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XXVIII.

Im Verlaufe des Verhörs wurde die Art und Weise, in welcher die Verteidigung von Blink geführt wurde, immer auffälliger, ohne daß auch nur das Geringste vorgebracht wurde, was sein Vorgehen rechtfertigen konnte.

Diejenigen, die die leitenden Motive seiner Verteidigung verfolgten – die anwesenden Juristen waren mit größtem Interesse bei der Sache – glaubten, der Verteidiger beabsichtige den Anschein zu erwecken, daß Mr. Nelson aus irgendeinem edelmütigen Grunde seine Person in undurchdringliches Dunkel hüllte; vielleicht aus dem Grunde, seine angesehenen, jedoch unbekannten Angehörigen nicht dem Skandal auszusetzen.

Man war allgemein der Ansicht, daß dies Verfahren sehr dazu geeignet war, den Angeklagten sympathischer erscheinen zu lassen; man neigte aber zu der Annahme, daß dies Moment nicht ausschlaggebend sei. Sicher war das Hauptgewicht der Verteidigung darin begründet.

Gleichzeitig stellte man mit Erstaunen fest, daß der Verteidiger in weit höherem Maße unliebsame Bezeichnungen und Redewendungen auf den Angeklagten anwandte als der öffentliche Ankläger. Dadurch entstand eine Inkonsequenz, eine Spaltung in der Verteidigung, die man dem alten, erfahrenen Juristen nie zugetraut hätte. Dies veranlaßte viele, den Gedanken festzuhalten, daß der Verteidiger einen Nebenzweck verfolge, so daß noch eine ganz unerwartete Wendung eintreten würde.

Während der Staatsanwalt immer nur die neutrale Bezeichnung »der Angeklagte« anwandte, benutzte der Verteidiger Bezeichnungen, wie »Verbrecher«, »brutales Verbrechen« und dergleichen. – Hin und wieder wurde Lady Holmes von dem Verteidiger zu erneutem Verhör herbeigerufen. Sonderbarerweise handelte es sich dabei immer um Kleinigkeiten. Wenn jedoch Lady Holmes vor dem Richterstuhl stand, nannte er Nelson immer nur den Verbrecher. Scharfe Beobachter konnten bemerken, daß dieses Wort sie ungemein peinlich berührte.

Die Anklage wurde verlesen. Es zeigte sich nun, daß man in dem Schriftstück von den andern geheimnisvollen Einbrüchen in der Stadt abgesehen hatte und sich darauf beschränkte, dem Angeklagten den vollführten Einbruch bei dem Generalkonsul Spade und den Einbruchsversuch bei Lady Holmes zur Last zu legen, welches Vergehen als Einbruch und Raub bezeichnet wurde. Als verschärfendes Moment wurde die raffinierte Geheimnistuerei angeführt, womit der Angeklagte sich umgab, zweitens seine Weigerung, über den Verbleib des gestohlenen Goldes Auskunft zu geben, und schließlich seine deutlich zur Schau getragene Frechheit. Der Staatsanwalt schloß seine Anklage mit dem Hinweis, daß der Angeklagte gerade jenen Verbrechertypus verkörperte, gegen deren Intelligenz und Verschlagenheit sich die Allgemeinheit nicht genug wehren könnte. Er fordere die höchste gesetzliche Strafe, nämlich vier Jahre Zuchthaus.

Darauf nahm der Verteidiger das Wort. Schon die einleitenden Bemerkungen steigerten die Verwunderung, womit Sachverständige und Laien dem Gang der Verteidigung gefolgt waren. Unaufgefordert ließ er den Staatsanwalt Terrain gewinnen. Dieses Vorgehen rief unter den anwesenden Juristen eine solche Ueberraschung hervor, daß geräuschvolles Murmeln seine Rede unterbrach.

Er begann: »Ich spüre, daß die Angelegenheit meines Klienten nicht sehr günstig steht –«

Dies entsprach nun nicht ganz der Wahrheit; denn man merkte deutlich, daß der elegante Dieb nicht nur das Ziel der Neugier seiner Umgebung war, sondern auch das ihres Wohlwollens; also war immerhin ein Zeichen von Sympathie vorhanden.

»Und das ist zu verstehen. Man wird lange in den Annalen der norwegischen Gerichte suchen müssen, um ein Verbrechen ähnlich brutaler Art zu finden. Ich gebe mich daher nicht der Hoffnung hin, den Beweis zu erbringen, dem Angeklagten eine weniger harte Strafe zu erwirken, will aber doch nicht unterlassen –« usw.

Gerade dieser Ausspruch erregte das größte Erstaunen der Anwesenden. Statt auf mildernde Umstände bei Ausführung der Tat aufmerksam zu machen, schilderte der Verteidiger, welchen zerstörenden Einfluß ein mehrjähriger Zuchthausaufenthalt auf den noch jungen Verbrecher ausüben würde. »Wissen Sie denn überhaupt, meine Herren, was das sagen will: vier Jahre Zuchthaus?« rief er pathetisch aus, worauf er in realistischer und doch zugleich fast dichterischer Form ein Bild des Strafanstaltlebens gab. Er malte die entsetzliche Einsamkeit der langen Jahre aus; er sprach von dem zerstörenden Einfluß des Zuchthauses auf freiheitsliebende Individuen. Ganz besonders legte er dem verwundert aufhorchenden Publikum ans Herz, wie durch die Gefängnisluft die Jugend schnell altert, grau und energielos wird, ja fürs ganze Leben verpfuscht ist.

Seine Ausführungen waren im Grunde nicht als Verteidigung anzusehen, sie waren vielmehr ein Appell ans Mitleid. Und doch schien es, als sei er sich gänzlich darüber klar, die Richter nicht umstimmen zu können. Seine Rede war nur eine schmerzliche Klage darüber, daß sich die Gefängnistüren hinter diesem Dasein schließen müßten, um für immer ein Leben zu zertrümmern, dessen seltenen Anlagen doch etwas anderes zu wünschen gewesen wäre als dieser trostlose Ruin.

Der Vortrag des alten, warmherzigen Anwalts war besonders zum Schluß von einer so edlen und echten Bewegung getragen, daß er die Zuhörerschaft mitriß. Es herrschte große Rührung im Gerichtssaal, als er ausrief:

»Somit überantworte ich diesen Unglücklichen dem menschlichen Mitleid!«

Nun aber trat eine Situation ein, dies Märchen, das schon lange im Anmarsch gewesen war, das in der Luft geschwebt hatte, gerade wie geheimnisvolle Ahnungen kommende Katastrophen voraussagen.

Ein Aufschrei. Dann rief eine Stimme voller Verzweiflung: »Nein, nein, das darf nicht geschehen! Er ist unschuldig!«

Dann hörte man nur noch schmerzliches Schluchzen.


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