Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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II. Kapitel

Von kurzem Elend und langem Jammer, von Schnedes Esel und Diepenbrocks Mond, besonders aber von dem Semperischen Leichtsinn.

Und die Erinnerung erwacht erst wieder an einem kleinen, schmalen Dorfteiche; vom Geschnatter der Enten und Gänse wacht sie auf. Und wenn sie, im Grase liegend, die Augen aufschlägt, sieht sie zwischen den Stämmen von sieben Bäumen, die am Ufer stehen, drei kleine kümmerliche Häuser stehen, von denen jedes umfallen würde, wenn es der Nachbar nicht stützte. Diese drei Häuschen hießen im Volksmunde das »kurze Elend«, weil die acht oder zehn Häuschen, die im rechten Winkel dazu standen, der »lange Jammer« hießen. Mit dem kurzen Elend darf man es nicht wörtlich nehmen. Die siebenköpfige Familie Semper, die später acht und neunköpfig wurde, hatte meistens Fleisch zu Mittag, und zwar ein halbes Pfund. Das heißt: wenn der Vater Arbeit hatte. Hatte er keine, so gab es zunächst, in der hoffnungsvolleren Zeit, Mehlklöße mit Pflaumen, später ging man zu Kaffee und Brot über, erst zu bezahltem Kaffee und Brot, dann zu geborgtem. Wenn der letzte Kredit und das letzte Fett am Ausgehen waren, schnitt die erfinderische Mutter Kartoffelscheiben aufs trockene Brot, was eigentlich den Teufel durch Beelzebub austreiben heißt. Das erstreckte sich so durch Asmussens ganze Kinderzeit. Wenn man also nicht eigentlich von Elend sprechen kann, so kann man doch auch nicht von kurz reden.

Was die Kartoffeln anlangt, so wurden sie bei Herrn Schnede gekauft, der ganz weit drüben am andern Ufer des fünfzig Schritte breiten Dorfteiches wohnte. An diesen Herrn Schnede dachte der kleine Asmus nicht ohne Groll. Als er sich eines Mittags an einer Kartoffel den Mund verbrannte und darüber klagte, daß immer die Kartoffeln so heiß wären, da sagte die Mutter: »Ja, das sind Schnedes Kartoffeln, die sind immer so heiß.« Seit dem Tage blickte Asmus mit einer gewissen Scheu nach dem alten baufälligen Strohdachhause des Herrn Schnede hinüber.

Nur der Esel konnte den kleinen Semper wieder mit Herrn Schnede versöhnen, der Esel, der jeden Morgen, den Gott werden ließ, den Grünwarenkarren seines Herrn durch das Dorf zog, oder besser gesagt: ziehen sollte. Denn dieser Esel stand immer nach drei Schritten still und war dann nur schwer wieder in Bewegung zu setzen, wie jeder Esel, der einen Gedanken hat. Dergleichen macht einen Esel für zuschauende Kinder sehr interessant, und dieses Schauspiel war um so reizvoller, als Herr Schnede ununterbrochen zu rufen pflegte: Kantüffeln, hüh! – groote Bohnen, hüh! – Kohl, witten Kohl, hüh!!« Er war ein Phantast, dieser Herr Schnede: er zog den Karren mitsamt dem Esel, und es ist kein Wunder, daß er einen feinen Künstler erzeugte, der in späterer Zeit seinem Heimatsflecken Ehre erwarb.

Daneben liebte Asmus von ganzem Herzen Herrn Diepenbrock und seinen Mond. Asmus hatte wiederholt bemerkt, daß der Mond über Diepenbrocks Hause heraufkam, und als er eines linden Abends wieder einmal an der Hand seines Vaters am Dorfteich spazierte, da fragte er:

»Vater, das ist doch Diepenbrocks Mond, nicht?«

»Ja«, sagte der Vater, »das ist Diepenbrocks Mond.« Dabei schütterten seine breiten Schultern wieder heftig auf und ab. Es war ein sehr guter Mann.

Aber auch ein leichtsinniger Mann. Das muß gesagt werden. Jede Woche kam ein Mann daher mit einem Augenschirm und einer Drehorgel, und auf dieser spielte er jahraus, jahrein das Lied:

»Du hast mich niiiie geliebt,
Das hat mich seeehr betrübt«

und fast jedesmal gab ihm Ludwig Semper einen Sechsling, selbst wenn die Uhr schon auf Kaffee und Brot stand. Dabei war der Orgeldreher wahrscheinlich lange nicht so blind, wie er sich stellte; aber das war dem leichtsinnigen Ludwig Semper ganz einerlei.

Und wenn es dabei noch geblieben wäre! Nein: am Sonnabend, wenn Ludwig Semper seine Cigarren an den grimmigen Herrn Fabrikanten abgeliefert und Geld bekommen hatte, dann kaufte er ein halbes Pfund Käse und für vier Schillinge Rum. Von dem Käse bekamen auch die Semperschen Kinder, und so kam es ihnen gar nicht zum Bewußtsein, daß sie einen sehr leichtsinnigen Vater hatten.

Am Abend machte dann Ludwig Semper ein stärkeres Glas Grog für sich und ein schwächeres für die Mutter, setzte sich ihr gegenüber, stützte beide Arme auf den Tisch und grübelte, schmunzelte, biß ingrimmig die Zähne aufeinander oder warf leuchtenden Blickes den Kopf empor und schwieg.

