Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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X. Kapitel.

Wie Asmus in der Ebene eine Talwiese fand, sich zweimal hintereinander verliebte und von Johannes getauft wurde.

Wohin die Semper aus dem »Düstern langen Balken« zogen, da war wieder Oldensund und da hieß es »Am Rain«. Am Rain, am Rain, da wuchsen keine Reben, da wuchsen nur alte, niedrige, schmutzige Häuschen, die sich menschliche Wohnungen nannten, und neue, hohe, weißgetünchte Klötze, die sich ebenfalls menschliche Wohnungen nannten und noch viel häßlicher waren. In einem dieser neuen Häuser wohnten die Semperischen.

Aber erfahrene Leute wie Asmus Semper pflegen in solchen Gegenden um die Ecke zu gehen, und wenn man um die Ecke der Straße unter dem Tunnel des ersten Eisenbahndammes hindurchging, dann fand man nicht nur weite, unbebaute Strecken, man fand sogar Berg und Tal. Irgendwo da herum ging es sieben Ellen tief hinab, und für ein Kind der Ebene sind sieben Ellen Höhe und sieben Ellen Tiefe eine traumumhangene Gebirgswelt. In diesem Grunde lag eine kleine Wiese, auf der das Schweigen in hohen Halmen wuchs und mit großen, verwunderten Augen emporblickte, wenn ein einsamer Besucher zu ihm herabstieg. Diese versunkene Wiese fand er an einem Sonntagnachmittag, und sie wurde nun seine innigste Freundin.

Und seltsam: Draußen mochte Dienstag oder Mittwoch oder Freitag sein – wenn er in seine Talwiese hinabstieg, so war dort Sonntag, heiliger Sonntag. Und je öfter er kam, desto weniger verwunderten sich die Blumen, ja, wenn er sich zwischen ihnen niedergelassen hatte, dann rückten sie flüsternd an ihn heran und erzählten ihm Märchen von Bienensaug und Wasserjungfer. Die Blumen und Gräser oben am Rande der Höhen aber wuchsen stracks in den Himmel hinein, und wenn die Gedanken die steile Bergwand hinaufstiegen und den höchsten Halm des Rispengrases erklettert hatten, dann kamen sie in den Himmel und konnten auf der Himmelswiese weiter spazieren. Es war so schön auf dieser stillen Flur, daß er einmal sieben Straßenkameraden mit dorthin nehmen mußte; er konnte sein Glück nicht mehr für sich behalten.

»O, dahin müßt Ihr einmal mitkommen, da ist es fein!«

Aber, o Wunder, als die lärmende Schar den Abhang hinunterstürmte, da war auf der Wiese nicht mehr Sonntag, sondern ganz gewöhnlicher Mittwoch. »Ja, hier ist es fein, hier ist es fein!« schrien die andern. Aber Asmus wurde immer einsilbiger, und zuletzt verstummte er ganz. Seine Wiese sah ihn zornig und traurig an. Er hatte ein Paradies verloren.

Ein anderes, ein ganz anderes Knabenparadies lag zwischen den alten, kleinen Häusern gegenüber der Semperschen Wohnung. Hier war nämlich ein geräumiger, ebener Platz, und in diesem Platze befanden sich wohl ein halbes Dutzend kleiner Gruben, die mit dem Stiefelabsatz hineingebohrt und dann mit den Mützen – oft recht guten und neuen Mützen – ausgeputzt und glatt gemacht wurden. Dies waren »Marmelkuhlen«, und der Platz war das Monte Carlo von Oldensund. In schulfreien Stunden versammelte sich hier die marmelbesitzende Jugend des Dorfes, und auch Asmus vertraute einige Male sein Glück der rollenden Kugel, freilich ohne allen Erfolg. Die Habitués dieser Spielbank wußten ihren Marmeln durch eine Drehung der Hand etwas mitzugeben, was die Billardspieler »Effet« nennen, oder sie ließen, wenn sie sich über gewisse Skrupel hinweggesetzt hatten, den Daumen so geschickt die fortune korrigieren, daß immer eine gerade Zahl in die Grube rollte und Leute wie Asmus, die in die Grube starrten, statt nach den Händen zu sehen, nach wenigen Minuten ruiniert und verzweifelnd den Schauplatz verließen. Asmussens Bruder Alfred sammelte indessen Reichtümer; er gewann fast immer und entwickelte sich zu einem Marmel-Rothschild; er hatte ganze Büchsen und Kasten voll des steinernen Mammons. Wenn er aber gar zu andauernd gewann, so fielen die Verlierer über ihn her, um ihn zu prügeln. Asmus konnte nicht sehen, daß man seinen Bruder schlug, und er bat ihn oft, das gefährliche Terrain zu verlassen. Das wies aber Alfred schroff zurück, und so mied Asmus die »Marmelkuhlen« endlich ganz.

