Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XXIII. Kapitel.

Vom Imperator Rösing und seiner Leibwache, von Prügeln, Gesangbuch und Katechismus als den drei Hauptstücken der Erziehung.

Denn um die Osterzeit schon war Asmus Semper natürlich in die mittlere Klasse der dreistufigen Dorfschule aufgerückt. Und hier herrschte nun ein ganz anderes Leben als in der sturmbewegten Klasse des Herrn Schulz. In der Klasse des bejahrten Herrn Rösing, der aussah wie ein alter, in Falten gelegter Landpastor, herrschte das Leben eines verschlafen fortschleichenden Rinnsals, das in der meisten Zeit des Jahres überhaupt kein Wasser hat; man könnte auch sagen: das Leben eines abgestorbenen Baumes, der nur noch einen einzigen lebendigen Ast trägt. Dieser eine grüne Ast war des Herrn Rösings Schreibekunst. Schön schreiben, das war das einzige, was er verstand, und er machte denn auch seinen Schülern klar, daß dies das Eine sei, welches nottue. »Jungens«, sagte er an jedem Morgen und an jedem Nachmittage, »Jungens, schafft Euch eine schöne Handschrift an! Eine schöne Schrift geht weg wie warme Semmeln; wer schön schreibt, der braucht gar nicht so klug zu sein: er findet überall offene Türen.« So gab denn Herr Rösing, wenn er eigentlich in den Wissenschaften unterrichten sollte, unentwegten Schreibunterricht, den er auch schon um deswillen bevorzugte, weil er bei diesem Unterricht seine schöne Meerschaumpfeife nicht ausgehen zu lassen brauchte. Zu den Wissenschaften hatte Herr Rösing überhaupt zeitlebens kein herzliches Verhältnis gewinnen können. Seine Rechenkunst zum Beispiel schloß ab mit der Regeldetri, und während der zwei Jahre, die Asmus zu den Füßen dieses Mannes saß, begann jede Rechenstunde damit, daß er einige Regeldetriaufgaben an die Wandtafel schrieb und hierauf seine Pfeife anbrannte. Nach einer in der Klasse gehenden Tradition mußte man das zweite Glied mit dem dritten multiplizieren und das Ergebnis durch das erste Glied dividieren. Einer sagte es dem andern, und wer es trotzdem nicht begriff, der schrieb von seinem Nachbar ab. Asmus wollte eines Tages von Herrn Rösing wissen, warum man multiplizieren und dividieren müsse. Herr Rösing war unangenehm überrascht und rief: »Junge, das ist doch ganz klar; das macht man immer so«. Und Asmus setzte sich wieder mit einem gänzlich unaufgeklärten Gesichte. Nun gibt es aber eine boshafte Art der Regeldetri: das ist die mit den umgekehrten Verhältnissen. Man rechnet ganz treuherzig darauf los und bekommt heraus, daß zehn Mann an einem Faß Bier viel länger trinken als ein Mann, wie in einem Märchen. Diese Aufgaben richtig rechnen konnte in der ganzen Klasse nur einer: der große und starke Sohn des Ewigkeitstischlers, und der hatte es von seinem Vater gelernt. Herr Rösing rückte mit dem Geheimnis nicht heraus, und als Asmus ihn fragte, woran man solche Aufgaben eigentlich erkennen könne, da lächelte er verschmitzt und sagte mit einer gewissen Schadenfreude: »Jaaa, denk nur mal nach; du bist ja sonst immer so schlau!« Wenn er auch noch dieses, sein letztes Geheimnis preisgegeben hätte, so wäre es mit seinem geistigen Vorsprung vorbei gewesen, und darum hütete er sich wohl. Asmussen aber ließen die umgekehrten Verhältnisse keine Ruhe; er wandte sich an den Tischlerssohn, und dieser war uneigennützig genug, ihm das verschleierte Bild zu enthüllen.

