Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XXXVI. Kapitel.

Von düstern Nächten und blassem Mondschein.

Diepenbrooks Theater hätte Asmus wohl ganz wieder zurückgezogen ins warme, rosiggoldene Land der Faulheit, wenn sein Vater nicht gar zu krank gewesen wäre. Ludwig Semper lächelte jetzt nur noch um einer Freude willen, wenn nämlich sein Asmus mit einem neuen Erfolge aus der Schule heimkam, wenn er bei Herrn Cremer der einzige gewesen war, der eine geometrische Aufgabe löste, oder wenn Herr Bendemann, jener Herr Bendemann mit den geraden grauen Augen, der aussah, als wenn seine Vorfahren zwanzig Generationen hindurch preußische Beamte gewesen wären, und der Asmus einmal so genau wie ein Richter nach seinen Personalien gefragt hatte, wenn also jener Herr Bendemann mit dem überhangenden Schnauzbart gesagt hatte: Asmus Semper hat den besten Aufsatz geschrieben. Und Asmus erzählte dergleichen seinem Vater, weil er wußte, daß er dann trotz aller Qualen lächelte. Aber Ludwig Semper war so unvernünftig lange krank und arbeitsunfähig, daß ihm die Krankenkasse endlich keine Unterstützung mehr zahlte. Da fing das längste und härteste Elend der Semper an. Die Zeiten waren wieder schlechter geworden, und was man ohne Ludwigs Hülfe verdiente, das reichte höchstens für die Hälfte der Woche. Die Rippen, die aus den Tabaksblättern herausgezogen wurden, durften die Hausarbeiter zu eigenem Nutzen verkaufen, und sobald sich ein Häuflein angesammelt hatte, stopfte es Asmus in einen Sack und trug es nach einer Fabrik, wo aus den Rippen Pfeifentabak gemacht wurde. Da hieß es dann gewöhnlich: »Wir haben mehr als genug, wir können keine brauchen.« Dann sagte Asmus offen heraus: »Kaufen Sie mir sie nur ab, bitte, wir haben kein Geld mehr.« Dann berieten die Arbeiter untereinander, ob sie es gegen das Verbot ihres Fabrikanten wagen dürften, und sie hatten Mitleid mit ihm und nahmen sie ihm ab, und seelenfroh brachte er die drei oder vier Groschen seinen Eltern ins Haus. Mit Borgen und Sorgen schleppten sich die Sempers hin; als aber Ludwig noch immer nicht gesundete und darum in der Arbeit eins und das andere versehen wurde, da nahm ihm der Fabrikant die Arbeit und gab sie einem andern. Die »Bude flog auf«; die Sempersche Akademie der Wissenschaften und schönen Künste löste sich auf für immer.

Wohl verdienten Johannes und Alfred ihr Brot außer dem Hause, und Asmus half hie und da in einer Kneipe beim Kartoffelschälen und Kegelaufsetzen; aber das reichte bei weitem nicht für sieben. Mit bangen Blicken betrachtete Rebekka Semper den neuen Gerichtsvollzieher, der in den Ort gekommen war und der wegen der rückständigen Steuer gemahnt hatte. Und er sah auch drohend genug aus: Lang, hager und steif wie ein Ladestock, mit grauen, buschigen Brauen und grauem, buschigem Schnauzbart, und sein Blick durchbohrte wohl eine ganze Schwadron auf einmal. Er war auch lange, lange Zeit Wachtmeister gewesen. »Das ist so'n richtiger Preuße!« sagte Rebekka, »der sieht aus, als wenn's ihm Spaß machte, den Leuten das letzte Hemd zu nehmen.« Sie mochte die Preußen nicht und meinte, »wir wären besser unterm Dänen geblieben. Da bezahlte man einen Schilling Kopfsteuer und damit basta.«

Vor dem Gerichtsvollzieher aber kam noch ein anderer, das war der fette Brotmann, der immer so aussah, als ob er heimlich noch etwas anderes betriebe. Der wollte sein Geld haben. Als Ludwig ihn ersuchte, zu warten, weil er jetzt nichts habe, da traf der Mann die schwächste, empfindlichste Stelle der Sempers. Er zeigte nach der Gitarre des Johannes, die an der Wand hing, und rief höhnisch: »Soo? Sie haben doch Geld für solcherlei dummes Zeug!«

Da wuchs Ludwig Semper so hoch empor, wie ihn Asmus noch nie gesehen hatte. Er war aufgestanden, zeigte nach der Tür und rief.

»Scheren Sie sich augenblicklich hinaus!«

»Jawohl, auch noch hochnäsig! Na, warten Sie – Sie werden von mir hören!« rief der Mahner; aber dann war er auch schon draußen, weil es ihm unter den Blicken des Alten doch nicht ganz wohl zu Mute war.

Asmus hatte diesem Auftritte beigewohnt, und ihm war es, als ginge es nun geradeswegs in Untergang und Tod hinein.

