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XXXIV.

Als Krag am anderen Morgen eine Viertelstunde vor Abgang des Kontinentalzuges den Bahnsteig des Ostbahnhofes betrat, bemerkte er den Polizeiagenten Holmsen, der schon nach ihm ausgeschaut hatte. – An diesem Morgen war Krag bei der Toilette sehr sorgsam zu Werke gegangen. Er wollte von Nelson nicht erkannt werden; als er jedoch vorm Spiegel saß und sich maskierte, hatte er das eigenartige Gefühl, daß es unnütze Arbeit sei. Nelson werde ihn auf alle Fälle wiedererkennen. Zum Schein wollte er die Verkleidung nun aber doch durchführen, und zwar so sorgfältig wie möglich.

Wie er so auf dem Bahnsteig stand, konnte man ihn für einen Deutschen oder Dänen halten, der geschäftlich in Norwegen zu tun gehabt hatte und nun auf der Rückreise sei. – Bei Bestellung der Fahrkarte hatte er den Namen Salomon Blichenstein angenommen. Sein etwas jüdisches Aussehen ließ den Vornamen berechtigt erscheinen. – Holmsen blickte ihn einen Augenblick scharf an. Als Krag nickte, trat er auf ihn zu. »Herr Salomon Blichenstein, wie ich vermute?«

»Ja, erkannten Sie mich?«

»Wohl kaum,« entgegnete Holmsen, »wenn Sie nicht das Zeichen gegeben hätten. Ich beginne aber an Ihrer Phantasie zu zweifeln,« fügte er halb spaßend, halb mißvergnügt hinzu. »Diese ewigen jüdischen Geschäftsreisenden werden bald gar zu allgemein.«

»Gerade aus diesem Grunde habe ich diese Verkleidung gewählt. Ich wünsche, recht unauffällig zu sein. Es ist ja gleichgültig, wie ich aussehe; wenn ich nur verkleidet bin. Ich nehme nämlich an, daß man mich doch erkennt. Ich wünsche aber nicht, aufdringlich zu erscheinen. Sind Sie über die Plätze orientiert?«

»Jawohl, alles in bester Ordnung. Im ersten Wagen haben sich Sir Cyrus Holmes und sein Begleiter Plätze reservieren lasten. Ein Diener hat das Gepäck schon dorthin befördert. Sein Begleiter heißt Roger Pemberton und ist Marineoffizier. Im zweiten Wagen hat Cooks Beauftragter soeben die Plätze für Mr. Nelson und seine Begleiterin reserviert. Für Sie, Herr Krag, habe ich Platz im dritten Wagen belegen lassen. Sie wünschten ja selbst, Ihren Platz nicht so nahe den Plätzen der anderen zu haben. Das ist zwar eine eigenartige Methode, wenn man Leute verfolgen will; das aber ist ja Ihre Sache.«

»Augenblicklich ist das nun einmal meine Methode,« entgegnete Krag.

Sie begaben sich ins Abteil. Krag setzte seine Handtasche auf den bezeichneten Platz. Als die Abfahrtszeit heranrückte, gingen beide Herren auf die Plattform hinaus. Da die Zahl der Reisenden nicht so übermäßig groß war, konnten sie ziemlich ungestört beobachten.

Nelson und Lizzie Holmes langten zuerst an. Sie beeilten sich sehr, ihre Plätze einzunehmen und ließen sich nicht wieder sehen, nachdem sie das Abteil betreten hatten. Sir Cyrus Holmes und sein Freund, der englische Marineoffizier, kamen etwas später. Ein Zeitungsjunge, der die neuesten Nachrichten feilbot, hielt sie an. Der Marineoffizier wollte einige Zeitungen kaufen, unwillig hinderte Cyrus Holmes ihn daran. Scheinbar fühlte er kein Verlangen danach, sich die ganze Angelegenheit wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die Zeitungen strotzten von Referaten über die gestrige Gerichtsverhandlung.

Krag beobachtete, daß keine der beiden Parteien sich nach der anderen umsah. Niemandem war die geringste Neugier anzumerken. Aber beide Parteien schienen sich eifrig in ihren Abteilen zu verstecken.

Ob die eine Partei wohl von der Gegenwart der anderen wußte?

Der Zug fuhr ab.

Nicht überall wird einem so günstige Gelegenheit geboten, sich für sich zu halten, wie gerade auf einer Eisenbahnfahrt; besonders, wenn viele mitreisen. Man sitzt in einer Ecke des Abteils, umgibt sich mit recht vielen Zeitungen und behandelt die Mitreisenden als wären sie Luft. Dadurch fühlt sich niemand gekränkt. Man ist im Grunde genommen nicht einmal verpflichtet, auf eine Anrede zu reagieren. Der Schaffner ist in dieser steifen Umgebung eine seltsame Erscheinung, weil er höflich und zuvorkommend ist. Wäre der Umgangston im Zuge nicht ein derartiger, dann würden viele, die die Einsamkeit lieben und es verabscheuen, Bekanntschaften zu stiften, einfach davon ausgeschlossen sein, dieses Verkehrsmittel zu benutzen.

