender. Da holte sie nasse Tücher und legte sie ihm auf. Aber nun kam ein neues, fast schlimmeres Gespenst.

»Hat er noch immer die Augen nicht aufgewacht?« fragte Doktor Ollsen eines Tages.

»Nein«, sagte Frau Semper.

»Hm.« Der Arzt machte ein eigentümliches Gesicht.

»Wenn nur die Augen nicht gelitten haben!«

»Um Gottes willen, Herr Doktor, ist es wahr, kann er blind werden davon?«

»Das kann er freilich; aber das wollen wir doch nicht hoffen, Frau Semper«, sagte der Doktor mit einem wenig zuversichtlichen Gesicht.

– Asmus blind! – Ludwig Semper dachte daran, mit welcher Lust am Licht die großen Augen des Kindes ins Leben schauten; er mußte an die Augen denken, mit denen der Kleine auf jenem Sonntagspaziergang gesprochen hatte: »Vater, hier sieht es gerade so aus wie dein Geburtstag« und »Vater, hier ist es so wie bei Isaak, als Esau ihm das Wildpret brachte« – und die bloße Vorstellung des Unglücks fuhr dem Vater mit tausend Messern durchs Herz.

Asmus machte dann freilich bald darauf die Augen auf; aber, was man ihm auch vorhielt, er konnte nichts sehen, und heller durfte das Zimmer nicht gemacht werden.

Vier Tage später wurden Ludwig und Johannes Semper, die bei der Arbeit saßen, durch einen lauten Aufschrei der Mutter heftig erschreckt. Sie sprangen zugleich in die Höhe und wollten hinausstürzen; aber da riß auch schon Frau Semper die Tür auf und rief hinein: »Er kann seh'n, er kann seh'n!« das heißt, es war weniger ein Rufen als ein Schluchzen oder Lachen oder Weinen oder irgend etwas dergleichen; vom Sprechen war jedenfalls am wenigsten dabei.

Und nun erzählte Frau Rebekka: Sie habe recht so traurig am Bett gesessen und Kartoffeln geschält, da habe Asmus auf einmal gesagt: »Mutter, was ist das Rote da?« – am Fußende des Bettes habe nämlich ein roter Strumpf gelegen – und da habe sie so schreien müssen und sei vom Stuhl aufgesprungen, und zum Beweise dessen lagen denn auch Kartoffeln und Kartoffelschale über den ganzen Fußboden verstreut.

An diesem Tage war der Himmel ganz mit Wolken bedeckt; aber die Sonne schien blendend hell im verhangenen Krankenzimmer der Semperischen. Das war die zweite Sonne, die höhere Sonne, die weit hinter unserer täglichen Sonne hängt; sie dringt durch die tiefsten Wolkenmauern mondloser Dezembernächte und ist so hell, daß, wer hineinblickt, nur Licht sieht und keine Sonne, und sie geht nur auf, wenn sie mag.

Und nun kamen herrliche Tage. Asmus wurde gepflegt. Jeden Morgen bekam er ein ganzes, weichgekochtes Ei. Er erinnerte sich nicht, jemals ein ganzes Ei in der Hand gehabt zu haben. Er gab aber auch Alfred und Reinhold davon ab. Und die Nachbarin brachte einmal Hühnersuppe. Wenn man krank ist, lebt man wie ein Kaiser, dachte Asmus. Die Suppe schmeckte ihm eigentlich gar nicht so besonders; aber sie erfüllte ihn mit feierlichen Gefühlen. Die andern taten ihm leid, weil sie ganz gewöhnliche Suppe aßen. Sein Bett wurde nun so gestellt, daß er in die Arbeitsstube hinein und seinen Vater ansehen konnte. Und von Zeit zu Zeit plinkten sie einander zu und beide fühlten ungefähr dasselbe dabei, nämlich: »Diesmal haben wir dem Tod aber ein gehöriges Schnippchen geschlagen. Wir wollen noch ein Stückchen zusammenbleiben, und schön soll's werden!«

Aber das Beste, was ihm die Pflege bracht das war diesmal die Mutter. Er hatte oft geglaubt, sie liebe ihn nicht, wenn sie streng oder aufbrausend und ungerecht gegen ihn gewesen war und wenn sie immer wieder gesagt hatte, der Vater behandle den Bengel wie einen goldnen Apfel. Jetzt, in der Krankheit, hatte er endlich seine Mutter gefunden. Wenn sie ihn hätschelte und sich sorgend um ihn mühte, dann dachte er: Ich möchte mein ganzes Leben lang krank sein!

Als Gefahr vorhanden gewesen, daß der Kranke sich die Pusteln abkratze, da hatte man ihm die Hände umwickelt und festgebunden. So war es glücklich erreicht worden, daß der Körper nur vereinzelte Spuren der Krankheit zeigte, unter anderem eine Narbe über dem linken Auge. Diese hochinteressante Narbe führte Asmus mit großem Stolz in die Schule. Dagegen konnten sich die andern verkriechen mit ihren lumpigen Masern; was Krankgewesensein anlangte, war er jetzt ohne Zweifel der Erste in der Klasse.