Und nach dem Brotmann kam noch ein härterer Mann, das war der Winter. O weh, der lockte nicht mehr so freundlich wie einst im »Holstenloch«, als Weg und Busch und Sonne geflüstert hatten: »Komm nur, komm!« Denn Asmus hatte keine Stiefel mehr und keinen Mantel und keine Handschuhe, und der Winter war härter als der Winter des Kriegsjahres. Es ist ein tiefes Elend, zu frieren; es greift tief, tief in die Seele hinein. Es ist das verzagteste Elend von allen; der Frierende, dem der Schnee durch die Strümpfe und der Ostwind bis in die Achselhöhlen dringt, er hofft nichts mehr, er glaubt nichts mehr, er will auch nichts mehr; er möchte sich am liebsten im nächsten Augenblick am Weg hinlegen und sterben. Er ist der verlassenste von allen Betrübten; selbst die nächste Freundin des Menschen: die Luft, ist seine Feindin geworden, und die Sonne verhöhnt ihn; denn je heller ihr Schein, desto schärfer der Frost. Es war wieder ein Weihnachtsmorgen, als er mit dem Korb am Arm und dem Milchtopf in der erstarrten Hand von einem kärglichen Einkauf zurückkam. Als Vierzehnjähriger schämte er sich bitterlich des Weinens; aber er konnt' es nicht ändern: eine Träne nach der andern rollte die Wangen herunter. Da begegnete ihm ein breitschulteriger Arbeiter, der beide Hände in den Hosentaschen hatte, der Glückliche! Und der lachte übers ganze Gesicht, als er den Knaben sah, und rief:

»Na, mein Junge? Die Szonne ßticht wohl heute 'n büschen, was?«

Und Asmus, der Scherz und Lachen liebte wie sein Leben, er konnte sich jetzt nicht mehr bezwingen: das Wasser schoß ihm in Bächen aus den Augen, und er weinte mit Bewußtsein, mit Leidenschaft, mit verbissener Lust am Leiden.

Nein, er war nicht mehr der lachlustige, warmblütige Knabe; in diesen Tagen des grauen Kummers war ein seltsamer Geist über ihn gekommen. Ein Mitschüler hatte ihm »Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher-Stowe« geliehen. Darin wird erzählt von einem kleinen Mädchen, einem Engel in Kindesgestalt, Eveline Saint Clair, einem Kinde, das zu zart, zu schön und fromm ist für die Erde, das wie eine Wolke, die vom Himmel gekommen ist, wieder aufschwebt zu seiner Heimat und aufgesogen wird vom Lichte des Himmels. Die betäubende tropische Sentimentalität dieser Erzählung überwältigte das trauernde Gemüt des Knaben so ganz, daß er beschloß, so fromm, so sanft und gut zu werden wie jener Liebling des Himmels: er, der kratzbürstige Kämpfer, der mit geballten Fäusten gegen Klaus Rampuhn gerannt war wie eine Schwalbe gegen einen Kirchturm – er wollte werden wie der Engel Eveline. Er wollte nicht mehr trotzen und widerreden, wenn seine Mutter ihn schalt oder schlug, er wollte dulden und leiden, ohne Murren und ohne Haß, im Hause und in der Schule; er wollte unendlich sanft, gut und fromm sein und alle Menschen lieben. Dann, so hoffte er, würde er so schön werden wie Eveline Saint Clair, und bald sterben. Er freute sich nun des Leidens, weil es ihn dem ersehnten Ziele näher brachte; ja, er aß und trank weniger als sonst, um seine Auflösung zu beschleunigen.

Aber solche Stimmungen gedeihen besser im feuchtwarmen Klima des Wohlstandes als in der rauhen Luft des Mangels. Brutale, platte Wirklichkeiten setzten sich frech und breit an die Stelle des seraphischen Traumes. Zunächst kam der grimmhaarige Gerichtsvollzieher, um Pfändungszettel anzukleben. Und da gab es eine große Ueberraschung. Als Rebekka Semper diesem »richtigen Preußen« ihre Not klagte, da zeigte sich, daß der Mann mit dem schwadronendurchbohrenden Blick eine ganz weiche Stimme hatte.

»So, so«, sagte er, »na dann wird die Sache wohl – dann wird sich die Sache wohl – auch noch anders machen lassen – dann beruhigen Sie sich nur, liebe Frau – dann will ich es schon machen, daß die Sache –, daß Ihnen nichts passiert. Adieu! Machen Sie sich nur keine Sorgen mehr.«

Und er ging hin und bezahlte die Steuerschuld der Semper aus eigener Tasche.

Als Asmus das hörte, da schwoll ihm das Herz so sehr, daß es die ganze Brust anfüllte, und er nahm sich vor: Ich will ein Gedicht auf ihn machen. Das – das war wieder so etwas, was man nur in Versen sagen konnte.

