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Der plötzliche Wutanfall des Gefesselten überraschte Jacobsen und auch den Schutzmann, der nähertrat, um den Engländer zu packen. Krag trat jedoch dazwischen.
»Immer ruhig, die Fesseln werden schon halten.«
Es war, als hätte die Stimme des Detektivs den Engländer wieder zur Besinnung gebracht; durch psychische Anstrengung, die der physischen an nichts nachgab, unterdrückte er seine Wut. Er versuchte sogar zu lächeln. Dieses Lächeln sah aber sonderbar genug aus in dem starren Gesicht. Er rüttelte wiederum an den Ketten. »Sie haben recht,« sagte er, »sie sind stark genug.«
»Nun können wir in dieser Komödie wohl Schluß machen,« meinte Krag. »Ich hoffe, Sie sind mit der steigenden Handlung derselben zufrieden.«
»Sie sind es?« fragte Nelson.
»Ja,« entgegnete Krag, »sie war, wie es sich für eine Komödie gehört, gekennzeichnet, durch eine innere, psychologische Entwicklung, markiert durch eine seelische Ueberraschung, Sicherlich hätte diese Komödie auch vor einem größeren Publikum Erfolg gehabt.« – Sich an die Polizisten wendend, sagte er: »Führen Sie ihn ab; ich werde nachkommen.«
Willig folgte Mr. Nelson den beiden Polizisten. Krag horchte noch, bis der Wagen mit dem geheimnisvollen Engländer davongefahren war. – Mit dieser Wohnung war der Detektiv so gut wie fertig. Er konstatierte zu seiner großen Zufriedenheit, daß die Untersuchung gar nicht so ganz erfolglos gewesen sei, wie er es sich gedacht hatte. Was jedoch für ihn den größten Wert hatte, war die seelische Ueberraschung, wie er es nannte, die innere psychologische Entwicklung der Komödie, die darin bestand, daß er Nelson dazu gebracht hatte, sich zu verraten. Wahrscheinlich ahnte Nelson das Vorhandensein des verräterischen Stückchen Papiers, das Krag gefunden und worauf stand, daß Murfy willig sei, gar nicht. Offenbar wäre diese Erkenntnis seiner Zeit für Nelson von außerordentlicher Wichtigkeit gewesen. Vielleicht bedeutete sie die Durchführung eines Verbrechens. – Wer war Murfy? – Und wer war Sewel, der das Papier unterzeichnet hatte? – Alles deutete darauf hin, daß diese Personen sich in Christiania aufhielten oder doch bis vor kurzem hier anwesend waren. – Sollte Nelson wirklich der große Verbrecher sein, zu welcher Ueberzeugung Krag immer mehr kam, dann mußten diese Menschen doch seine Mitschuldigen sein. Im Falle sich diese Leute in Christiania aufhielten, konnte man sich ja auch seine Unerschrockenheit erklären, womit er andeutete, daß er hier noch andere Zufluchtsstätten habe. Selbstverständlich ging er bei seinen Mitschuldigen aus und ein, wie es ihm gerade paßte. – Ihres Verschwindens wegen würde sich niemand an die Polizei wenden. Diese Theorie, die Krag augenblicklich ganz unangreifbar vorkam, erklärte ihm auch Nelsons Entweichen. Er hatte um jeden Preis mit seinen Helfershelfern sprechen müssen, um sie zu informieren. Warum er aber ins Gefängnis zurückkehrte, darüber gab die Theorie keine Auskunft.
Ueber diese Fragen sann Krag nach, als er in der mondhellen Nacht nach dem Zentrum der Stadt wanderte.
Er geriet mit sich selber in Zwiespalt. War es möglich, daß Nelson sowohl ein edler Mensch als auch ein verschlagener Verbrecher sein konnte? Daß er nicht nur aus Edelmut handelte, davon war Krag schon längst überzeugt. Das ging allein aus den gezinkten Karten hervor, die er in Nelsons Wohnung gefunden hatte. Ließen sich aber zwei so entgegengesetzte Charaktere in einem Menschen vereinigen? Vielleicht durch die Macht der Liebe? – Krag war ein Mann von nüchterner Anschauung. Er scheute sich vor allem, was nicht zu den Realitäten des Lebens gehörte. Vor allen Dingen wehrte er sich dagegen, mit jeglicher Art Sentimentalität zu rechnen. Lieber rechnete er damit, daß Lady Holmes in dieser Affäre eine Rolle spielte, die sowohl sie als auch Nelson vor ihm zu verbergen suchten, vielleicht dadurch, daß sie ein unerlaubtes Verhältnis vorschoben. Plötzlich fuhr er aus seinen Grübeleien auf.
