Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V. Kapitel.

Von seriösen und komischen Opern und Sachen sowie von einem auffälligen Benehmen des Johannes.

An den Grenzen der Welt war es überhaupt am schönsten, am wunderbarsten. Stundenlang konnte man am Fenster sitzen oder auf dem Wiesenhügel und nach den Grenzen der Welt hinblicken und sich ausdenken, was dort wohl wäre, was dort wohl jetzt geschähe, ob man wohl dort hinkommen könne. Ganz weit hinten in der Ferne fuhr mehrmals am Tage eine Schlange vorüber, die stieß Rauch aus, und wenn der Wind herüberstand, dann konnte man sie kreischen hören. Das nannten die Erwachsenen die Eisenbahn. »Ob man die wohl auch aus der Nähe sehen kann?« dachte Asmus. »Dann möchte ich wohl damit spielen.«

An einem andern Ende der Welt erschien aber eines Sommerabends noch ein ganz anderes Wunder! Die Sempers gingen mit all' ihren Kindern, den einjährigen Reinhold ausgenommen, zwischen den Hecken des »Düsteren langen Balkens« spazieren. Auf einmal gab's einen großen Knall, und dann fuhr zischend eine ungeheure Feuerschlange in den Himmel. Und als Asmus glaubte, das wäre das Schönste von der Welt, da spaltete sich der Kopf der Schlange und spie rote, blaue und grüne Sterne aus. Auf dem »Schützenhof« war Feuerwerk. Und als es eine ganze Weile gesprüht und geknattert hatte, da rief Ludwig Semper plötzlich »Scht«, und nun hörte man eine sanfte, wundersame Musik. Asmus hatte seinen Vater wohl zuweilen sagen hören: »Das ist aus »Fidelio« oder: »Das ist aus den »Hugenotten«, ohne zu ahnen, was »Fidelio« und »Hugenotten« zu bedeuten habe.

»Ist das aus »Fidelio«?« fragte er jetzt.

»Nein«, sagte Ludwig Semper, »das ist aus dem »Freischütz«. Hör' zu.«

Und Asmus hörte zu. Und bei der nächsten Musik fragte er ganz leise: »Vater, woraus ist das?«

»Das ist aus dem »Barbier von Sevilla«.«

»Sevilla? Sevilla?« Das klang dem Kleinen lieb und vertraut. Eines wolkenlosen Sonntags war seine Mutter in ihrer munteren Weise durch Kammer und Küche hin und hergelaufen und hatte gesungen:

»Nach Sevilla, nach Sevilla!
Wo die letzten Häuser stehen,
Sich die Nachbarn freundlich grüßen,
Mädchen aus dem Fenster sehen,
Ihre Blumen zu begießen,
Ach, da sehnt mein Herz sich hin!

In Sevilla, in Sevilla
Weiß ich wohl ein reines Stübchen,
Helle Küche, stille Kammer,
In dem Hause wohnt mein Liebchen,
Und am Pförtchen glänzt ein Hammer.
Poch ich, macht die Jungfrau auf!«

Seit jenem Tage war ihm »Sevilla« ein freier Platz mit Häusern, auf den eine unendlich goldene Sonne und ein unendlich helles, unendlich stummes Feiertagsglück herabschien.

In die Kindheit der Eltern waren noch die Klänge der Romantik gefallen; der Nachhall der Kriegslieder von 1813 hatte sie noch durchweht, ja durch Ludwig Sempers Vaterhaus waren noch die wehmutfeuchten Lieder eines Salis-Seewis und Matthison gezogen, und Ludwigs ältere Schwestern hatten mit heimlichen Tränen »Sigwart, eine Klostergeschichte« gelesen. So verband ein klingender Strom die Kindheit Asmussens mit der Kindheit des 19. Jahrhunderts, und noch in späten Jahren, wenn er von den Befreiungskriegen las oder ihrer gedachte, dann hörte er durch die Sturmwolken des Krieges die Stimme seines Vaters:

»Jenseit des Rheines lodern blutige Flammen;
Die deutschen Brüder ruft das Horn zusammen«

oder seiner Mutter Stimme:

»Mädchen, bald wirst du den Sieger bekränzen,
Schmücken mit Lorbeern sein teures Haupt.«

Im Semperschen Hause wurde viel gesungen; Vater und Mutter und alle Kinder sangen; nur wenn es Kartoffeln aufs Brot gegeben hatte, dann waren die Kehlen wohl eine Weile trocken; aber eine Stunde später konnten sie schon wieder singen. Und sobald irgendwo gesungen wurde, ließ Asmus seinen Hammer oder Peitsche oder Säbel ruhen, um die Ohren zu spitzen wie ein Häslein.