Aber die Pfändung kam doch; denn der Brotmann hatte geklagt. Ludwig Semper hatte gebeten, daß der Wagen am späten Nachmittage kommen möchte, und er kam, und das Sofa, der Spiegel, das liebe Klavier, Tisch und Stühle, alles, was nicht ganz unentbehrlich war, verschwand für immer im Dunkel des Elends. Es war gekommen, wie auf jenem Bilde in der »Gartenlaube«: Rebekka weinte, und Ludwig stand im öden Arbeitszimmer, die Arme auf den Tisch gestemmt, mit keuchender Brust und vor sich hinstarrend. Als man bei den Semper zum ersten Male gepfändet hatte, da war es dem kleinen Asmus fast ein Vergnügen gewesen, als die Stube so schön geräumig wurde und ein ganz anderes Gesicht machte. Nun stand er dabei und betrachtete die schuldlosen Handlanger der Justiz wie seine Todfeinde, und Gram, Verzweiflung, Haß, Wut und Mitleid mit den Eltern wühlten in seinem Herzen in unaufhörlichem Kampfe durcheinander. Von nun an, wenn Herr Cremer in der Schule von Staat und Regierung sprach, stieg sein Herz wie ein scheuendes Roß in der Schlacht. Denn der Staat war sein Feind, die Regierung war sein Feind, das Gericht war sein Feind, der König war sein Feind. Er war zu jung, um anders zu denken, und hierin war er der Sohn Rebekkens. Er dachte an sein Ideal Eveline Saint Clair, und er sagte vor sich hin: »Ich kann es nicht – das kann ich nicht.«

Und doch stand auch in dieser nächtigen Zeit der Mond am Himmel und gab einen blassen, tröstenden Schein. Asmus faßte eine innige Liebe zu dem zweijährigen Söhnchen eines Nachbars. Es war darin etwas Wunderliches mit ihm: selbst noch in allem ein Kind, liebte er die Kinder über alles, liebte sie wie ein Erwachsener. Die holde Zartheit, Heiterkeit und Anmut der Kinder dünkte ihn wohl das Schönste im ganzen Garten der Erde. Damals im »Düstern langen Balken« hatte er Reinhold abgöttisch geliebt – der war jetzt ein hübscher Bengel und gescheiter Schüler; dann war er ganz und gar vernarrt gewesen in Adalbert – auch der ging schon zur Schule und baute nebenher Maschinen – nun, da Rebekka Semper nach ihrer dreizehnten Entbindung kein Kind mehr bekam, hatte ihm ein freundliches Geschick einen neuen Bruder geschenkt in dem kleinen Rodrigo. Denn das Kind hieß Rodrigo, weil der Vater, ein Tischler und Säufer, einmal in Südamerika gewesen war und Asmus liebte es wie sein Brüderchen oder gar wie seinen Sohn. Er lag stundenlang vor ihm auf dem Boden, und es war ihm, als höre er, was in diesem blonden Köpfchen und in diesem warmen kleinen Herzen vorginge; er sprach und spielte mit ihm in seiner Sprache, strich ihm über die Locken, küßte es auf den Mund und betrachtete dann wiederum lange seine goldhellen Augen. Und nie wurde das Kind seines unverhältnismäßigen Gefährten müde, ja, es kam oft genug vor, daß es vom Arme seiner Mutter mit beiden Aermchen nach dem Halse Asmussens langte, und dann war Asmus so stolz, als habe er das russische Reich erobert. Ja, er fühlte wie ein Vater für dieses Kind. Eines Abends kam die Mutter des Kleinen in bleicher Angst zu den Sempers: ob sie nicht zum Arzt schicken könnten; ihr Mann habe wieder das Delirium und sehe lauter Ratten und Mäuse. Reinhold wurde zum Arzt geschickt; Asmus aber schlich schon in der nächsten Minute die Treppen zum obersten Stockwerk hinauf. Mit laut klopfendem Herzen stand er vor der Tür der Mansardenwohnung und horchte. Da trat der Kranke heraus, scheinbar ruhig, und sagte:

»Sieh da, Asmus! Ach, hör' mal, mein Junge, du könntest mir wohl für zwei Groschen Schnaps holen.«

»Ja«, sagte Asmus bleich und zitternd. »Ich hab' aber keine Flasche!«

»Richtig, mein Junge, ich will dir eine holen.« Und der Wahnsinnige verschwand in der neben dem Zimmer liegenden Küche. Wie der Wind fuhr Asmus in die Stube hinein, riß den am Boden sitzenden Rodrigo in die Höhe und stürmte mit ihm in wilder Flucht die Treppen hinunter. Er ließ ihn an diesem Abend nicht wieder von sich; das Kind mußte in seinem Bette mit ihm schlafen. Er war so erregt, daß er stundenlang nicht einschlafen konnte, und immer mußte er den lieblichen Schläfer betrachten, der zwiefach unbewußt ein trauriges Schicksal verschlief.

Bald darauf trat die tiefste Verfinsterung im Schicksale der Semper ein.


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