Für diese Hülfe zeigte sich Asmus dem Tischlerssohn erkenntlich in der Grammatik. Auf den ganz vereinzelt auftretenden grammatischen Unterricht des Herrn Rösing reagierten zwei Knaben: Asmus Semper und der neben ihm sitzende Friedrich Heilmann; die übrigen 60 oder 70 Schüler verzichteten in der Regel. Das kam daher, daß Herr Rösing sich über grammatische Dinge, wenn er sie notgedrungen einmal berührte, in sehr mystischer Weise aussprach, so mystisch, daß er gewöhnlich überrascht war, wenn Friedrich und Asmus verstanden hatten, was ihm selbst nicht klar geworden. Und wenn sie mit tödlicher Sicherheit erklärten, das sei ein Objekt und das sei ein Attribut, und er aus seinem Buche ersah, daß sie ganz recht hatten, dann konnte er nicht umhin, mit ehrlicher Bewunderung auszurufen: »Du bist'n Baas!« oder »Ihr seid zwei Hauptkerls!« Für gewöhnlich bestand der deutsche Unterricht des Herrn Rösing darin, daß er rauchte und dabei aus einem Buche diktierte. In der Linken das Buch und die Pfeife, in der Rechten einen langen, dicken, wundervoll neuen Rohrstock, ging er dann zwischen den Bänken entlang, und wo er einen empörenden Fehler entdeckte, da schlang sich der lange Rohrstock mit schmiegsamer Inbrunst um den Leib des Sünders. Asmus hatte ein fast unfehlbares Augengedächtnis: ein Wort, das er einmal gesehen hatte, schrieb er niemals wieder falsch, und da er viel gelesen hatte, war ihm jedes Diktat ein Spiel. Er war der Einzige, der sogar das Wort »Vieh« buchstabieren konnte, er mußte dieses Kunststück öfters in der Klasse vormachen, und jedesmal, wenn es unter atemloser Spannung der Versammlung gelungen war wie ein Todessprung am Trapez, dann rief Herr Rösing: »Du bist'n Baas!« Dafür blühte ihm das gelbe Rohr seines Lehrers bei anderen Gelegenheiten. Herr Rösing kam nämlich in eifrigen Stunden auf die kühne Idee, seinen Schülern Hausarbeit aufzugeben, z. B. die Arbeit, Krummachers »Rotkehlchen« so schön wie möglich abzuschreiben. Asmus war sich nun stets im Unklaren darüber, was entsetzlicher sei, Tabakstreifen oder Abschreiben; es verging deshalb vom Herbeiholen des Tintenfasses bis zur Vollendung des ersten Satzes schlecht gerechnet eine halbe Stunde. Während er nämlich den ersten Satz hinmalte:

»Ein Rotkehlchen kam in der Strenge des Winters an das Fenster eines frommen Landmannes«

fiel Traum so schwer und weich auf ihn herab, wie schwerer, großflockiger Schnee senkrecht und still herabfällt an lauen Wintertagen. Solch ein Dichter war der altmodische Herr Krummacher, daß der kleine Knabe mitten im Sommer in einer Sekunde vollständig eingeschneit war und ein Fensterchen sah, das dicker Schnee umrahmte, und vor dem Fenster ein Vöglein, dessen Füßchen tief in den Schnee versanken, und hinter dem Fenster liebe, runde, deutsche Gesichter, deren warmer Hauch die Scheiben trübte. In späteren Jahren entdeckte Asmus, daß ein Mann mit Namen Ludwig Richter gerade solche Bilder gezeichnet habe, wie er sie tausendfach in Feld und Kammer, in Sommerklang und Winterschweigen gesehen und geträumt hatte. Wenn er dann noch einen halben Satz geschrieben hatte, dann hatte er gründlich genug von der Sache; mit einer urplötzlichen Munterkeit klappte er jäh das Heft zusammen (ohne ein Löschblatt dazwischen zu legen!), trommelte mit beiden Fäusten einen kleinen Wirbel darauf und entwich ins Freie. Herr Rösing erkundigte sich nur selten danach, ob seinem Befehle gehorsamt wäre; wenn er aber zufällig bemerkte, wie Asmus seine Pflicht und sein Schreibheft behandelt hatte, dann sauste die Pädagogik des Herrn Rösing auf den Rücken des Sünders herab, und dann war die Sache für immer abgetan. Der Schmerz währte höchstens drei Minuten; die Arbeit wäre eine zweistündige Qual gewesen – der Vorteil lag also auf der Hand.

Unter den Leiden, die die zwei Jahre bei Herrn Rösing dem Knaben brachten, waren überhaupt die Stockschläge das allergeringste. Schlimmer waren die Lesestunden. Es wurden nur Choräle gelesen; wenn die reichlich 900 Choräle des Gesangbuches zu Ende waren, so fing es bei Nr. 1 wieder an, und nie verstand oder empfand ein einziger Schüler ein einziges dieser Lieder. Die Anleitung des Lehrers bestand darin, daß er, wenn ein Schüler genug gelesen hatte, die Pfeife aus dem Munde nahm und »Weiter!« sagte. In diesen zwei Jahren bildete sich im Herzen des kleinen Semper über der religiösen Dichtung eine Geröllhalde, und es mußte ein Wunder geschehen, wenn jemals eine Pflanze dieses Gestein durchdringen und die Augen wieder ans Licht heben sollte. Und schlimmer noch war der Katechismus Doctoris Martini Lutheri; denn den mußte man so lange auswendig lernen, daß man sich im Schlafe vor ihm ängstigte. Herr Rösing stach mit dem Finger irgendwo in die Klasse hinein wie mit einem Uhrschlüssel in ein Uhrwerk, und siehe da, das Räderwerk schnurrte:

