Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XXXVII. Kapitel.

Von Leonhards letztem Abschied, von einer schweren, schwülen Zeit und einer schwebenden, seligen Zeit.

An einem Januartage erschien bei Sempers ein gänzlich unbekannter Mann. Er fragte ob hier Herr Semper wohne, und als dies bejaht wurde, sagte er:

»Ich heiße Groth – ihr Sohn Leonhard hat bei mir gewohnt.«

»Ja? – und –?« fragten Ludwig und Rebekka zugleich in furchtbarer Spannung; denn der Mann hatte etwas Schwer-Befangenes in seinem Wesen.

»Er – er ist sehr krank – er wird wohl –«

»Ist er tot?« schrie Rebekka.

»Ja, ja!« sagte der Mann schnell, als wäre er froh, der Last nun ledig zu sein.

Ludwig Semper hatte seine Frau umfaßt und führte sie zu einem Stuhle. Der Mann berichtete, Leonhard sei am Herzschlage gestorben. Der herbeigerufene Arzt, selbst ein Trinker und an der Zunge leicht gelähmter Mann, habe gesagt:

»Er hat für sein Herz zu viel getrunken; ich hab' ihn neulich noch vor der Tür bei Sternfeld gewarnt.«

»Sternfeld« war die niedrigste Schnapskneipe in Oldensund; die Halb- und Ganzverkommenen verkehrten dort. So weit also war es mit Leonhard gekommen.

Die Familie Semper machte sich auf, den Toten zu besuchen. Er lag auf einem alten, zerrissenen Sofa; seine Züge waren ganz ruhig und friedlich, und er war noch immer ein hübscher Mensch. Rebekka kniete bei ihm und streichelte und küßte ihn unter Jammern und Schluchzen.

»Weine nur nicht mehr«, sagte Ludwig und wollte sie aufheben, »wer weiß: es ist wohl das Beste für ihn.«

»Ach Gott, er ist doch mein Kind, er ist doch mein Kind!« rief Rebekka und warf sich über den Toten.

Auf dem Tische lag ein Band von Eichendorffs Gedichten, darin hatte Leonhard gelesen, als ihn der Tod ereilte. Und auf einem kleinen Bücherbrett stand eine längere Reihe von Lieferungen des Brockhaus'schen Konversationslexikons.

»Das hat er gehalten«, sagte der Vermieter, »und hat immer darin studiert. Er war überhaupt ganze Monate lang solide und ging nicht aus der Tür. Dann studierte er immer. Bis ihn dann wieder der Leichtsinn beim Wickel hatte.«

»Das ist auch nicht vom Trinken gekommen«, sagte Rebekka. »Er hat doch immer 'n Herzfehler gehabt.«

Ludwig widersprach ihr nicht.

Wer sollte die Kosten des Begräbnisses tragen? Die Semper konnten es nicht; er mußte auf Kosten der Armenkasse begraben werden.

Am Grabe stand auch Moldenhuber. Er schob die Unterlippe weit vor und starrte in die Gruft. Das Leben hatte die beiden Freunde weit auseinandergeführt.

Asmus hatte noch immer nicht weinen können. Er hatte wie sein Vater empfunden: Wer weiß, was ihm noch Schreckliches begegnet wäre. Es ist besser so.

Als aber der Sarg hinabgelassen werden sollte, rief er immerfort mit steigender Angst: »Nein! nein! nein! nein!« bis ihn der Mann, bei dem Leonhard zuletzt gearbeitet hatte, auf die Seite führte und ihm zuredete.

Auf dem Heimwege sagte derselbe Mann: »Vor vier Tagen hat er uns auf der Bude noch so schön was vorgesungen.«

»Ja?« fragte Asmus. »Was hat er gesungen?«

»Ach, aus »Tannhäuser«. Das, wie Tannhäuser aus Rom zurückkommt:

»Wie dieser Stab in meiner Hand
Nie mehr sich schmückt mit frischem Grün,
Kann aus der Hölle heißem Brand
Erlösung nimmer dir erblühn!«

Da mußte Asmus daran denken, wie Leonhard im »Düstern langen Balken« zum ersten Male das Elternhaus verlassen hatte, wie er dann im »Holstenloch« erschienen war in Cylinder und weißer Weste und mit einer Taschenuhr, die er Asmus ans Ohr gehalten hatte, wie er dann in der Brunnenstraße neben seiner Mutter vor dem Wäschekasten gehockt und geweint hatte und wie er nun tief im Grabe lag und all die schwarze Erde über ihm. Und die Wehmut des Zeitenwandels löste wie ein Tauwind das starre Grauen seines Herzens in Trauer auf, und er begann still und heiß vor sich hinzuweinen.

