Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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IV. Kapitel.

Vom düstern langen Balken und von absonderlichen Augen, von einem sagenhaften Pferd und einem geheimnisvollen Vorhang.

Ob an der Stelle des »Düstern langen Balkens« einmal fröhliche Paare sich im Tanze geschwungen und Becher und Glas geklungen hatten und ob der Volksmund einem solchen Schenk- und Tanzboden den merkwürdigen Namen gegeben hatte? Wohl möglich; denn die Leute der Gegend liebten es, ihren Belustigungsstätten seltsame Namen zu geben, wie: »Zum langen Handtuch«, »Zum schmierigen Löffel« und »Zum verbrannten Pfannkuchen«. Oder ob hier einst eine Richtstätte gewesen und die Bewohner der Stadt Altenberg an finsteren Abenden nach den düsteren langen Balken des Galgens hinübergeschaut hatten? Oder ob man ins Nordische zurückgehen muß, wo ein Wort balkr so viel bedeutete wie Gehege und Scheidelinie? Möchte schon sein; denn der »Düstere lange Balken« lag dort, wo die Wohnungen der Altenberger Menschen aufhörten und Schaf und Rind und Pferd auf endlosen Weiden stille Tage lebten. Woher aber auch der Name kommen mochte, jedenfalls war er da, und der lang gewundene, schmale, zwischen Hecken hinlaufende, an schönen Regentagen unendlich weiche Weg hieß wahrhaftig der »Düstere lange Balken«.

An diesem weltverlassenen Wege lag ein einziges, hohes und finsteres Haus, das zur Hälfte aus einer Zimmererwerkstatt bestand. In dieser Werkstatt und auf dem Platze daneben meißelten jahraus, jahrein die Ratten und Mäuse, und nur ganz selten tauchten auch Menschen dort auf. In dem übrigen Teile des Hauses konnten zwei Familien Platz finden, wenn sie wenig Platz, weniger Bequemlichkeit verlangten und sich mit den kahlschwänzigen Nagetieren zu stellen wußten.

Gleich am ersten Tage nach dem Einzug der Semper war Asmus verschwunden. Man durchsuchte das ganze Haus und fand ihn endlich auf dem Boden.

Auf dem Boden war Platz! Kammern und Gänge und Winkel und Ecken – er wußte nicht, wieviele! Er spazierte umher und konnte sich nicht sattsehen an den leeren Räumen. Jede Kammer, jeder Balken, jede Wand, jedes Fenster schaute ihn anders an. Sie hatten alle Gesichter, nur andere als die Menschen. Aber durchs Fenster über die Wiesen sehen – o! o! Da war ein Busch, der sich über die Wiese neigte, und unter dem Busch lag Schatten. Wie schön war das! An einer Stelle hob sich die Wiese zu einem Hügel – wie schön! Und ganz weit hinten war eine breite Oeffnung in der Hecke, und durch die Oeffnung sah man auf eine andere Wiese. Wie war das lieblich und gut!

Seine Geschwister hatten ihn einmal ausgelacht. Sie waren alle mit dem Vater über Feld gegangen, und wenn die andern gerufen hatten: »Ein Hase!« »Ein Storch!« »Ein Kirchturm!« »Ein Drachen!« – dann hatte Asmus gerufen: »Wo? Wo?« Immer hatte er nichts gesehen. Aber als sie alle still gewesen waren. da hatte er plötzlich gerufen: »Vater, hier sieht es gerade so aus wie Dein Geburtstag!« Und das hatte ein Gelächter gegeben! Ein Kornfeld am Waldrand sollte aussehen wie Vaters Geburtstag! Aber Ludwig Semper sagte zu den Kindern: »Darüber braucht Ihr nicht zu lachen.« In Zukunft sagte Asmus nur noch, wenn er mit seinem Vater allein spazieren ging: »Du, Vater, hier sieht es so aus wie einmal Sonnabend!« oder: »Hier ist es so, wie bei Isaak, als Esau ihm das Wildpret brachte.« Diese Geschichte hatte ihm sein Bruder Alfred aus der Schule mitgebracht. Und Ludwig Semper sah dann seinem Söhnchen Asmus in die weit offenen Augen und sagte: »Hm.«

