Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Von dem Augenblick an, wo Asbjörn Krag Nelson wiedererkannt hatte, war dem Detektiv klar, daß er Außerordentliches erleben würde. Er wußte, das Beste, was er tun konnte, war, sich die Einzelheiten dieser sonderbaren Szene genau zu merken. Die letzten Jahre schienen Nelson nicht sehr mitgenommen zu haben; nur die Veränderung war eingetreten, daß seine Erscheinung jetzt genau seinem Alter entsprach – nach Krags Berechnung mußte er etwa 38 Jahre alt sein –, während er früher viel jugendlicher ausgesehen hatte, als er in Wirklichkeit war. Oberhalb der Ohren war sein Haar etwas ergraut, was seiner schlanken, doch kräftigen Erscheinung ein sehr distinguiertes und würdiges Aussehen verlieh. Er schien nicht mehr der Spaßvogel von früher zu sein; er war stiller und ernster geworden. Seine Kleidung war die eines vollkommenen Gentlemans; während sein Aeußeres früher einen starken französischen Einschlag aufwies, richtete er sich jetzt mehr nach englischer, oder wohl besser gesagt, nach amerikanischer Mode. Er war ja auch von Amerika gekommen.
Krag hatte erwartet, daß Lizzie durch die plötzliche Erscheinung Nelsons weit heftiger überrascht gewesen wäre. Er dachte nicht, daß diese beiden Menschen während ihres abwechslungsreichen und unsteten Lebens einander öfter begegnet waren. Die behutsame, fast demütige Art und Weise, die Nelson Lizzie gegenüber an den Tag legte, ließ vermuten, daß sie das einzigste Wesen sei, dem dieser merkwürdige Verbrecher alles opfern konnte.
Indem er auf Asbjörn Krag wies, fragte er:
»Ist er Ihr Freund, gnädige Frau?«
»Ja,« antwortete sie.
»Wir drei kennen uns ja,« sagte Nelson. »Wir können also offen miteinander reden.«
»Gewiß, mir ist es sogar lieb, daß wir zu dreien und nicht zu zweien sind.«
Sich an Nelson wendend, fuhr sie fort:
»Soeben sagten Sie, daß Sie mir helfen wollten. Wissen Sie denn, daß ich in großer Not bin?«
Mit einladender Handbewegung nötigte sie ihn, Platz zu nehmen. Er kam ihrer Aufforderung jedoch nicht nach, sondern ging um den angewiesenen Stuhl herum und legte die Hand auf die Rückenlehne.
Diese Reserviertheit schien auf Lizzie einen günstigen Eindruck zu machen; sie wurde dadurch gewissermaßen vertrauensvoller.
»Ich weiß ja aus Erfahrung,« begann sie, »daß Sie sich durch nichts davon abbringen lassen, wenn Sie sich einmal etwas vorgenommen oder eine Entscheidung getroffen haben. Meine Angelegenheit ist jedoch sehr sonderbarer Art. Die Verhältnisse liegen so, daß ein Draufgänger nur zu leicht alles ruinieren kann.«
»Ganz meine Ansicht, gnädige Frau,« bemerkte Krag.
Nelson hatte Lizzie ununterbrochen angeblickt. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, sollte man glauben, daß er Asbjörn Krags Bemerkung gänzlich überhört hätte. Das konnte aber nicht der Fall sein, denn seine Antwort galt auch Krag.
»Ich bin orientiert. Ich sehe die große Gefahr; darum gilt es, schnell zu handeln.«
»Wenn ich doch nur begreifen könnte,« sagte Lizzie mit vor Angst zitternder Stimme, »wie Sie zur Kenntnis meiner traurigen Angelegenheit gelangt sind!«
Nelson lächelte wehmütig; schüttelte dann aber den Kopf.
»Nein!« sagte er.
»Nein?« fragte Lizzie leise, als hätte sie doch verstanden, was er meinte.
»Warum antworten Sie so nichtssagend?« fragte Asbjörn Krag.
»Weil ich wohl verstand, was Lizzie eigentlich mit der Frage meinte. Nein, diesmal stecke ich nicht dahinter.«
»Verzeihen Sie mir,« bat sie.
»Hier ist keine Verzeihung nötig,« sagte Nelson. »Ich kann mich ja auch so ausdrücken: zufälligerweise stecke ich nicht dahinter. Ich bin nämlich immer noch der alte Nelson. Wollen wir nun aber nicht darüber sprechen, wie wir wieder in den Besitz der Dokumente gelangen können?«
»Merkwürdig, Sie wissen alles. Das verstehe ich einfach nicht,« sagte Krag.