»Wie kann Wasser solche große Dinge tun? Wasser tut es freilich nicht, sondern das Wort Gottes, so mit und bei dem Wasser ist, und der Glaube, so solchem Worte Gottes im Wasser trauet; denn ohne Gottes Wort ist das Wasser schlecht Wasser und keine Taufe; aber mit dem Worte Gottes ist es eine Taufe, das ist ein gnadenreiches Wasser des Lebens und ein Bad der neuen Geburt im heiligen Geiste; wie St. Paulus sagt zu Tito im dritten Kapitel: Gott macht uns selig durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des heiligen Geistes, welches er ausgegossen hat über uns reichlich durch Jesum Christum, unsern Heiland, auf daß wir durch desselben Gnade gerecht und Erben seien des ewigen Lebens nach der Hoffnung. Das ist gewißlich wahr.«

und wenn man Asmus zehn Schillerstangen und zwanzig Bücher und dreißig Aepfel und ein neues Theater und eine Geige und ewige Befreiung vom Tabakstreifen geboten hätte mit der Bedingung, er solle ungefähr sagen, was mit jenen Worten gemeint sei, er hätte nichts zu sagen vermocht. So hatte denn die religiöse Erziehung keinen grimmigeren Feind als diesen Unterricht, und an diesem Unterrichte trug noch der gute Herr Rösing bei weitem die kleinste Schuld. Das Elternhaus stand allen religiösen Dingen mit vollkommener Indifferenz gegenüber, höchstens, daß Rebekka Semper gelegentlich ein kraftvolles Wort gegen die »Pfaffen« erschallen ließ. Für Asmus bedeutete nach alledem das Wort Religion, so lange er daheim war, etwas durchaus Gleichgültiges, so lange er in der Schule saß, eine überwältigende Anhäufung geistiger Qual.

Aber auch dieser Unterricht war immer noch nicht sein schwerstes Leiden. Sein schwerstes Leiden war, daß er anders war als die Andern.

Wenn in der Klasse des Herrn Schulz, des herrlichen, schwärmerisch verehrten Herrn Schulz fast ebensoviel Versetzung wie Unterricht gewesen war, so versetzte Herr Rösing überhaupt nicht. Gleichwohl gab es in seiner Klasse eine Rangordnung, aber eine ein für allemal geheiligte. Auf den obersten Plätzen saßen nämlich die Schüler, die er fürchtete oder deren Väter oder Mütter ihm bedrohlich waren. Es war vorgekommen, daß ein großschlächtiger Bursche, den er hatte schlagen wollen, ihm den Stock entriß und mit ihm handgemein wurde, und von diesem Tage an behandelte er alle Zöglinge dieser Art mit Ehrfurcht und Liebe. So füllten denn die ersten Bänke lauter prächtige Kerle mit entschlossenen Gesichtern, und es waren ihrer nicht wenige, weil die Jugend des Ortes damals körperlich stärker entwickelt war als geistig. Diese Strelitzen oder Prätorianer würden jede Versetzung mit einer Palastrevolution beantwortet haben. Nur der begabte Sohn des Ewigkeitstischlers saß trotz seiner Stärke und Ausdehnung mitten in der Klasse, weil er durchaus friedlich und braven Gemütes war. Der Primus der Klasse dagegen war ein werdender Stier an Kraft und Intelligenz; er hieß Klaus Rampuhn und sah schon bei seinen dreizehn Jahren um Mund und Augen ganz danach aus, daß er um einen Sechsling einen Menschen erschlagen könne.

Da Herr Rösing an diese Leibgarde niemals irgendwelche Anforderungen stellte und ihnen sogar den Katechismus erließ, so behandelten sie auch ihn mit einer gewissen Duldung. Sie nahmen ihn überhaupt nicht ernst; wenn er ihnen den Rücken zuwandte, hefteten sie kleine Papierdrachen an seine Rockknöpfe oder sie zogen ihm das geblümte Taschentuch heraus und wischten ihre Federn darin ab, so daß er nachher mit einer schwarzen Nase herumging; aber im ganzen behandelten sie ihn wohlwollend, zumal in dringendsten Fällen der Oberlehrer Herr Cremer hinter ihm stand, der nach körperlichen Vorzügen nicht fragte. Dagegen übten die Strelitzen gegen ihre schwächeren Mitschüler alle Rechte einer absoluten Herrschaft aus, und Klaus Rampuhn besonders zeigte schon bald ein unheimliches Interesse für den noch immer klein gebliebenen Asmus Semper.


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