Von dorther, wo an manchen Abenden aus dem Schornstein einer Eisengießerei eine große Flammengarbe emporschlug, von dorther war eines Morgens der Herbst mit zerrissenen Wolkenfahnen gekommen und hatte Sommer, Sonnenschein und Blätter bis ans Weltende gejagt. Und dann war der Winter gekommen und hatte während einer Nacht die ganze Erde mit weißem Zucker bestreut. Ludwig Semper führte seinen Asmus ans Fenster und sagte: »Sieh mal; alles Zucker! Lauter Zucker!« Dabei gingen wieder von seinen Augen nach allen Seiten Strahlen aus. Asmus lächelte; aber es war Zweifel in seinem Lächeln. An so viel Zucker glaubte selbst er nicht mehr. Aber bei nächster Gelegenheit ging er doch einmal hinunter und probierte. Nein, der Schnee schmeckte nicht süß. An Wintertagen, wenn der krummbeinige Zwergofen sich anstrengte, daß seine runden Backen knallrot wurden, saß Ludwig Semper am Arbeitstisch und machte Cigarren; seine Söhne Leonhard und Johannes halfen ihm; wenn die Mutter in Küche und Schlafkammer fertig war, half auch sie; Reinhold, der Jüngste, lag in der Wiege; Asmus spielte zwischen allen herum, und alles atmete Tabakgeruch und Tabakstaub. Nur Alfred war in der Schule; die Schwestern waren im Dienst bei fremden Leuten. In der Tabakstube waren Arbeitszimmer, Wohnzimmer, Speisesaal, Empfangszimmer, Salon, Bibliothek und Kinderzimmer praktischer Weise vereinigt, und das alles war auf einem Raume von vier Metern in Läng' und Breite erreicht. An einem solchen Tage hatte Asmus als Soldat seine sämtlichen Angehörigen schon zu wiederholten Malen mit einem Spazierstock totgeschossen; sie waren alle umgefallen, aber wieder aufgestanden; da verwandelte sich plötzlich das Gewehr in eine Trompete; Asmus trat an seinen Vater heran und sprach: »Guten Tag. Ich bin der Musikmacher. Soll ich Ihnen was aus 'm »Freischütz« vorspielen?«

»Ja, bitte!« sagte Ludwig Semper und lachte. Und Asmus blies auf dem Spazierstock klar und rein das Jubelmotiv: »Max hat den besten Schuß getan.«

Ludwig Semper und die andern lachten nicht mehr, sondern sahen den kleinen Holzbläser ganz verdutzt an.

»Soll ich Ihnen jetzt den »Barbier von Sevilla« vorspielen?« fragte Asmus.

»Bitte!« rief Ludwig Semper.

Und Asmus blies so richtig, wie man's nur verlangen konnte:

»Will Rosine mich betrügen,
Muß sie schlau zu Werke geh'n.«

Als der kleine Musikant merkte, daß er Eindruck mache, da spielte er ein ganzes Programm.

»Nu kommt »Josef in Aegypten«!« rief er.

»Was ist denn Aegypten?« fragte Ludwig Semper.

»Aegypten ist eine Wiese«, antwortete Asmus mit Festigkeit. Er hatte einmal gehört, die Störche zögen nach Aegypten, und er hatte einmal gesehen, daß viele Störche auf einer Wiese standen. Daraus schloß er, daß Aegypten eine Wiese sei. Und er blies:

Ich war Jüngling noch an Jahren,
Vierzehn zählte kaum ich nur.«

»Er müßte ein Klavier haben oder eine Geige!« rief Johannes begeistert.

»Ja, ja«, sagte Ludwig Semper und bückte sich mit heißem Eifer auf seine Arbeit. An diesem Tage träumte er davon, seinem Asmus ein Klavier oder eine Geige zu erarbeiten.

Wenn Leonhard oder Johannes sich nach langen Wochen fünf Schillinge erspart hatten, dann gingen sie eines Abends auf die oberste Galerie des Stadttheaters. Wenn sie fortgingen, blickte Asmus ihnen mit einer dunklen Sehnsucht lange nach. Denn am andern Tage konnten sie immer nicht aufhören, mit leuchtenden Augen und heißen Köpfen zu erzählen und zu singen. Sie sprachen von wundervollen Landschaften, über die der Mond dahingezogen, von köstlichen Gewändern und herrlichen Gesängen, wie:

»Rezia ist auf ewig dein.«

Oder sie sprachen von vielen Männern, die »auf der Bühne« gestanden und ihre Schwerter gezogen und gesungen hätten:

»Geheiligt sei die Rache
Für unsere heilige Sache!«

Ach, wie herrlich mußt' es dann sein, wenn der Graf Nevers sich empörte gegen den schändlichen Plan der Mörder. Er ganz allein gegen alle die Mörder – wie mußte das schön sein! Und Asmus schlich auf den Dachboden, und als er sich allein sah, zog er den Spazierstock und sang:

»Nie hab' ich mein Geschlecht
Durch feigen Mord geschändet,
Und wenn sich euer Blick umher
Auf meine Ahnen wendet,
Zähl' ich der Krieger viel,
Doch einen Mörder nicht!«

Dann rief Asmus-Saint Bris dazwischen:

»Wie? du reihst dich nicht ein in die tapferen Scharen?«

Und Asmus-Nevers erwiderte flammenden Blickes:

»Nein, meinen Degen will
Vor Schande ich bewahren.
Sieh, hier hast du ihn!
Zum Mord brauch' ich ihn nicht!«

und er schleuderte seinen Stockdegen dem unsichtbaren, aber schändlichen Saint-Bris vor die Füße, ganz so, wie es Leonhard beschrieben und gezeigt hatte. O, Theater, Theater! Ob er wohl auch einmal ins Theater käme?

Es war im Dezember, als Johannes dem Asmus, der zur Tür hereintreten wollte, hastig zurief: »Draußen bleiben! Draußen bleiben!« und eilig etwas unter den Tisch verbarg. Was sollte das bedeuten? Als Asmus bald darauf eintreten durfte und Johannes hinausgegangen war, da fand er unter dem Stuhl, auf dem der Bruder gesessen, ein handgroßes Stück Pappe. Aus der Pappe war ersichtlich etwas herausgeschnitten worden, und das Loch hatte die Form einer menschlichen Gestalt. Was sollte das nur bedeuten?


 << zurück weiter >>