Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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Erstes Buch.

I. Kapitel

Von Asmussens Umgang mit Barbierbecken, Maurern, Porzellanfrauen, Drehorgeln und Raketen, insonderheit aber mit seinem Vater.

Wenn Asmus Semper mit seinen Gedanken immer weiter in die Vergangenheit zurückging, immer weiter, immer weiter, dann kam er zuletzt an einen Augenblick, da er in einem weißen Kleidchen auf dem Treppenabsatz gesessen und seine Mutter über das Geländer der Treppe hinweg mit einer Nachbarin geplaudert hatte. Darüber hinaus ging's nicht: es war seine früheste Erinnerung. Das war im Grunde sehr wenig; für Asmus Semper aber war es immerhin etwas. Jenen Augenblick umgab für alle Zeiten ein silbernes, luftiges Licht der Frühe, wie wir es sehen, wenn durch fallenden Regen die Sonne bricht – es war der Tagesanbruch seiner Seele.

Das nächste große Ereignis, das seine Spuren für immer in sein Gedächtnis grub, war ein Barbierbecken. Es hing über einer Tür an der Straße. Es funkelte herrlich, wenn der Wind es bewegte, und war wohl das Schönste, was es auf der Welt gab. Und eines Sonntags ging Ludwig Semper, der Vater, in das Haus mit dem herrlichen Becken hinein, und seinen Sohn Asmus trug er auf dem Arm. Ein Mann, der immerfort redete, legte Asmus die Hand auf den Kopf, und dann wischte er dem Vater einen weißen Schaum ins Gesicht. Wenn der Mann redete, sah ihn der Vater immer ganz ruhig mit seinen großen Augen an und sagte: hm! Und dann faßte der Mann den Vater bei der Nase und kratzte den Schaum wieder ab. Und als der Vater mit seinem Asmus wieder draußen war, kamen sie gleich auf einen Platz. Da war es sehr schön, weil es so frei war. Und da standen mehrere Männer in sauberen Röcken; mit denen sprach der Vater. Die Männer in sauberen Röcken waren auch schön, überhaupt war an dem Tage die ganze Welt wunderschön, weil überall Sonntag war.

Hierauf folgte in den Erinnerungen Asmussens ein großes schwarzes Loch, und dann sah er sich plötzlich auf einer Schubkarre sitzen, die sein Bruder Alfred vor sich herschob. Und als die Fahrt zu Ende war, fand sich Asmus in einem anderen Hause. Man war umgezogen.

In dieser Wohnung war es nun ganz herzlich. Gegenüber erschienen nämlich Männer, und die fingen an, ein großes vierkantiges Loch zu graben. Wagen mit lebendigen Pferden davor kamen und brachten die ausgegrabene Erde weg. Die Pferde scharrten mit den Hufen, bissen einander in den Nacken und schüttelten dann die Köpfe, daß das ganze Geschirr klirrte. Zu dieser Zeit faßte Asmus den festen Entschluß, Fuhrmann zu werden, wenn er groß wäre. Hoch oben auf dem Wagen sitzen und immerfort auf die Pferde losschlagen, das dünkte ihn das Schönste auf der Welt. Die Sache wurde aber noch viel hübscher. Es kamen Wagen voll roter Steine; wunderhübsch rot waren sie, und diese Steine wurden auseinandergepackt. O, was für eine Menge Steine! Das waren ja wohl tausend Stück oder vielleicht gar hundert! Es kam aber noch immer besser. Eines Tages kam ein Mann, schüttete weiße Steine in eine Grube, ließ kaltes Wasser darüber laufen, und alles fing an zu kochen! Der kleine Asmus drückte mit seinem Näschen fast die Fensterscheibe ein, so genau sah er zu. Und die Augen riß er auf – sperrangelweit. Und als er zufällig den Mann ansah, der Steine kochen konnte, da stand der da und sah ihn auch an und riß auch die Augen auf und lachte dann und nickte ihm zu. Asmus schämte sich und zog sich ins Zimmer zurück. Als dann aber einer von jenen Frühlingstagen kam, die zu allem Mut machen, ging er hinaus und kam dem Bauwerk immer näher, und als der Steinkocher den Finger in den Mund steckte und dann einen Knall hervorbrachte, wie wenn ein dicker Pfropfen aus einer Flasche fliegt, da waren sie von Stund an Freunde. Asmus sagte »Onkel Steinemann« und der Maurer sagte »Meister«. Der Maurer fragte: »Na, Meister, wo soll ich jetzt'n Stein hinlegen?« und dann sagte Asmus »da«, und nach Hause kam Asmus nur noch zu den Hauptmahlzeiten. »Nun bauen wir die Wohnstube!« rief er dann, wenn er zur Tür hereinkam.

Es ist ein Glück und ein Unglück, daß die Häuser einmal fertig werden. Für den Architekten und Baumeister Asmus Semper war es nur ein Unglück. Eines Tages stand ein düsterer viereckiger Steinhaufen, wo ehemals freie Luft und flimmerndes Licht gewesen war, und der Freund, der hundert Mal am Tage sein Pfropfen-Kunststück gemacht hatte, war verschwunden und kam nicht wieder. So klein das Herz des kleinen Asmus auch war – die Treulosigkeit des Maurers tat ihm doch weh.

