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LII.

Krag stürzte die Treppen hinauf und dann weiter in Lizzies Zimmer hinein.

»Ich bringe gute Nachricht!« rief er aus.

Nelson kam sofort hinter ihm her. Den Koffer stellte er auf einen Stuhl. Er wollte etwas sagen, kam aber nicht dazu; denn Lizzie preßte vor Ungeduld seine Hände und fragte leise:

»Haben Sie die Dokumente wirklich gefunden?« Darf ich sie ihm selbst bringen?«

»Ja,« kam Nelson endlich zu Wort. »Dort im Koffer liegen die Papiere. Bringen Sie sie Ihrem Sohn. Aber,« fügte er hinzu, indem er mit der Hand das Schloß des Koffers verdeckte, »ich habe Herrn Krag versprochen, ihm zu erzählen, wie alles zugegangen ist. Also ...«

Lizzies Antlitz zitterte vor Erregung. Nelson begriff, daß ihr jetzt alles andere gleichgültig wäre, wenn sie nur in den Besitz der Dokumente kam.

»Ich mache den Vorschlag,« sagte Krag, »daß Sie uns erst nachher die näheren Umstände mitteilen.«

»Jede Stunde erhöht meine entsetzliche Angst,« sagte Lizzie und sah dabei Nelson mit bittenden Augen an.

Dann streckte sie die Hand aus und befahl: »Geben Sie sie mir!«

Nelson öffnete den Koffer. Zunächst schnallte er die Riemen auf, öffnete dann umständlich das Schloß und klappte die Tasche auseinander. Es schien aber, daß der Koffer noch ein besonderes abschließbares Fach besaß, denn Nelson bearbeitete noch ziemlich lange eine weiteres Schloß, das schließlich etwas geräuschvoll aufsprang. Während dieser Arbeit hatte er den anderen den Rücken gekehrt. Krag konnte von dem Inhalt des Koffers nichts erblicken; es schien ihm aber unverständlich, wie Nelson in so kurzer Zeit die Dokumente hatte stehlen und darauf so sorgfältig in seinem eigenen Koffer hatte verwahren können.

Endlich schien Nelson das Gesuchte gefunden zu haben. Er entnahm dem Koffer eine kleine schwarze Brieftasche, worauf er ihn wieder verschloß. Erst als er damit fertig war, reichte er Lizzie die Brieftasche, Krag bemerkte auf derselben ein großes rotes, unerbrochenes Siegel.

Langsam, fast ängstlich, ergriff Lizzie das Kleinod. Sie schien an diesen glücklichen Ausgang nicht recht glauben zu wollen. Sie starrte das rote Siegel an und las den Namen des britischen Ministeriums des Aeußeren. Erst jetzt begriff sie, daß sie im Besitz des Schatzes sei, womit sie ihren Sohn retten konnte. Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis überfiel sie wieder eine entsetzliche Angst. Sie konnte es kaum abwarten, zu ihrem Sohn zu eilen und ihn an ihr Herz zu drücken.

»Begleiten Sie Lizzie in das Hotel ihres Sohnes, Herr Krag,« schlug Nelson vor. »Baron Sixten und seine Leute werden ein lautes Wutgeschrei erheben, wenn sie den Verlust entdecken. Diese Menschen sind imstande, einen neuen Schurkenstreich zu begehen.«

Krag sah die Richtigkeit dieser Ausführungen ein. Zur Sicherheit wollte er die Brieftasche an sich nehmen; das wollte Lizzie aber unter keinen Umständen zugeben. Sie barg die Mappe in ihrem schwarzen Mantel und eilte dann die Treppe so schnell hinunter, daß der Detektiv ihr kaum folgen konnte. Beim Anblick dieses sonderbaren Aufzuges wich das Hotelpersonal verwundert beiseite.

Nelsons Sorge war unnötig; niemand belästigte sie unterwegs. Vor Herberts Hotel befahl Krag dem Kutscher zu warten; dann begleitete er Lizzie bis vor die Tür ihres Sohnes. Ehe sie eintrat, hielt sie einen Augenblick inne, um ihre Gedanken zu sammeln. Krag begriff die große Erregung; an die Dokumente dachte sie jetzt sicher nicht. Ein einziges Gefühl erfüllte sie ganz; die ungeheure Erwartung und eine tiefe Dankbarkeit, daß sie, die Mutter, wieder mit ihrem Kind zusammentreffen durfte. Trotzdem sie aber als Helferin und Trösterin kam, trat sie doch sonderbar verzagt und mutlos zu ihrem Sohn ins Zimmer.

Krag schlich still davon. Er hatte genug dieser Dramen gesehen.