Eines Tages, als Asmus wieder am Fenster saß, bemerkte er, daß fern am Rande einer Wiese von Zeit zu Zeit goldene Punkte aufsprangen und wieder verschwanden. Und gleich darauf hörte er Musik – aber es war keine schöne Musik. Es waren die stammelnden Töne und Mißtöne signalübender Soldaten. Sobald er hörte, daß es Soldaten seien, rutschte Asmus sachte vom Stuhl, klemmte sich bedächtig durch die Tür und stürmte die Treppen hinunter. Aber die letzten zehn Stufen ging es schneller als er wollte; der Kopf lief den Füßen voran und schlug unten auf die eisenbeschlagene Kante eines Sandsteins. Dort blieb Asmus liegen und sagte nichts. Seine Mutter, vom Gepolter herbeigerufen, hob ihn auf und trug ihn jammernd nach oben. An der Stirn klaffte eine breite und tiefe Wunde. Als sie notdürftig verbunden war, eilte die Mutter mit ihm nach dem Altenberger Krankenhause; denn dort wurden die Menschen zu gewissen Zeiten umsonst kuriert. Sie mußten in einen großen, hohen Saal eintreten, wo es ringsherum von tausend blanken Messern und Scheren und Zangen und Stangen blitzte. Asmus glaubte, daß alle für ihn bestimmt seien, und ihm wurde sehr beklommen und bang ums Herz. Er wurde auf einen großen Tisch gelegt, und der Arzt nähte die klaffende Spalte zu. Es tat sehr weh; aber Asmus ließ nur ein ganz leises Stöhnen durch die zusammengebissenen Zähnchen hindurch. Und endlich hob ihn der Arzt vom Tische herunter, klopfte ihm die Wangen und sagte: »Du bist 'n fixer Kerl; hier hast du'n Schilling, weil du nicht geweint hast; laß deine Mama dir Bontjes dafür kaufen!«

War das ein herrliches Krankenhaus! Man bezahlte nichts und kriegte noch Geld für Bonbons dazu! Was für liebe Männer waren die Aerzte! Was für ein schöner Tag! Aus dem Schmerzensmorgen war ein Freudentag geworden; er fühlte keine Wunde mehr am Kopfe; er fühlte nur einen Schilling in der Hand, einen ganzen, großen Schilling. Und wenn das Glück einmal kommt, dann kommt es gleich in Haufen. Was kam da die Straße herauf mit »Tsching und Bumm und Ratatsching?« Oesterreicher! O, o, Oesterreicher! Es waren aber inzwischen Preußen geworden. Und das mußte man schon sagen: die Preußen waren noch viel schöner als die Oesterreicher. Sie waren alle zu Pferde, hatten blaue Röcke mit silbernen Schnüren, und die Hüte hatten oben einen platten Deckel, von dem hingen ebenfalls Schnüre herab, und Säbel und Lanzen hatten sie, und oben an den Lanzen noch kleine Fähnlein! Und einer von ihnen – wahrhaftig, es war kein Zweifel möglich – einer lachte ihm zu! Asmus war zu Mute, als hätte der hohe Herrgott selber aus seinem Himmel ihm zugelächelt. Sie zogen gar nicht weit vom Semperschen Hause vorüber, und als Asmus vernommen hatte, daß sie fast jeden Morgen diese Straße ritten, da hatte er eine Lebensaufgabe. Und als er sie zwei oder drei Mal hatte Revue passieren lassen, da war sein Entschluß gefaßt. Jeden Sonnabend lieferte sein Vater Cigarren ab, und dann hatte er zwei, drei Tage lang Geld, das wußte Asmus. Gewöhnlich brachte der Vater dann auch ein paar Bonbons oder ein paar Aepfel mit. Das nächste Mal sollte er ihm ein Pferd mitbringen! Ja, ein Pferd!

