Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXIII. Kapitel.

Vom herrlichen Herrn Cremer, von einer prachtvollen Hose und von wunderbaren Volksrednern.

Und einmal war unter den Arbeitern auch eine Arbeiterin, eine junge, ansehnliche Zurichterin namens Jette. Mit ihr kam ein besonderer Geist in die Arbeitsstube. Die Arbeiter machten Witze, die Asmus nicht verstand und über die sie doch ganz unbändig lachten; auch Jette drückte den Kopf tief auf ihre Arbeit und kicherte heftig. Einmal, als Asmus an der Formenpresse stand und sie andrehte, machte er eine Bemerkung, über die sowohl Jette wie die Arbeiter in ein großes Gelächter ausbrachen. Der Knabe blickte verdutzt umher: er begriff nicht, was er Komisches gesagt habe; aber er ahnte, daß sie über etwas Unanständiges, Geheimes und Verbotenes lachten. Das konnte er schon daraus schließen, daß in Gegenwart seines Vaters nie dergleichen gesprochen wurde. Ludwig Semper brauchte sich solche Gespräche nicht zu verbitten; in seiner Gegenwart schwieg all dergleichen von selbst.

Aber Asmus wußte auch schon, daß es in den Beziehungen der Geschlechter etwas gab, was man Kindern verbarg, worüber nicht gesprochen werden durfte, was zu tun und worüber sich zu unterhalten ungeheuer unanständig und schlecht war. Die vollkommene Harmlosigkeit, mit der er sonst die zweierlei Menschen angesehen hatte, war erschüttert, und den stärksten Stoß hatte ihr die Bibel gegeben. In der Oberklasse bei Herrn Cremer benutzte man die Bibel, und zwar fleißig. Jeden Tag ließ er drei bis fünf große Bibelstellen auswendig lernen, was Asmus dergestalt zu Wege brachte, daß er sie unmittelbar vor der Religionsstunde einmal durchlas; dann wußte er sie. Und in der Bibel zeigten die Knaben einander mit verstohlenem Blinzeln und Lächeln allerlei interessante Stellen.

Auch in der Klasse des Herrn Cremer kam die Religion nicht zu knapp, wenigstens nach Meinung der vorgesetzten Behörden nicht, die der Ansicht huldigten, daß man das kindliche Gemüt so lange mit Bibelsprüchen, Chorälen und Religionsstunden vollstopfen müsse, bis es gewissermaßen mastfromm würde. Aber in dem Unterrichte des Herrn Cremer gab es etwas ganz Vortreffliches, und das war Herr Cremer selbst.

Herr Cremer nämlich war, um es kurz zu sagen: ein herrlicher Mann. Er stand an der Schwelle des Greisenalters und war feuriger als die meisten Jünglinge. Er sah aus wie ein Graf aus altadeligem Geschlechte und war schlicht und freundlich mit allen. Er hatte nur ein ganz dünnes, gespaltenes Rohrstöckchen, das er seit vielen Jahren immer wieder zusammengebunden hatte und mit dem er milde und väterlich schlug, und die größten Rüpel hatten heiligen Respekt vor ihm. Das zeigt den Mann. Er war ein schöner Mann; aber eben kein schöner Mann, wie ihn die Ladenmädchen sich denken; sein rechtes Auge lag viel tiefer in der Höhle als das linke; aber es blickte unter dem vorragenden Stirnbein hervor wie ein Adler unter einem überhangenden Felsen. Und mit diesem Adlerblick, wenn er zürnte, mit seinen zitternden Nasenflügeln, seinem immer kurzgeschorenen, edelgrauen, tadellos geformten Aristokratenkopfe und seinem eisenfarbigen Barte konnte er aussehen wie ein humaner Herzog von Alba oder Wallenstein. Und dieser Mann, der im Jahre wohl 700 Bibelstellen und 25 Choräle auswendig lernen ließ und jede der 5 Religionsstunden um die Hälfte ausdehnte, so daß es 7½ wurden, er war trotz alledem fromm, echt und ehrlich fromm und glaubte alles, was er lehrte.