In der Schule hörte Asmus, Herr Kleensang sei in der Schlacht bei Loigny gefallen. Herr Kleensang gefallen – das war ja der liebe, freundliche Mann, der sie im Turnen unterrichtet hatte, der immer so schöne Witze machte und den armen Kindern immer Frühstück und Kleider mitbrachte, obwohl er selbst nichts hatte! Und wenn er ihnen etwas schenkte, dann machte er jedesmal einen Reim dazu. Wenn er einem hungernden Schüler eine riesige Brotkante überreichte, so sprach er:

»Hier hast du einen Knust
Mit Pflaumenmus.«

oder:

»Hier, mein Sohn, ein Brot mit Butter,
Laß dir's schmecken, als käm's von der Mutter.«

Und als einmal ein Knabe in Hemdärmeln zur Schule kam, weil er keine Jacke besaß, da schenkte ihm Herr Kleensang seinen Examenfrack und sprach:

»Hier, mein Junge, hast du einen Frack;
Schneidst du ihm die Schlippen ab,
Hast du eine charmante Jack'!«

Und die Brust dieses Mannes hatte eine Kugel durchschlagen; er war tot, lag in der schwarzen Erde und kam nie wieder! Jetzt mit einem Male erfaßte Asmus mit dem Gefühl, was ein Krieg sei. Die Neuruppiner Bilderbogen von Wörth und Sedan, auf denen der Kronprinz oder König Wilhelm oder irgend ein General sich durch lauter rote und gelbe Farbe hindurchfuchtelte und auf denen im Vordergrunde zur Verzierung auch ein paar schöne Leichen angebracht waren, diese Bilder hatten sein Gemüt in keiner Weise berührt. Jetzt erst verstand er mit dem Herzen, was ein Krieg kostet.

Inzwischen waren auch nach Hamburg gefangene Franzosen gekommen. Eines Morgens, als Asmus mit dem Korb überm Arm bei dem phlegmatischen Krämer herauskam, spazierten zwei leibhaftige Franzosen daher, bei Gott, zwei wirkliche Franzosen mit Käppis und blauen Röcken und roten Hosen und Spazierstöckchen. Asmus dachte: sie sind gewiß sehr traurig und zornig; du willst ihnen mal zeigen, daß d u ihnen gar nicht feind bist, das wird sie freuen. Und als sie herankamen, rief er:

»Bonjour, messieurs!«

Die beiden blickten überrascht in die Höhe, und dann riefen sie lachend und winkend:

»Bonjour, bonjour, mon petit!«

Und Asmus ging sehr befriedigt von diesem Austausch internationaler Höflichkeiten nach Hause.

Am zweiten März, morgens gegen 10 Uhr, wurde Herr Schulz aus der Klasse abgerufen. Nach wenigen Minuten kam er wieder und rief:

»Kinder, der Friede ist geschlossen, ihr könnt nach Hause gehen!«

Jubelnd stürmte alles in den schönen Vorfrühlingstag hinaus. An solchen Tagen ist etwas in der Luft, daß alle, alle die Feier des Tages empfinden, mögen sie auch von seiner Bedeutung keinen Begriff haben. Am Abend waren Oldensund und Altenberg und Hamburg illuminiert; der kleinste Zwirn- oder Rübenhändler hatte Lichtlein ans Fenster gestellt, und das war sehr schön; aber für Asmus Semper brachte das keine Steigerung. Er hatte den ganzen Tag über den Luftraum, den ganzen Weltraum illuminiert, und alles aus eigener Tasche. An solchen Tagen ließ er sich nicht lumpen.

Als Ostern herankam, wurde Asmus Semper Klassenerster. Dabei schwebte er in größter Gefahr, den Primat noch am selben Tage wieder zu verlieren; denn er wippte vor Unruhe auf seinem Sitze hin und her, gab verwirrte Antworten und wäre am liebsten sofort davongelaufen, um seinem Vater die Kunde zu bringen. Sein Nachbar bot ihm ein großes, schönes Stück Wischgummi, wenn er morgen den Platz mit ihm tauschen wolle; Herr Schulz werde gar nichts davon merken. Aber Asmus lächelte ein unendlich überlegenes Lächeln. Ein Stück Wischgummi und das Lächeln seines Vaters Ludwig Semper – haha!

Als er dem Vater stotternd das große Glück berichtet hatte – seltsam, da lächelte Ludwig Semper nicht; er legte dem Knaben die Hand auf den Kopf und sah mit großen Augen tief in ihn hinein. Und dies Gesicht war noch viel schöner als alles Lächeln. Dann blickte er zum Fenster hinaus; aber die warme, kräftige Hand ließ er noch immer auf dem Kopfe des Kindes liegen. Asmus konnte jetzt des Vaters Gesicht nicht mehr sehen, und wenn er es gesehen hätte, so hätte er's wohl nicht lesen können. Das stumme Gesicht aber sagte: Wer weiß – vielleicht bringt er das Geschlecht der Semper wieder empor.


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