»Vater!« rief er, als er atemlos zur Tür hereinstürzte, »wenn du wieder ablieferst, dann bring mir mal keinen Apfel mit, bring' mir dafür lieber 'n Pferd mit!«

Ludwig Semper fragte nicht erst verwundert: »Ein Pferd?«, denn er wußte, daß in einem kleinen Kinderherzen endlose Weidefluren sind; er sagte ohne weiteres zu, und seine Schultern hüpften wieder auf und ab. Jetzt sprach und träumte Asmus nichts anderes mehr als Roß und Reiten. Obwohl noch gar kein Pferd vorhanden war, so war doch das Haus schon voll Gestampfes und Gewiehers. Draußen auf der Wiese sollte das Pferd grasen, und oben auf dem Boden sollte es schlafen. Am nächsten Sonnabend von neun bis zwölf Uhr stand Asmus unten am Wege und harrte des dahergaloppierenden Vaters.

»Wiebke Wiese!« schrie er – denn des Mitwohners Töchterchen und seine Spielkameradin hieß Wiebke Wiese – »Wiebke Wiese, geh' weg da; sonst, wenn mein Vater kommt, reitet er dich über!« Und sie traten auf die Seite und ließen die Fahrstraße frei. Aber um mittag kam Ludwig Semper ganz gewöhnlich auf seinen eigenen Beinen daher.

»Wo hast du das Pferd?« rief Asmus.

»Die Knochen sind noch nicht fertig«, versetzte Ludwig Semper bedauernd.

Das befriedigte Asmus vollkommen. Ein Pferd ohne Knochen, – das sah er ein – das wäre nichts Rechtes gewesen. Und Ludwig Semper tat recht an dieser Antwort; denn nun hatte sein Sohn noch eine ganze Woche voll Reitens und Jagens, voll Wieherns und Bäumens.

Den Sonnabend darauf stand Asmus wieder am Wege und rief: »Wiebke, nimm dich in acht!« Aber Semper der Vater kam wieder zu Fuße gegangen.

»Wo ist das Pferd?« fragte der Sohn.

»Die Haut ist noch nicht fertig«, erwiderte der Vater; »aber ich hab' dir dafür was anderes mitgebracht.«

Und nun zog er einen Bilderbogen hervor, aus dem waren wohl zwanzig Pferde, und rote Husaren noch obendrauf. Das übertraf freilich die kühnsten Erwartungen. Im selben Augenblick war das lebendige Pferd tot für immer, und die zwanzig wurden lebendig.

Aber ein seltsamer Klang fiel eines Morgens in sein Soldatenspiel. »Auf der Exerzierweide liegt ein Ulan«, hieß es, »der hat sich totgeschossen. In den Kopf hat er sich geschossen, daß das ganze Gehirn herausgeschleudert wurde.« Unbemerkt von den Eltern lief Asmus nach der Wiese an der großen Allee, und hier umstanden viele Leute den Toten. Dieser aber war mit einem großen Laken zugedeckt worden, und Asmus sah durch die Decke nur die ungenauen Umrisse eines menschlichen Körpers. Mit einem ungekannten Grauen blickte er darauf hin.

»Harr ick doch in min Leben ni dacht, dat 'n Minsch so 'n groten Brägen harr!« sagte ein dicker Mann. »So 'n Brägen harr 'e«, rief er lächelnd und zeigte, wie groß das Gehirn des Toten gewesen wäre. Als der tote Ulan auf einem Wagen davongeführt worden war und die Zuschauer sich zerstreut hatten, ging Asmus auf seinen kleinen Beinen merkwürdig langsam nach Hause. Warum hatte er sich totgeschossen? Er hatte doch ein Pferd und einen Säbel und eine Lanze und einen wunderhübschen Hut mit Schnüren daran! Ob es wohl der Ulan war, der ihm einmal zugelacht hatte?

Der Vorhang, der ihm das Leben verbarg, hatte sich bewegt, und durch einen schmalen Spalt hatte Asmus einen flüchtigen Blick getan, ohne zu wissen, was er sah. Aber das ahnte ihm, daß es ein Vorhang war, was er bisher für die Grenzen der Welt gehalten hatte, und daß hinter diesem Vorhang noch etwas anderes wäre, als was er kannte.


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