Er glaubte auch an seine Sendung, an die Heiligkeit und Fruchtbarkeit seines Berufes, und wenn ein Mensch solchen Glauben hat, so brennt das Feuer dieses Glaubens in all seinen Worten und all seinem Tun. An der Hand dieses Mannes schritt Asmus Semper durch die Hallen und Säle der Geschichte mit traumhaft zögernden, weilenden Schritten, mit weitgeöffneten, gebannten Augen. Denn auf den Lippen und in den Augen dieses Erzählers wurde alles Versunkene wieder lebendig, alle Menschen und Reiche, alle Tempel und Schlachtfelder der Vergangenheit, wurden Sanherib lebendig und Sesostris, das rasende, brausende Wetter der Völkerwanderung und der verzauberte Zug der Abendländer nach dem Morgen unter Gottfried von Bouillon. Mit allen Saugorganen seiner Seele heftete sich der dürstende und hungernde Asmus an die Seele dieses Mannes, wenn er erzählte oder schilderte. Denn auch zu schildern vermocht' er; die Levante wie die äußerste Thule erwachte vom Hauch seines Mundes, das Pendschab wie die Oase Siwah, und er wußte beredt zu berichten von Dattelpalme und Zuckerrohr, von Zimt und Cassia. Nur kann man sich leider auch bei lebendigster Schilderung keine Vorstellung von einer Cassiastaude machen, und Anschauungsmittel besaß die hohe Schule von Oldensund nur drei. Das waren ein Panamahut und ein Rock von chinesischer Seide – die gehörten Herrn Cremer – und eine Luftpumpe. An schönen, heißen Sommertagen erschien Herr Cremer in dem chinesischseidenen Rock und dem Panamahute, und wenn dann Amerika daran war. dann zeigte er zur Veranschaulichung den Hut, und wenn Asien daran war, zeigte er den Rock. Ein Schelm gibt mehr, als er hat. Die Luftpumpe aber war schon seit Jahrzehnten keine Freundin von Experimenten; sie widersetzte sich seufzend und fauchend allen Versuchen, und wenn man die Luft vorn herausgeholt hatte, ließ sie sie hinterlistig durch irgend ein neues Loch wieder herein.

Gleich zu Anfang ihres gemeinsamen Wirkens gerieten übrigens Herr Cremer und Asmus in einen Konflikt. Herr Cremer hatte seinen Schülern fünf oder sechs Beweise für die Kugelgestalt der Erde gegeben und verlangte nun, daß sie sie aus dem Gedächtnis niederschrieben. Asmus schrieb einen Beweis hin und setzte darunter »usw.« Denn er sagte sich: was bewiesen ist, ist bewiesen. Etwas fünfmal beweisen ist lächerlich und erweckt nur den Anschein, daß die Beweise nicht viel taugen. Herr Cremer aber erblickte in diesem »usw.« den Ausdruck einer außergewöhnlichen Faulheit und machte aus dieser Auffassung auch durchaus kein Hehl. Bald aber verstanden sich diese beiden Menschen und wurden die allerbesten Freunde.

Indessen: das Glück hatte den kleinen Asmus von jeher knapp gehalten, damit er nicht übermütig werde. Wenn es ihm einen leckeren Kuchen hinhielt, so ließ es ihn einmal abbeißen, dann zog es ihn wieder zurück, und es ist schon möglich, daß es damit eine sehr gute Absicht verfolgte, die aber der Knabe nicht verstand. Auch in dieser Klasse fiel Asmus auf sowohl durch sein Wesen im allgemeinen, dem nicht jeder Spielkamerad gefiel, als auch durch die Unverschämtheit im besonderen, mit der er eine ganze Reihe bemooster Häupter überflügelte, alte, würdige Herren, die schon lange in der Klasse saßen und deshalb weit ältere Rechte auf die guten Plätze hatten als dieser Emporkömmling. Und seltsam: wieder sollt' es ein Kleidungsstück sein, was die Mine zum Springen brachte. Solange er die graue Hose hatte, war er geborgen, ja war allen überlegen. Diese Hose, die ihm seine Schwester Adelheid von ihrer Herrschaft mitgebracht hatte, war einfach elegant, war dandymäßig, hoffähig, eines Prinzen von Wales würdig. Sie war nach der Mode jener Zeit sehr eng und zeichnete die wohlgeformten, fast ganz geraden Beine des Asmus Semper mit wundervoller Plastik ab. Es ist begreiflich, daß er sich gewöhnte, mit gesenktem Kopfe zu gehen: er mußte die Hosen genießen; er hatte ja nie so etwas auf dem Leibe gehabt. In den Tagen dieser Hose ging er dreimal nach dem Gasthause zwischen den Eisenbahndämmen, in der Hoffnung, die kleine griechische Königin zu finden; aber er hoffte und harrte vergebens. Eines Tages aber spielte er in nächster Nähe einer Maschinenfabrik und spielte so herrlich, daß er sogar seiner Hose vergaß und ganz harmlos in einen Tümpel hineinkniete, der aus einer reinen und kräftigen Mischung von Eisenstaub, Ruß und Maschinenöl bestand. Die Weherufe und die Schläge, die von Mutter Rebekka ausgingen, waren ja das Wenigste – das Zermalmende war, daß der Flecken allen Beseitigungsversuchen mit hämischer Fettigkeit trotzte. Ein Glück, ein wirkliches, ganzes Glück war ihm vernichtet worden, nein, hatte er sich selbst in einer Minute frevelhaften Leichtsinns vernichtet! Nun mußte er doch den Ueberzieher anziehen. Bisher hatte er lieber gefroren, als seine liebe Hose zu verdecken. Aber dieser Ueberzieher, der zu weit größerem bestimmt war, als zur Bedeckung Asmus Sempers, reichte fast bis zu den Knöcheln hinab und verhüllte den bösen Fleck. So erwachsen war dieser Ueberzieher, daß ein Herr, bei dem Asmus eine Bestellung auszurichten hatte, ihn mit »Sie« anredete. Asmus fühlte sich wunderbar erhoben und dachte: Ich muß in dem Ueberzieher sehr groß aussehen. Aber das war die einzige Freude, die er an dem Kleidungsstücke erleben sollte. Sowie er damit in der Schule erschien, hieß es: »Hurra, Trudel mit'm Ueberzieher!« und die alten Leiden begannen von neuem. Die Mine war gesprungen und ihr Feuer brannte ihm auf der Haut und ins Fleisch bis ins Herz den langen, langen Winter hindurch. Und was der Ueberrock nicht tat, das tat Ferdinand Lassalle.