Indessen: Das Leben läßt kein Menschenherz ohne allen Trost seinen Weg wandeln, und wer Unglück im Spiel hat, der hat Glück in der Liebe. Diesmal waren es gleich zwei Mädchen, mit denen Asmus einen Herzensbund schloß. Es waren zwei Schwestern von zehn und sieben Jahren, und sie hießen Mathilde und Fanny. Mit der siebenjährigen Fanny spielte er lieber; aber Mathilden mochte er lieber ansehen. Wenn er sie ansah, dann sagte er immer bei sich »Mathilde« – »Mathilde« – das klang so milde und fromm, so sanft und fein. Er mochte sie anblicken, wann er wollte; was er fühlte, das klang immer wie »Mathilde«. Diese Mädchen waren den ganzen Tag und alle Tage allein; denn die Mutter ging aus zum Waschen. Einmal sah Asmus auch sie, und sogleich dachte er: die heißt gewiß auch Mathilde. Einen Vater hatte Asmus in diesem Hause nie gesehen.

Er saß still dabei, wenn die Mädchen ihre Schularbeiten machten, und es tat ihm wahrhaft weh, daß er noch immer nicht in die Schule gehen durfte. Er hatte seinen Vater schon oft gebeten, ihn doch zur Schule zu schicken; aber der sagte immer nur: »Ja, ja, bald, bald«. Er hörte, wie Fanny die Geschichte vom dummen Hänschen las, und wurde schmerzlich ergriffen von den Schlußzeilen des Gedichtes:

Hänschen ist nun Hans geworden,
Und er sitzt voll Sorgen,
Hungert, bettelt, weint und klaget
Abends und am Morgen:
Ach, warum nicht war ich Dummer
In der Jugend fleißig?
Was ich immer auch beginne,
Dummer Hans nur heiß ich.
Ach, nun glaub' ich selbst daran,
Daß aus mir nichts werden kann.«

Asmus hörte das; er stützte traurig seine runde Wange in sein fleischiges Händchen und blickte in eine trostlose Zukunft. Es war nur ein Glück, daß gleich darauf die Geschichte vom Kätzchen kam, das mit der Pfote ins Tintenfaß geriet und dem über seinem Schreibhefte eingeschlafenen Hans die Aufgabe machte. Da war die Zukunft vergessen und all Drei freuten sich laut lachend der Gegenwart.

Plötzlich schrie Mathilde laut auf. »Papa!« rief sie. Alle blickten nach der Tür. Am Pfosten lehnte lallend und stieren Blickes, mit verwirrtem Haar und aufgerissenem Hemd ein großer, starker Mann in Zimmermannstracht. Der Rest der Cigarre hing ihm schief im Munde, während er vor sich hingrunzte. »Vernunft is Unsinn!« schrie er plötzlich, »Wohltun – is Plage! Vom Rechte, das mit uns geboren is, verdammig noch 'n mal! Juuuh – Röschen hatte einen Piepmatz« sang er, und dann mit fürchterlicher Stimme, »das ist der Unverstand der Massen«; aber seine Kraft reichte nur bis zur Mitte der Zeile, den Rest murmelte er erschlafft vor sich hin. Dann wurde er Asmus gewahr und rief: »Hähä, was ist denn das für'n kleinen Jungen! Hab'n wir 'n kleinen Jungen gekriegt, wo ich gar nix von weiß? Wie heißt du denn, mein Sohn?« Er schritt wankend auf Asmus zu, der entsetzt zur Seite sprang.

»Na, du Affe!« schalt der Betrunkene. »Du Dickkopp!« Er wollte wieder auf Asmus zu; der aber hatte sich langsam der Türe genähert und eilte, am ganzen Leibe zitternd, hinaus. Als er draußen war, befiel ihn eine heftige Furcht für seine Freundinnen. »Du bist schon wieder bange gewesen«, dachte er bei sich. »Du hättest Mathilden beistehen müssen!«

Aber dann sagte er sich doch auch, daß er gegen einen so großen Zimmermann wohl nicht aufkommen könne. Er lief zu seinem Vater.

»Vater!« rief er mit fliegendem Atem, »der Vater von Fanny und Mathilde ist da, ich glaub', er will ihnen was tun; er ist ganz duhn (betrunken)!«

»Soo?« sagte Ludwig Semper, stand langsam von seiner Arbeit auf und ging langsam hinunter. Er tat, als wenn er seinen Asmus suche, ließ sich mit dem Zimmermann in ein Gespräch ein, schenkte ihm Cigarren und gab dem Schwatzenden so andauernd recht, daß er bald auf seinem Sofa entschlief. Dann nahm Ludwig Semper die beiden Kinder leise und behutsam mit in seine Wohnung.

