Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII. Kapitel.

Ein Segler und Wolkenschieber taucht auf und hat Iphigenie, Medea, Münchhausen und Eulenspiegel an Bord.

Genau um diese Zeit war es, daß an einem Morgen ein langer, hagerer Jüngling zur Stube hereinsegelte, sogleich auf Leonhard und Johannes lossteuerte und mit rollenden Augen ausrief:

»Ooh – Menschenkinder! Gestern die »Iphigenie«. Ooh! Die Charlotte Wolter – ooh! Guten Morgen! Guten Morgen!«

Man muß von »segeln« sprechen; denn seine langen Rockschöße flatterten hinter ihm her wie Segel. Er war ein siebzehnjähriger Jüngling; aber er trug den ausgewachsenen Rock, den sein Vater abgesetzt hatte. Aber trotz der reichlichen Gewandung sah man immer die Ecken seiner Ellbogen und Knie. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und seufzte:

»Wie sie das gesprochen hat, ihr wißt wohl: »Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht –« und er schnellte wieder empor, warf die Augen gegen die tabakgebräunte Decke des Zimmers und rezitierte unerschrocken mit hallendem Pathos das ganze Parzenlied. Dann sank er wieder auf den Stuhl, schob seine habsburgische Hängelippe vor und neigte den Kopf auf die Seite wie Friedrich Schiller.

»Heute gibt sie die »Medea«,« rief er dann und sprang wieder in die Höhe.

»Geht ihr mit? Ich geh' hin!«

Aber Leonhard und Johannes hatten kein Geld. Ein Platz kostete fünf Schillinge.

»Ich hab' acht Schilling, drei kannst du kriegen!« sagte der Segler zu Leonhard.

Johannes hatte zwei Schillinge; die wollte er Leonhard dazu leihen; dann konnte der mitgehen.

Leonhard hätte wohl gern mit Großmut abgelehnt; aber er bracht' es nicht fertig.

Johannes saß da mit dem Antlitz eines Edlen, der die Ohren hängen läßt.

Da taten sich Ludwig Sempers große Augen auf und sprachen zugleich mit seinem Munde zu Johannes:

»Du kannst auch hingehen. Ich bringe wohl noch so viel zusammen.«

Da war im Hause Semper eine solche Fröhlichkeit und Seligkeit, daß Asmus, der auf dem Fußboden saß, dachte: Heut' ist ein großer Festtag.

Am andern Morgen wurden nicht besonders viele und nicht besonders gelungene Cigarren angefertigt. Ueberall stand Medea im Wege, überall flimmerte das goldene Vließ, loderten die Flammen von Kreons Königsburg. Die Hände hielten im Tabakrollen inne, und die Augen starrten auf die Leichen von Aeson und Absyrtus. Und schon in beträchtlicher Frühe fuhr der Segler herein, legte bei und warf Anker.

»Na? Na? Was? Junge! Mensch, wie sie ihren Mantel zerreißt – rraatsch – von oben bis unten, was? Oo! Und dann – du –.« Der Segler warf seine rechte Hand weit von sich in die Luft –:

»Zurück! Wer wagt's, Medeen zu berühren?
Merk auf die Stunde meines Scheidens, König,
Du sahst noch keine schlimmre, glaube mir.
Gebt Raum! Ich geh'! Die Rache nehm' ich mit.«

»Ja«, rief Leonhard, und wie sie sagt:

»Jason, ich weiß ein Lied! oo!«

»Ja«, rief Johannes, und wie sie die Leier zerbricht! Haa!«

Und so oohten und haaten die drei ohne Aufhören, und Ludwig Sempers Augen versanken tief in den Brunnen der Erinnerung und stiegen lächelnd und feuchtglänzend wieder empor. Die Aesthetik dieser Jünglinge bestand in »Ooh« und »Ha« und »Großartig« und »Kolossal«, und seltsamerweise brannten dennoch ihre Herzen im wahrsten und heiligsten Feuer, das je die Kunst entzündet hat.

Heinrich Moldenhuber hieß der Segler und war der Sohn eines armen Arbeiters, der in einer Zuckerfabrik mit saurer Mühe kargen Lohn erwarb. Leonhard und Johannes aber, die ihn in einer jämmerlichen Abendschule kennen gelernt hatten, nannten ihn mit plattdeutscher Volksetymologie nicht anders als »Wolkenschieber«. Für Asmussens Entwicklung hatte der Wolkenschieber eine zweifache Bedeutung.

Erstens pflegte er, sobald er eingetreten war, Asmussen den Rücken zuzuwenden; Asmus pflegte dann mit seinen kurzen Aermchen in die Tasche des Rockschoßes hinabzufahren, wobei er sich schrecklich anstrengen mußte, um den Grund zu erreichen; aber endlich pflegte er einen großen runden Apfel ans Licht zu bringen.