Das Schweigen war eine Lieblingsbeschäftigung derer vom Hause Semper. Von Zeit zu Zeit hängten sie vor den Eingang ihrer Seele ein Schild, darauf stand: »Nicht zu Hause«. Und dann zogen sie sich für Tage, mitunter für Wochen in ihr innerstes Gemach zurück, verkehrten allein mit den geheimsten Schätzen ihrer Seele und sprachen zu den Menschen nur mit den Lippen. Wenn sie dann erquickt und beruhigt wieder in die Menschheit hinaustraten, waren sie munter und mitteilsam wie junge Vögel. Schon Carsten Semper, Asmussens Großvater, hatte es geliebt, mit seinen siebzehn Napoleonbildern allein zu sein und mit dem stummen Helden, der die Brust mit gekreuzten Armen wie mit ehernen Klammern verdeckte, schweigend zu träumen von Lodi und Arcole, von Austerlitz und den Pyramiden. Ludwig Semper, sein Sohn, hatte schon einen ausgedehnteren Geheimverkehr.

Sein Vater Carsten war ein kleiner Kaufmann in Schleswig gewesen und hatte ihn das Gymnasium besuchen lassen, damit er »auf den Pastor« studiere. Die große Diele des Semperschen Ladens hatte feierabends und Sonntags morgens die Honoratioren der Stadt gesehen; sie hatten kräftiges Schwarzbrot und rosenrot und weißen Speck gegessen, alten Bommerlunder und Lütjenburger dazu getrunken, so viel sie mochten, und spottwenig dafür bezahlt, sehr wenig und noch weniger. Vielleicht aus diesem Grunde, vielleicht auch, weil sich Napoleonbegeisterung und ein Handel mit Schwefelfaden schwer in einander finden, war Carsten Sempers Geld und Geschäft zu Ende, als Ludwig Semper noch kaum mit dem Gymnasium zu Ende war. Ludwig mußte in die Welt hinaus und suchen, wo er zu essen fände, so viel zu essen, daß womöglich für seine Eltern hin und wieder einige Speziestaler abfielen. Er fand denn auch eine Stellung bei einem Küfer, wo er lernte, die Weine zu schönen und zu verschneiden. Aber der gute Küfer hatte bei seinen Weinen kaum sein Brot und mußte den Gehilfen bald wieder entlassen. Kämpfen und zähe sein war nun nicht Ludwig Sempers Sache. Er traf einen fidelen Gesellen, der zu ihm sagte: »Komm mit und lern' Cigarren machen; es ist bald gelernt, du findest hier reichlich Arbeit, hast dein Brot und kannst bei der Arbeit nachdenken, soviel du willst.« Ludwig Semper dachte: Ich will es tun; morgen oder übermorgen find' ich schon was Besseres. Und dieses Morgen und Uebermorgen währte bis an sein Ende – da fand er Besseres.

Nur einmal wurde diese glänzende Karriere unterbrochen. Im Jahre 1848 mußte Ludwig Semper in den Krieg für die Befreiung Schleswig-Holsteins ziehen. Er focht bei Kolding und Idstedt und kehrte im Jahre 50 an das Cigarrenbrett zurück. Natürlich hatte er noch kurz vor Ausbruch des Krieges geheiratet; denn, wie ein neuer Tacitus berichtet: Die Deutschen heiraten sehr früh. Die junge Frau Semper wußte zwar nichts von Vergil und Xenophon und hätte leichtlich fragen können, wo sie wohnten und welches Gewerbe sie betrieben; dafür aber verstand sie sich vorzüglich auf die Krankenpflege. Als Ludwig Semper verwundet nach Kiel gebracht worden war, war sie seine Pflegerin geworden, und er mochte sich sagen, daß man mit einer guten Krankenpflegerin nie ganz schlecht fahren könne. Es ist aber keineswegs sicher, daß er sich das gesagt habe; denn in Herzenssachen pflegte Ludwig Semper nicht erst nachzudenken, sondern schnell zu handeln. So kam es, daß, als der Krieg begann, schon ein junger Semper zu erwarten stand.

Und als der Vater Flinte und Tschako ergreifen mußte, da besann sich die schnelle, muntere zwanzigjährige Mutter nicht lange und wurde wieder Krankenhüterin. Acht Tage, nachdem sie einer kleinen Semperin das Leben gegeben hatte, stand sie auf, um des Tages zu nähen und nachts im Kinderhospital zu wachen. Und dabei wachte sie so zuverlässig, daß die Aerzte ihr stets die schwierigsten Fälle überwiesen.

Wäre Ludwig Semper ein Streber gewesen, so hätte er nach dem Kriege vielleicht Gelegenheit gefunden, in eine höhere Gesellschaftssphäre hinaufzuglimmen; da aber niemand kam und ihm etwas anbot und überdies infolge eines Urlaubs abermals eine kleine Schleswig-Holsteinerin angekommen war, so war er nur froh, alsbald wieder Cigarren machen und dabei grübeln zu können. Der neue Tacitus sagt auch, daß die Deutschen gewöhnlich viele Kinder hätten. Ludwig Semper und seine Frau Rebekka waren deutsch wie wenige; sie bekamen im Laufe der Jahre gar manches Kind, und ungefähr das neunte oder zehnte nannten sie Asmus.


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