Erst nach Wochen, als die Schwestern eifrigst versicherten, daß ihr Papa längst wieder weg sei und sich alle halbe Jahre nur einmal sehen lasse, getraute sich Asmus wieder in die Wohnung des Erdgeschosses.

Inzwischen aber war er in die Netze einer Balletteuse geraten. Das war eine ganz magere, geschmeidige Dirne von neun oder zehn Jahren. Sehr junge Männer verlieben sich leicht in etwas ältere Damen, namentlich vom Ballett. Dabei war sie gar nicht hübsch; aber für Asmus umfloß sie ein ewiger Strahlenmantel. Sie hatte im Stadttheater zu Hamburg in einer Weihnachtskomödie mitgewirkt, mitgetanzt hatte sie, auf der Bühne hatte sie getanzt! Sie war dort gewesen, ja dort hatte sie mitgespielt, wohin er wohl nie in seinem Leben auch nur zum Zuschauen gelangen würde! Wenn sie erzählt hätte, sie sei im Himmel gewesen und habe die ewige Seligkeit gesehen, sie wäre ihm gewiß nicht wundersamer erschienen.

Er betrachtete sie nur mit ehrfürchtiger Bewunderung und tat alles, was sie wollte; sie hatte ihn vollständig »im Strick«, wie nur eine neunjährige Ballettdame überhaupt einen unerfahrenen siebenjährigen jungen Mann im Strick haben kann. Er schaukelte sie, ohne jemals zu erwarten, daß sie ihn wiederschaukle; er lief als Pferd vor ihrem Wagen Schritt, Trab und Galopp, bis er Stiche bekam, und als die Künstlerin einmal Milch geholt und die Hälfte aufs Pflaster geschüttet hatte und ihn fragte, ob sie nicht sagen dürfe, daß er sie gestoßen habe, da sagte er ohne weiteres »Ja«. Als er ihr eine Zeitlang treu gedient hatte, trat sie eines Tages mit mehreren Gespielinnen auf ihn zu und sagte, jetzt wolle sie ihn belohnen. Sie wolle ihm »ganz etwas Schönes« schenken. Sie gab ihm ein zusammengelegtes Papier, damit solle er bis zu einem gewissen Hause in der Behrendorferstraße gehen. Wenn er dort sei, dürfe er es öffnen, eher nicht! Glückselig lief Asmus mit dem Päckchen eine Viertelstunde weit nach dem bezeichneten Hause; zitternd öffnete er das Papier und fand darin – ein Stück Lehm. Da fühlte er sich tief ins Herz getroffen. Nun war er fertig mit dem Ballett. Als die Mädchen ihn wiedersahen, lächelten und kicherten sie; aber sie waren Luft für ihn. Der Mann, einer Schlange nachzulaufen, der Mann war Asmus Semper nun nicht! Dazu hatte er doch einen zu dicken Kopf. Er konnte zwar nicht nachtragen, und nach drei Tagen spielte er schon wieder mit ihr; aber der magische Bann war gebrochen; und als sie ihn wieder vor ihren Wagen spannen wollte, sagte er ohne alle Ritterlichkeit. »Zieh du dich man selbst«.

Er war sonst gegen Neckereien durchaus nicht empfindlich: im Gegenteil. Wenn seine Eltern oder seine Geschwister oder gute Gefährten ihn neckten, dann wurde ihm warm und behaglich ums Herz und er fühlte dann ganz klar und deutlich: sie haben mich gern. Ja er wünschte zuweilen ihre Neckerei; er forderte sie absichtlich heraus, wenn er gern einmal wieder fühlen wollte, daß sie ihn liebten. Und gerade in dieser Zeit erfuhr er eine rechte Freude. In Plattdeutschland sagt man statt »rollen« auch »trudeln«, und weil der kleine Asmus mehr und mehr so rundlich gedieh, daß man ihn ohne Anstoß durch die ganze Stube hätte rollen können, so sagte Johannes eines Tages »Trudel« zu ihm. »Trudel« – das war ein köstlicher Name, und Asmus nahm ihn sofort mit glücklichem Lachen an. Und von nun an nannten ihn seine Geschwister und seine Mutter mit Vorliebe »Trudel«. Nur der Vater nannte ihn merkwürdigerweise nie mit diesem Namen. Der kleine Asmus konnte nicht ahnen, daß dieser Name für ihn ein Schicksal war, und kein sanftes.


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