Eigentlich war es aber nur Vergeltung für eigene Treulosigkeit. Um des Maurers willen hatte er seine alte Liebe schmählich verlassen. Diese alte Liebe waren eine alte zarte kleine Witwe und ihre köstlich blaugeblümte Kaffeekanne, die immer dampfend auf dem Tische stand und von Porzellan war wie ihre Besitzerin. Und nicht zu vergessen ein ganz feiner, friedlicher Aniskuchengeruch, der die ganze Wohnung durchdrang und in dem wir eigentlich das Band der Treue zu suchen haben, das Asmussens Herz in die Zauberkreise der Alten zurückzog. Als er aber die abgebrochenen Beziehungen wieder aufnehmen wollte und höchst vergnügt in die Tür trat, wurde er sehr ungnädig empfangen. Die alte kleine Frau war richtig eifersüchtig und putzte ihn gehörig herunter, weil er so lange nicht dagewesen wäre. Nun brauche er überhaupt nicht wiederzukommen. Asmus stand wie angedonnert. Aber er war nicht der Mann, sich einen Schimpf antun zu lassen: er brach in ein erschreckliches Gebrüll aus und rief: »Ich will wieder nach Hau–se – ich will wieder nach Hau–se!« Da holte die erschrockene Witwe eiligst zwei Aniskuchen herbei und drückte ihm in jede Hand einen. Asmus fand die Satisfaktion hinreichend; er biß hinein und aß die Kuchen mit den Tränen, die darauf fielen.

Dieser Nachbarin, die zur Linken wohnte, entsprach eine Nachbarin zur Rechten, eine große vierschrötige Maurersfrau mit einem Mannesgesicht, von der man mit größter Bestimmtheit erzählte, daß sie Tabak kaue. Asmus mochte diese Frau nicht leiden; er mußte immer nach der Backe sehen, hinter der der Tabak saß. Und als er eines Tages ganz richtig und deutlich »Der Postiljong von Longschümoh« gesagt hatte, da sprach die Frau zu seiner Mutter: »Frau Semper, das Kind ist für sein Alter viel zu klug und das ist nicht gut; Sie müssen ihm mehr Schläge geben.« Asmus hörte das und konnte ihr darin nicht beistimmen; auch erhöhte dieser hygienische Rat nicht seine Sympathien für die Maurerin. Als sie ihn aber eines Tages mit in ihre Küche nahm und ihm einen großen Apfel schenkte, da lief er eiligst zu seiner Mutter und rief: »Mamma, Frau Rheder ist doch 'ne süße Frau, sie hat mir 'n Apfel gegeben.«

Außer diesen Dingen und Menschen war aus dieser Zeit nur noch ein Ereignis am Leben geblieben, nämlich das, wie Ludwig Semper, der Vater, auf einem dunklen Vorplatz in eine offenstehende Kellerluke gestürzt war. Der Vater war mit einer unbedenklichen Rippenschrammung davongekommen; aber dem kleinen Asmus schien dies ein großes und schier unbegreifliches Unglück, und es drückte ihm schwer aufs Herz, wenn er den Vater Schmerzen leiden sah. Unbegreiflich war es ihm, daß jemand seinem Vater ein Leid zufügen konnte, sei es nun ein Mensch oder eine Kellerluke. Denn sein Vater war doch genau wie der liebe Gott, den er auf einem Bilde gesehen hatte. Dieselbe breite Stirn mit einem herrlich vollen Kranz von grauen Haaren darum (»er war schon mit 33 Jahren grau« sagte die Mutter), dieselbe kräftige Nase, derselbe große Bart, der den ganzen Mund sehen ließ, diesen Mund, von dem fast alles Gute und Schöne gekommen war, was Asmus bis jetzt erlebt hatte. Von dem Mund und von den großen Augen kam's. Wenn die Augen lachten, dann gingen nach allen Seiten Strahlen von ihnen aus wie von den Kerzen am Tannenbaum. Und wenn Asmus am Abend noch eine Stunde draußen bleiben wollte und die Mutter sagte: Frag' Deinen Vater! und er dann seinen Vater fragte, dann blickte der von seinem Tisch, an dem er Cigarren machte, auf und sah ihn erst ruhig an. Und dann wurde des Vaters Gesicht immer heller, und dann kamen die Strahlen aus den Augen, und dann zog sich der milde Mund ein wenig nach der Seite, und dann wußte Asmus schon: jetzt sagt er gleich »Mein'twegen«, und richtig, dann sagte er »Mein'twegen«. Dann schnellte der kleine Asmus wie eine befreite Sprungfeder in die Höhe und schrie: »Vater sagt »Wein'tnegen!« und dann war er auch schon draußen. Dann sagte die Mutter wahrscheinlich (das wußte Asmus schon): »Du läßt dem Jungen immer seinen Willen«; aber der Vater sah nur stillschweigend nach seinem hopsenden Sohne Asmus hinaus und lachte still in sich hinein, daß seine breiten Schultern hüpften: das wußte Asmus auch schon. Und einem solchen Vater wagte eine heimtückische Kellerluke aufzulauern.

Nach diesem Unfall hält die Erinnerung Asmussens wieder einen langen Schlaf, in dem nur einmal leise die Trommeln, Trompeten, Pfeifen und Drehorgeln eines Jahrmarktes von ferne hereinklingen und in dem sonst nur noch eine Rakete aufblitzt, die eines Abends am östlichen Himmel über dem Schützenhofe ins Dunkel emporstieg.


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