Krag hatte also nicht nötig zu befürchten, daß er Gegenstand der Neugier seiner Mitreisenden sein würde. Deswegen hätte er sich nicht zu verkleiden brauchen. Er konnte jedoch nicht die ganze Zeit in seinem Abteil verbleiben. Sowie der Zug hielt, mußte er von der Plattform Ausschau halten. Es ließ sich ja denken, daß eine der vier Personen, die er verfolgte, möglicherweise aussteigen konnte. Nur einmal ging Mr. Nelson den Gang entlang; da war man schon im südlichen Schweden. Er warf einen Blick in Krags Abteil hinein und streifte auch ihn mit den Augen. Sein Gesicht drückte aber nicht die leiseste Ueberraschung aus, nicht einmal Neugier. Nelson ahnte gewiß nicht die Gegenwart des Detektivs. Vielleicht dachte er gar nicht mehr an Krag. Oder?

Als Krag einmal auf einer Station ausgestiegen war, um sich an einem Verkaufsstand einige Zeitungen geben zu lassen, fühlte er einen Stoß im Rücken. Jemand entschuldigte sich. Als Krag sich umwandte, sah er, daß es Nelson gewesen war. Dieser beachtete ihn aber gar nicht. Es schien ein Zufall gewesen zu sein. Der Engländer kaufte auch Zeitungen, natürlich englische.

So um die Mittagszeit herum unterhielt sich Krag mit dem Bedienten einige Minuten, der von Abteil zu Abteil ging, um Bestellungen fürs Diner entgegenzunehmen. – Durch jahrelange Uebung hatte Krag sich die Kunst angeeignet, Leute zum Sprechen zu bringen. Wollte er etwas wissen, so gelangte er auf Umwegen dahin, daß die Leute darauf losredeten, ohne selbst zu merken, daß sie ihm Auskünfte gaben, wie er sie wünschte.

Es dauerte gar nicht lange, da erfuhr er, daß der würdige, englischredende Herr im ersten Wagen an der zweiten Mahlzeit teilnehmen würde; dagegen hätten der englische Herr und die Dame im zweiten Wagen sich für die erste Mahlzeit entschieden. Ohne weiter darüber zu verhandeln, hatten sie bestellt, als wären sie vorher darüber einig gewesen. Krag entschloß sich zur zweiten Mahlzeit. Er überlegte sich die Sache. Es mochte ja ein Zufall sein; möglicherweise bestand auch eine gewisse Uebereinkunft. Dann hatte diese gemeinschaftliche, plötzliche Abreise einen ganz bestimmten Zweck; dann war alles genau überlegt.

Während des Diners bemerkte Krag nichts Auffälliges. Er saß dem Engländer gegenüber, und zwar so nahe, daß er ihn genau beobachten konnte. Das Essen nahm die beiden Herren vollkommen in Anspruch; sie wechselten kein Wort miteinander. Selbst für Engländer war dies Schweigen auffällig. Man konnte glauben, daß ein jahrhundertaltes Schweigen von diesen Holzgesichtern ausging.

Sir Cyrus Holmes bezahlte. Das Klirren des Geldes war der einzige Ton, den man vom Tische dieser Söhne Albions vernahm. Im Schweigen macht es keiner dem Engländer gleich.

Krag konnte ein gewisses Gefühl des Grauens nicht los werden. Sir Cyrus hartes Gesicht war zwar ausdruckslos gewesen; aber noch nie war dem Detektiv aufgefallen, daß Ausdruckslosigkeit so grauenhaft wirken kann. Als die hagere Gestalt des Lords durch die Tür verschwand, kam es Krag in den Sinn, daß gerade derartige Menschen oftmals zielbewußte Forscher und unerschrockene Jäger waren. In den Augen des Engländers lag etwas, was ihn an den Ausdruck der Augen hinter einem Gewehrlauf erinnerte.

Auf der Strecke durch Seeland, eben bevor sich der Zug in der Dämmerung Kopenhagen näherte, geschah etwas Unerwartetes.

Krag war gerade damit beschäftigt, vom Gang aus die flache dänische Landschaft zu betrachten, als jemand ihm die Hand auf die Schulter legte. – Krag drehte sich um.

Vor ihm stand – Nelson.

»Ich komme mit einer Bitte zu Ihnen,« sagte er.

»Kennen Sie mich denn?« fragte Krag.

»Ja.«

»Was wünschen Sie?«

»Sie müssen mir helfen,« entgegnete Nelson sehr ernst. – »Das geschieht nur selten, daß ich mich an jemand um Hilfe wende.«


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