Es ist auch das ein Unglück der Armen, daß die Not ihnen nicht einmal das schmerzliche Glück einer reinen Trauer gönnt. Die Sorge um die gemeine Notdurft befleckt ihre Trauer und drängt sie gar höhnend beiseite wie einen angemaßten Luxus, den Bettler sich nicht gestatten dürfen. Und mit den Semperischen kam es endlich so weit, daß sie sich verschämter Weise an einer öffentlichen Verteilungsstelle Marken holen mußten, für die sie an anderer Stelle eine warme Suppe in Empfang nehmen konnten. In diesem Zeit nun wurde Asmus Semper vor die Wahl eines Berufes gestellt. In dieser Zeit aber erwachte auch das Bewußtsein seines Geschlechtes in ihm. Und so ward aus seiner Seele eine neblig-rosige, qualvolle Wirrnis von Zweifeln und Sehnsüchten, Bängnissen und Hoffnungen.

Was sollte er werden? »Dichter oder Bildhauer« wie er geprahlt? Hahahahaa! Wohin war jene Zeit gekommen! Seemann? Er mußte dableiben und seine Eltern unterstützen. Einmal hatte er auch gesagt: Wenn ich Lehrer werden könnte! Das alles war jetzt Torheit! Er hatte kürzlich vor dem Fenster einer Hutfabrik gestanden und den Arbeitern zugesehen.

Das schien ganz interessant – wie wär's, wenn er Hutmacher würde? Noch besser war freilich Feuerwerker. Er hatte aus dem Boden in dem großen Flickenkorb seiner Mutter ein Buch über die Feuerwerkerei von Ruggieri gefunden. Vierzehn Tage lang war er in einem unaufhörlichen Funken- und Flammenregen dahingewandelt; im Wachen und im Traume hatte er Schwärmer und Raketen, Sonnen und Sterne gemacht, und mitten in der Katechismusstunde waren feurige Palmbäume, goldene Girandolen und silberne Kaskaden in seiner Seele aufgestiegen und hatten sein armes Dasein in Licht und Glanz gehüllt. Oder sollte er Tischler werden? Von allen Handwerkern hatte er immer den Tischlern am liebsten zugesehen. Ihre Arbeit hatte etwas Schöpferisches, Bildnerisches, darum fand er sie so hübsch. Aber das alles war ja Unsinn! Das alles waren ja unerfüllbare Träume! Das alles kostete ja Geld, oder seine Eltern mußten ihn doch jahrelang erhalten helfen; er sollte Geld verdienen, und das sogleich, und je mehr, desto besser. Da mußt' es also beim Tabak bleiben. Das Cigarrenmachen verstand er schon zur Hälfte; in einem Vierteljahre würde er's ganz können, und Lohn bekam er sofort, mehr als in irgend einer andern Lehre. Schon nach einem halben Jahre konnte er jede Woche drei, vier, fünf Taler in der Tasche klimpern lassen, – und das war doch eigentlich auch sehr schön! Dann gab er das Meiste seinen Eltern; aber er behielt so viel für sich, daß er alle Freuden der Welt genießen konnte: Theater, Biertrinken, Tanzen und – alle Freuden! Es mußte da draußen in der Welt Freuden geben – wundersame Freuden – er wußte nicht, welche – aber seltsam lockende, unergründliche Freuden. Es wohnten Leute bei den Sempers im Hause, die hatten eine sechzehnjährige Tochter: Flora hieß sie, eine hübsche kleine Brünette mit heißen Augen. Als er einmal ein anthropologisches Buch las, in dem der menschliche Körper abgebildet war, hatte sie ihm über die Schulter gesehen, und dann hatte sie entrüstet gesagt, so etwas müsse er gar nicht lesen, das sei unanständig, und dann hatte sie ihn angelacht, so merkwürdig . . . so süß . . . . Sie wollte auch immer mit ihm »ringen«, Brust an Brust; er tat es auch einmal, aber dann niemals wieder; er fürchtete sie. . . . Ja, es mußte in der Welt etwas geben – etwas Rätselhaftes – Drohendes und Süßes – Lockendes – Schreckendes – wenn er Cigarrenmacher wurde und gleich so viel Geld verdiente, dann war er selbständig, dann war er sein eigener Herr, dann konnte er tun, was er wollte – schon nach einem Vierteljahr! Und dann wollte er die Welt kennen lernen. Sein Bruder Leonhard regte sich in ihm.