Zweitens führte der Wolkenschieber, ohne daß er es wußte, den kleinen Semper in die deutsche Literatur ein. Mochten Ludwig Semper und die drei Jünglinge auch von Dingen sprechen, die er nicht verstand, er hörte ihnen zu, ohne daß sie es merkten; sein kleines Herz stand weit offen, wie ein Kirchlein am Sommersonntagmorgen, und feierte einen sonnigen Gottesdienst. Wenn er auch ihre Worte nicht begriff, das Strahlennetz, das sie alle umspann, umspann ihn mit; er fühlte: was sie jetzt reden und denken und meinen, das ist etwas Schönes, Herrliches, Festliches, man sieht es ihnen an. Die Literaturgeschichte kam etwas bunt zu Platze; dann war von Goethe die Rede und dann von Rabener, dann von Herder und dann von Lichtwer, jetzt von Shakespeare und jetzt von Musäus, nun von Hebbel und gleich darauf von Uz. Fast jedesmal, wenn er erschien, brachte der Wolkenschieber Bücher mit, und mit denen, die die Semper besaßen, macht' es eine stattliche kleine Bibliothek. Auf der Karre am Spielmarkt konnte man ganze Dramen von Schiller und von Leisewitz, sämtliche Gedichte von Heine und von Hagedorn für einen Schilling kaufen. Das seltene Taschengeld der drei wanderte auf die Karre oder ins Theater. Wundervolle Bücher waren es, ganz alte, stockfleckige, mit Kupferstichen geschmückte Bücher, in die zuweilen ein Besitzer aus Urgroßvaters Tagen mit schöner Schnörkelschrift seinen Namen geschrieben hatte. Wenn man nur hineinschaute, wurde es einem friedlich und sanft ums Herz. Da war ein Exemplar des »Don Carlos«, in das jemand seinen Namen geschrieben hatte, als Schiller noch lebte! Aus Goethes Lebenstagen waren viele darunter; der hatte ja noch zu Ludwig Sempers frühen Tagen gelebt! Wie manches liebe Mal hatte Ludwig erzählt, er vergesse nie den Märzmorgen, an dem der Justizrat quer über die Straße dem Herrn Carsten Semper zugerufen habe: »Wissen Sie schon? Goethe ist gestorben!«

Der fünfjährige Knabe saß stundenlang am Tisch oder in einem Winkel auf dem Fußboden, wandte Blatt für Blatt dieser Bücher um, schaute still hinein und begann hin und wieder zu lesen. Er schlug ein Buch auf:

Julius von Tarent.
Von Johann Anton Leisewitz.

Er hatte gehört, daß darin ein Bruder den anderen umbringe. Das mußte herrlich zu lesen sein! Er fing damit an. Aber es ging doch nicht. Es war zu schwer. Er nahm ein anderes Buch, von dem sie gesprochen hatten: »Zimmermann, Ueber die Einsamkeit«. Das wollte er lesen. Aber das ging auch nicht. Das war noch schwerer. Da eines Tages kam Leonhard nach Hause gesprungen und schwang ein Buch in der Rechten. »Münchhausen, Münchhausen!« rief er. Es hatte wohl seine Gründe, daß Münchhausen gerade ihm gefiel. Asmus machte sich darüber her und das gefiel auch ihm. Aber was ihn ergötzte, war nicht die Lügenkraft des Erzählers, sondern die Wunderbarkeit seiner Abenteuer. Man hatte ihm gesagt, daß das alles Lügen seien; aber Asmus glaubte dem köstlichen Baron und nicht seinen Brüdern. Er liebte diesen Mann, der so Seltsam-Köstliches erfahren hatte, und er nahm ihn im stillen gegen den Vorwurf der Lüge in Schutz. Er fand den Hirsch mit dem Kirschbaum auf dem Haupte sehr schön, und folglich glaubte er an ihn. Und warum sollte der Baron nicht auf einer Kanonenkugel durch die Luft geritten sein? Es mußte ja herrlich sein, so über Felder und Wälder dahinzufliegen! Freilich, die Sache mit dem am Monde befestigten Strick, der oben abgehauen und unten wieder angeknotet wurde, die machte ihm Kummer, die war verdächtig . . . . . . .

Und eines Abends, als Asmus den gesetzmäßigen Apfel aus der tiefen Rocktasche herausgeholt hatte, rief der Wolkenschieber: »Auch in die andere Tasche!« und siehe da, aus der dunklen Tasche stieg lachend »Till Eulenspiegel« hervor. Auch dieses Buch nahm Asmus von einer besonderen Seite. Er fand einige Streiche Eulenspiegels sehr lustig und lachte über sie; die meisten fand er dumm, und sie langweilten ihn. Aber das Büchlein aus grobem, vergilbtem Papier war mit altertümlichen, groben Holzschnitten geschmückt, und die hielten ihn lange fest. An einem Sonnabend Abend hatte er das Buch bekommen, und nun fand er es wunderschön, sich abends, wenn der letzte Tagesschein durchs Fenster fiel, tief in den Winkel neben dem Ofen zu drücken und die Bilder still zu betrachten; am schönsten aber fand er's an Sonnabend-Abenden, wenn er dabei an den kommenden Sonntag dachte. Er las jedes der Bilder Strich für Strich wie Buchstaben; er sah hinter den Bergen und Mauern der Bilder Menschen und Dinge, die gar nicht darauf waren; er verfolgte die Linien der Hügel und Bäche weit, weit über den Rahmen des Bildes hinaus, und ein tiefes, warmes Behagen schloß ihn so fest in die Arme, daß er den Kopf duckte wie ein gestreicheltes Kätzchen.


 << zurück weiter >>