Im Grunde spielten drei Personen im Drama mit, nämlich Nelson, Lady Holmes und Sir Cyrus Holmes.
Sir Cyrus Holmes – der berühmte Forschungsreisende.
Mit ärgerlichem Kopfschütteln verwarf Krag den Gedanken. Diesen wurde er jedoch nicht wieder los; er wurzelte tief in seinem Bewußtsein.
Die Kunde der merkwürdigen Flucht und Wiederergreifung des Engländers gelangte nicht an die Oeffentlichkeit. Eingeweihte wußten jedoch zu erzählen, daß Nelson den Versuch gemacht habe, in seine Wohnung zu gelangen, um die erforderlichen Mittel zur Flucht über die Grenze zu holen, und dort von Asbjörn Krag abgefaßt worden sei. Die Verhältnisse lagen so, daß Krag die für ihn so schmeichelhaften Gerüchte nicht dementieren konnte.
Nelsons Aussagen über die Bewerkstelligung seiner Flucht bestätigten sich bald. Er hatte die Vorteile benutzt, die den Untersuchungsgefangenen zugebilligt werden, besonders denen, die ein umfassendes Geständnis ablegen.
In seiner Zelle hatte man den Gefangenenwärter ohnmächtig aufgefunden. Nelson hatte dessen Uniformrock angezogen. In dieser Kleidung und mit Hilfe der Schlüssel war es ihm gelungen, unbemerkt durch alle Türen zu gelangen. Als der Gefangenenwärter wieder zu sich kam, war er von dem giftigen Tabak noch ganz verwirrt; in Fieberphantasien murmelte er: »Dann und wann eine solche Zigarette, das lasse ich mir gefallen, Herr Nelson, ja, ja, vielen Dank. Unsere Einnahmen erlauben uns nicht den Luxus, solche Zigaretten zu rauchen. Nein, sehen Sie, Herr Nelson, der Staat –«
In den folgenden Tagen strengte Krag sich an, herauszubekommen, wo Nelson sich während der Zeit zwischen seinem Entweichen aus dem Gefängnis und seinem Auftreten in der Wohnung am Parkweg aufgehalten haben könnte. Trotzdem der Detektiv alle Hilfsmittel anwandte, die in solchen Fällen den Kriminalbeamten zur Verfügung stehen, war es ihm jedoch nicht möglich, irgendeine Spur zu entdecken. Wo sich Nelsons Wohnung befand, schien ein unergründliches Geheimnis. Es war Krag nicht möglich gewesen, auch nur die geringste Spur der Mitschuldigen des Engländers ausfindig zu machen. Bisweilen unterhielt er sich mit Nelson in der Zelle. Anfänglich war Nelson mißtrauisch und vorsichtig; im Laufe der Zeit jedoch, als er bemerkte, daß Krag nicht recht weiterkam, stellte sich sein alter Humor wieder ein. Nach und nach nahm er eine ironische und überlegene Sprechweise an.
Dagegen war es Krag gelungen, einige Indizienbeweise – ganz unbedeutende Nebenumstände – zu finden, die mit der ganzen Angelegenheit in Verbindung stehen mußten, jedoch miteinander nicht in Einklang zu bringen waren, weil zwischendurch zu viel fehlte.
Nelson selbst verweigerte jede Aussage, die über den Rahmen dessen hinausging, was er beim ersten Verhör gesagt hatte. Man hatte bei allen europäischen Kriminalämtern vorgefragt, ohne jedoch Näheres über ihn zu erfahren. Sein Name schien zuerst in Christiania aufgetaucht zu sein. Daß sich unter diesem Namen ein anderer und bekannterer verbarg, davon war man überzeugt.
Er hatte jedoch den Diebstahl bei dem Generalkonsul Spade und den Diebstahlsversuch bei Sir Cyrus Holmes zugegeben; es blieb demnach kein anderer Ausweg als der, die ganze Angelegenheit dem Schwurgericht zu übergeben.
Und hierbei kam es zu der großen Ueberraschung, zu der ungeheuren Sensation, die noch manchem lebhaft in der Erinnerung sein mag, und die vor aller Welt das Geheimnis entschleierte, das Krag so sehr verstimmte.
Die ganze Sache nahm eine neue Wendung, als die Schwurgerichtsverhandlung am 24. Oktober, vormittags zehn Uhr, ihren Anfang nahm, indem der Vorsitzende sich erhob und den Befehl erteilte: »Man führe den Angeklagten herein.«