Wenn er dann wieder ein Buch sah, krampfte sich sein Herz zusammen in bitterer Trauer. Er hatte ein großer, kluger Mann werden wollen, alles, alles hatte er lernen wollen – nun war alles aus. Aber nein, nein, er wollte lernen, immerzu, immer mehr, ganz einerlei, was aus ihm wurde, und er setzte sich abends um neun Uhr hinter Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung; aber da er sie nicht verstand, hielt er sich für rettungslos dumm, und da er in den Jahren des Wachsens war, wo Essen und Schlafen den vordersten Platz in der Seele einnehmen, so fiel er nach zehn Minuten mit dem Kopfe aufs Buch und entschlief. Wenn ihn dann sein Vater mit leisem Schütteln weckte, dann fuhr er auf und schlüpfte beschämt, den Kopf auf die Brust gedrückt, hinaus, und im Bett liegend, wütete er in Scham und Verzweiflung gegen seine Schwäche und seine Dummheit. Es war eine schwüle, schwere Zeit und war eine schwebende, selige Zeit.

Denn in seltenen Stunden, sonderlich am Sonntagmorgen, war immer wieder in seiner Brust ein Schweben und Dehnen und heiteres Sehnen. Es war in ihm wie Flügel, die sich entfalten wollten und nicht konnten und die sich immer weiter dehnten, so weit, daß seine Brust bei weitem nicht Raum genug für sie hatte, und es war ihm eng und glückselig zu Mute. Es war wie ein Rufen aus den Lüften: »Du wirst doch nicht in der Tiefe bleiben – ein anderes Los ist dir geworfen – du wirst dennoch einst fliegen –«, es war in ihm wie ein Wittern dünnerer, silberreiner Lüfte. Dann ging er trällernd und singend müßig umher, nichts denkend, nichts wollend, nur glücklich, und hätte niemand sagen können, warum er so heiter wäre, der noch vor einer Minute so trüb und traurig gewesen. Dann wieder, zur Nachtzeit, packten ihn wüste, lastende Träume: er sah sich in großen, finsteren Räumen, deren Wände sich langsam auf seine Brust senkten, daß er aufschrie, aus dem Bett sprang und stöhnend im Hause umherlief, bis seine Mutter ihn wieder zu Bett brachte und ihn beruhigte. Dann entschlief er wieder und sah sich wohl auf einer der grünen und silbernen Inseln liegen, die emporsteigen, wenn der atmende Busen der Elbe sich senkt, und es war ihm, als rännen alle die eilenden Fluten von seinem Herzen fort, alle die Wasser, alle von seinem Herzen, und es ward ihm immer leichter, immer wohliger, und sieh, neben ihm saß die kleine griechische Königin und strich ihm über die Stirn und lächelte mit einem holdseligen Licht aus traurigen Augen. Wenn er von ihr geträumt hatte, dann war er tagelang still und feierlich in allem, was er tat, und wenn ihn dann die lustige Flora anlachte, dann fand er sie häßlich und widerwärtig.

Die Konfirmation rückte näher und näher. Während des letzten Semesters hatten die abgehenden Schüler außer den 7½ Religionsstunden bei Herrn Cremer noch zwei wöchentliche Stunden beim Prediger. Herr Cremer sprach zu den Katechumenen mit immer feierlicherem, wehmütigerem Ernst. Er schied ungern von den Kindern und die Kinder ungern von ihm. Und jedem erteilte er den Ritterschlag; das war ein altehrwürdiger Brauch. Herr Cremer gab nämlich jedem Konfirmanden vor seinem Abgang bei irgend einer passenden Gelegenheit noch eine fühlbare Ohrfeige. Darauf konnte man rechnen, wie auf wenige Dinge in der Welt, und wer sie nicht bekommen hätte, würde sich zurückgesetzt gefühlt haben. Denn einmal war sie die besiegelte Bestätigung, daß man der Schule entwachsen und gewissermaßen ein junger Mann sei:

Zuo gotes unde Marîen êr,
disen slac unde keinen mêr –

zum andern aber fühlte auch jeder, daß der alte Mann in diesem Schlag noch einmal alle Sorge und Liebe zusammenfasse und alle treuherzigen Lehren und Ermahnungen unwiderbringlicher Jahre in einem kurzen Symbolum den Scheidenden auf den Weg gebe. Und alle bekamen sie den Schlag, selbst Julius Tipp, der Fleckenlose.

Während des ganzen letzten Jahres hatte in der Klasse des Herrn Cremer auch Herr Bendemann Stunden gegeben. Und in einer der letzten Stunden hatte Herr Bendemann den immer noch kleinen Asmus wieder einmal mit seinen grundklaren und grundgütigen Augen so lange und so bohrend angesehen, daß man glauben konnte, er wolle mit seinem Blick auf der andern Seite des Asmus Semper wieder hinaus. Und endlich hatte er gefragt:

»Was willst du werden, Asmus?«

»Ich weiß nicht«, hatte Asmus gesagt.

Dann hatte Herr Bendemann ihn noch einmal beinah ebenso lange angesehen und dann hatte er langsam seinen Blick in sich zurückgezogen und war gegangen.


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