Das Lassalleanertum hatte in der Semperischen »Bude« starken Boden gewonnen. Johannes war unentwegter Abonnent des »Sozialdemokraten« und las oft und kräftig daraus vor. Er ging seltener in die Oper und ins Konzert, er ging vielmehr in die Volksversammlungen und schilderte am andern Morgen, wie großartig Hasenclever und Hasselmann und Most geredet hatten. Der Wolkenschieber schritt mit langen Beinen auf dem Wege des Liberalismus der Sozialdemokratie entgegen; er stand augenblicklich bei Gervinus. Was sonst an Arbeitern durch die Semperische Stube ging, war jedenfalls auf irgend eine Weise radikal, für die Armen und gegen die Reichen, für die Niederen und gegen die Hohen, für die Laien und gegen die Priester. Bei den Armen, Niederen und Laien ist das begreiflich. Sie nahmen aber nicht alles an, was Hasenclever gesagt hatte; sie stritten darüber oder es mußte einer den »Bourgeois« markieren und Gründe gegen die Sozialdemokratie vorbringen, dann führten sie heftige Debatten; denn sie glaubten durch Debatten der Wahrheit näher zu kommen, oder wenn nicht der Wahrheit, so doch ihrer Erlösung. Ludwig hörte allem, wenn er sich wohl fühlte, mit hellen, blitzenden, oft ins Ferne gerichteten Augen zu und sagte sehr selten etwas. Er las gern eine Rede von Bebel; aber er las auch gern eine von Lasker oder Windthorst, wenn sie geistreich oder schwungvoll war. Er hörte mit Freuden flammende Reden gegen Tyrannen und Blutsauger, war ein begeisterter Verehrer Dantons und war auch im Prinzip und im allgemeinen für Revolution, wenn es damit keine Eile hatte und wenn es anständig und menschenfreundlich dabei herging. In einem stimmte er mit seinen Arbeitern unbedingt überein: er mochte Bismarck nicht leiden. Der war so unsemperisch.

Johannes bekleidete aber bald einen Vertrauensposten in der Oldensunder Parteiorganisation und empfing nicht selten vornehmen Besuch von Parteihäuptern und Rednern. Ein ganz dicker war darunter, der hieß »Ganz Deitschland«; denn er sagte mit Vorliebe: »Mei Name is begannt in ganz Deitschland«. Es war ein guter, freundlicher Mann, der Asmus einmal schmeichelnd übers Haar strich, daß er ehrfurchtsvoll bis in die Wurzeln seines Wesens erschauerte. Denn der Knabe blickte alle diese Männer von der Seite mit scheuer, staunender Verehrung an, diese Männer, die vor tausend Menschen hintreten und stundenlang reden konnten. Der kleine Bursche hatte einen unendlichen Schatz von Pietät in seinem Herzen und glaubte, die in solchen Versammlungen redeten, das wären die Klügsten.


 << zurück weiter >>