Als er die Treppe hinunterging, stellte er sich vor, was wohl nun hinter jener Tür, wo Lizzie und er gestanden, sich abspielte. Was dort aber geschah, war von dem, wie er sich ausmalte, ganz verschieden. Das Leben birgt viel Jammer, aber auch große Freuden. Mit Lizzie hatte es das Schicksal gut gemeint; sie war gerade in dem Augenblick gekommen, als Herbert der tiefsten Verzweiflung nahe war. Als er aber die Dokumente in Händen hatte, die ihm die Gewißheit gaben, daß Tage des Glückes ihm noch bevorstanden, fühlte er sich wie neugeboren. Eine überwältigende Freude über das Wiedersehen mit der Mutter nahm ganz von ihm Besitz. Ein tiefes Glücksgefühl erfaßte ihn, denn eine langgehegte Sehnsucht war ihm erfüllt worden; die jahrelange Sehnsucht nach der Mutter, vor deren Bild er oft in stillen Stunden gestanden und die Erinnerung an seine unvergeßliche Jugend zurückgerufen hatte. Dann aber gewann das Gefühl die Ueberhand, die verzagte und vom Schicksal so hart betroffene Mutter gegen weitere Schicksalsschläge zu schützen.

So geschah es denn, daß, als etwa nach Verlauf einer Stunde ein schon ergrauter, aber dennoch elastischer Herr, ruhig und doch voller Angst, das Zimmer betrat, um Herbert zur Rechenschaft zu ziehen, Mutter und Sohn glückstrahlend vorfand. Diesem Anblick hielt Sir Cyrus Holmes nicht stand; zu lange hatte er die Liebe derjenigen entbehrt, die seine Nächsten waren, und der Gram darüber hatte ihn Jahre hindurch verfolgt. Dieser Abend hatte drei glückliche Menschen wieder zu Glück und Freude vereinigt.

Mittlerweile war Asbjörn Krag wieder zu Nelson zurückgekehrt. Dieser hatte ihn schon erwartet; er brannte darauf, dem berühmten Detektiv zu schildern, wie er in den Besitz der Dokumente gekommen war.

»Sie wollen wissen,« begann er, »was ich in den drei Minuten ausgeführt habe. Ich will es Ihnen sagen. Ich konnte bei Lösung dieser Aufgabe mit großer Sicherheit auftreten, weil ich mich vorher gut unterrichtet hatte. Baron von Sixten ahnte nicht, daß ich ihm auf der Spur war. Seine Sorglosigkeit war sein Ruin. Meine Spione verfolgten ihn auf Schritt und Tritt; ich erfuhr, daß er die Dokumente in einer Handtasche verwahrte, die er auf der Reise selbst tragen wollte. Diesen Umstand legte ich meinem Angriffsplan zugrunde. Sollte dieser jedoch mißglücken, hatte ich für alle Fälle noch andere Pläne in Aussicht genommen. Ich erwartete ihn am Bahnhof und wartete den Augenblick ab, wo er die Tasche aus der Hand setzen würde, um sein übriges Gepäck aufzugeben. In dem Moment war ich auf dem Posten. Ich kenne alle Kniffe, und einen der allereinfachsten, der jedem andern auch bekannt ist, wandte ich an. Sehen Sie her ...«

»Ich verstehe schon,« sagte Krag, indem er Nelsons Koffer umwarf. Der Koffer hatte keinen Boden; aber zwischen zwei inwendig angebrachten Klammern saß eine kleine Tasche. Dies war die Handtasche, die Krag den Baron Sixten hatte tragen sehen. Nelson hatte nur seinen Koffer über die Tasche des andern zu setzen brauchen, damit war die Tasche des Barons auf rätselhafte Weise verschwunden. Niemand kam auf den Gedanken, den eleganten Herrn, der bald darauf den Bahnhof mit einem wohlverschnürten Koffer verließ, für den Dieb zu halten.

   

Wenige Minuten später verließ Nelson Ostende. Krag brachte ihn zum Zug.

Als er auf dem Trittbrett stand, fragte er den Detektiv: »Hat Lizzie Ihnen alles gesagt?«

»Ja, sie hat mir gesagt, daß Sie doch der Gentlemandieb sind.«

»Wie sind Sie denn zufrieden mit der endlichen Lösung der Rätsel von Kristiania?« fragte er.

»Ich bin zufrieden,« entgegnete Krag. »Die alten Geschichten sind nun begraben. Heute abend hat die Gerechtigkeit gesiegt, und zwar ohne polizeiliche Hilfe. – Aber sagen Sie mir, wo reisen Sie jetzt hin?«

Nelson lächelte müde: »Ich bin auf der Fahrt nach neuen Abenteuern; das ist nun einmal mein Schicksal,« sagte er ernst.

Krag sah ihm nach, bis seine Gestalt sich im Dampf der Lokomotive verlor.

Tags darauf speiste Krag mit der Familie Cyrus Holmes. Nach dem Essen zog ihn der Forscher in eine Ecke des Zimmers.

»Ist er fort?« fragte er.

»Ja,« erwiderte Krag.

»Werden Sie ihm wieder begegnen?«

»Vielleicht!«

»Dann grüßen Sie ihn von mir.« Seine Worte klangen weich.

»Ich werde den Gruß bestellen und ihm sagen, daß die Drohung aus dem Bois de Boulogne nicht mehr besteht.«

Sir Cyrus nickte.

»Haben Sie ihn gesucht?«

»Zwei Jahre lang habe ich ihn gesucht, um ihn zu töten,« sagte Cyrus Holmes. »Aber vergebens, wissen Sie, was das sagen will? ... So ein Mensch hat das Recht zu leben.«


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