»Ich weiß auch, wer der Dieb ist,« sagte Nelson, zu Krag gewandt. »Sie waren auf der rechten Fährte. Baron Sixten ist augenblicklich im Besitz der Dokumente.«
»Darf ich hier bemerken, daß wir Pech gehabt haben,« entgegnete Krag. »Auf irgendeine Weise muß Baron Sixten erfahren haben, daß ich mich für die Sache interessiere; er läßt mich nämlich den ganzen Tag beobachten, unter anderem durch einen Depeschenboten, der mich überallhin verfolgt. Es wäre glänzend gewesen, wenn Sie ihm unbekannt geblieben wären. Nun wird er aber vermutlich schon wissen, daß Sie mit uns in Verbindung stehen, und ist dagegen gewappnet.«
»Da irren Sie,« entgegnete Nelson. »Baron Sixten hat weder von mir noch von Ihnen eine Ahnung. Dazu fühlt er sich viel zu sicher.«
»Können Sie mir dann erklären,« fragte Krag, »warum er mich durch seine Helfer den ganzen Tag beobachten läßt?«
»Das hat er gar nicht veranlaßt,« erwiderte Nelson; » ich habe Sie beobachten lassen. Und damit haben Sie auch die Erklärung dafür, wie es kommt, daß ich von Ihrer Angelegenheit unterrichtet bin. Es ist immer meine Art gewesen, mir Aufschluß zu verschaffen über Dinge, die ich nicht begreifen konnte. Kaum hatte ich mich hier in Ostende niedergelassen, als mir Lizzie begegnete. Ich sah Sie, Lizzie; Sie sahen mich nicht. Wenige Stunden darauf traf ich meinen Freund Asbjörn Krag vor dem Grand Hotel. Daß diese doppelte Begegnung Zufall sein sollte, wollte mir nicht in den Sinn. Ich bin in bestimmter Absicht nach Ostende gekommen, wo eine bestimmte Aufgabe meiner harrte.
Ich wollte mich nicht stören lasten, darum sagte ich mir: Warum sind diese Menschen hier? Was haben sie zu besprechen? Warum sitzen sie halbwegs versteckt im ›Roten Truthahn‹, wo ein junger Engländer Mittelpunkt der lustigsten Gesellschaft ist? Warum treibt sich Lizzie einsam und ruhelos die ganze Nacht vor dem Hotel Terminus herum? Ich kannte die Teilnehmer der lustigen Gesellschaft im ›Roten Truthahn‹. Des ›Engels‹ habe ich mich auch schon bedient. Sie ist frech, aber gut zu gebrauchen; in letzter Zeit ist sie aber in zu schlechte Gesellschaft geraten. Baron Sixten kannte ich gleichfalls; der einzige, den ich nicht kannte, war der junge Engländer. Als ich aber später seinen Namen erfuhr, wurde mir manches klar, das mir bisher rätselhaft gewesen war. Kurz gesagt, ich stellte Nachforschungen an. Meine Spione haben gut gearbeitet. Ich weiß alles.
Von nun an lasse ich Sie nicht mehr beobachten,« schloß er, indem er sich an Krag wandte. »Meine Leute haben andere Spuren zu verfolgen. Wir sind in der günstigen Lage, daß Sixten, der mit Hilfe des ›Engels‹ sich die Dokumente angeeignet hat, absolut nichts davon ahnt, daß er verfolgt wird. Er lebt, wie er immer gelebt hat. Das ist für uns sehr günstig, dann ist die Verfolgung nicht so schwierig. Mir ist bekannt, daß er heute abend um acht Uhr reist; er hat nämlich Fahrkarten nach Berlin bestellt. Das heißt mit anderen Worten, daß er und seine Helfershelfer, solange sie sich hier aufhalten, keinen Unbeteiligten in ihre Angelegenheit einweihen. Ich glaube daher, annehmen zu können, daß die Dokumente im Besitze des Barons vollkommen sicher sind.«
Krag lächelte.
»Das ist eine sehr kühne Behauptung,« meinte er. »Wie wollen Sie aber die Abreise des Barons heute abend um acht Uhr verhindern.«
»Die will ich gar nicht verhindern.«
»Dann sind die Dokumente verloren.«
»Keineswegs,« entgegnete Nelson. »Baron Sixten mag abreisen; aber ich glaube nicht, daß er die Papiere mitnimmt. Ich will in ihren Besitz gelangen.«
»Das wollen wir auch,« sagte Krag. »Wenn man Sie so reden hört, sollte man glauben, daß es eine Kleinigkeit für Sie wäre, die Dokumente herbeizuschaffen. Ich bin begierig, wie Sie die Sache anstellen wollen.«
»Das ist gar nicht so schwer. Nur eine Schwierigkeit ist zu überwinden, nämlich in dem Augenblick, wo man gegen Sixten als strafende Gerechtigkeit auftreten soll. Ich habe mir die Sache auch noch anders überlegt. Sie kennen mich ja; es ließe sich doch auch so machen, daß der eine Dieb den andern übertrumpft.«
»Meinen Sie, daß Ihr Plan gelingen wird?« fragte Lizzie mit ängstlich zitternder Stimme.
»Lizzie, Lizzie,« erwiderte Nelson, »hätte ich gewußt, was auf dem Spiele steht, dann wäre ich schon früher bei Ihnen gewesen. Von dem Augenblick an, wo ich erfuhr, in welcher verzweifelten Lage Sie waren, war ich dem Schicksal dankbar, daß mir Gelegenheit geboten wurde, Ihnen helfen zu können. Ich eilte zu Ihnen. Wenn mein Werk getan ist, werde ich wieder verschwinden. Sie werden begreifen, daß es für mich keinen anderen Ausweg gibt.«
»Ach, wenn man ihm doch Glauben schenken dürfte?« rief Lizzie, von neuer Hoffnung erfüllt.
»Ich glaube,« antwortete Krag.