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XVIII.

Lady Holmes hatte denselben dunklen, anschließenden Mantel an, den sie trug, als sie nachts zu Krag gekommen war, um den Manschettenknopf zurückzufordern. Den Kopf hatte sie in einem großen Capuchon verborgen gehabt, nun schob sie es zurück. Ihr Antlitz leuchtete vor auffallender Blässe. Oder sollte es das helle Licht der elektrischen Lampe sein, das diesen gespensterhaften, weißen Schimmer ihrer Haut hervorrief? Sie bewegte sich wie eine Schlafwandlerin; ihre weitgeöffneten Augen starrten geistesabwesend vor sich nieder.

Asbjörn Krag geleitete sie zu einem Stuhl und ließ sich ihr gegenüber nieder.

»Sie zittern ja vor Kälte,« sagte er.

»Ja, ich zittere,« entgegnete sie. »Ich spiele ein gewagtes Spiel; es geht hier um mein Leben. Mein Gewissen läßt mir aber keine Ruhe.«

»Wie sind Sie denn hier hereingekommen?« fragte er.

»Ich wußte, daß Sie hier waren,« erwiderte Lizzie Holmes. »Ich mußte unbedingt mit Ihnen sprechen.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

Sie flüsterte fast, indem sie sprach: »Ich habe einen Schlüssel zu dieser Wohnung.«

»Lady Holmes,« begann nun Krag. »Sie, die reiche und schöne Gemahlin des berühmten Forschers, gehen hier aus und ein, als wären Sie im Hause dieses berüchtigten Verbrechers die Herrin. Was soll ich denn davon halten?«

»Sie sind viel zu klug, anderes als die Wahrheit zu denken.«

»Ich bin noch gar nicht von der Wahrheit dieses rätselhaften Zusammentreffens ganz überzeugt. Ich suche aber nach der Wahrheit, und wenn Sie mir die Wahrheit sagen, will ich Ihnen Glauben schenken.«

»Das ist mit drei Worten getan,« entgegnete Lady Holmes, »er ist unschuldig.«

Krag lächelte. »Unschuldig? Inwiefern, gnädige Frau?«

»Er ist kein Dieb. Er war nicht in meinem Zimmer, um zu stehlen.«

»Das ist mir von vornherein klar gewesen.«

»Dann werden Sie an meinen Worten auch keinen Zweifel hegen. Er ist kein Dieb; er ist ein echt englischer Gentleman. Zwei Jahre habe ich ihn schon gekannt, und jetzt in meiner Verzweiflung sage ich Ihnen, daß es keinen edleren Menschen gibt, keinen Mann von größerer Ritterlichkeit. – Nun begreifen Sie vielleicht auch, daß ich totunglücklich darüber bin, daß ein unseliges Geschick die Ursache zu seiner Erniedrigung und seinem Verderben sein soll. Ich beschwöre Sie, er ist unschuldig. Hat jemand diesen Schicksalsschlag verdient, dann bin ich es, die nicht den Mut gehabt hat, sich zu opfern, um ihn zu retten. Und was hat er getan, er, der unschuldig war? Er hat alles geopfert, um mich, meine Ehre, meinen Namen, mein Ansehen einer törichten, konventionellen Welt gegenüber zu retten. – Gibt es denn keinen Ausweg aus dieser Katastrophe? Ist das Leben und sind die Gesetze denn wirklich so sinnlos?«

Schluchzend verbarg sie den Kopf in ihrem Taschentuch.

Krag vermochte seine innere Bewegtheit beim Anblick ihres großen Kummers nicht zu verbergen. Sie wurde in seinen Augen so schmal und klein, und sein Herz krampfte sich unter ihrem Schluchzen zusammen. Dann erinnerte er sich jedoch wiederum, daß er doch schon allerhand gefunden hatte, das auf ein sehr geheimnisvolles Dasein des arretierten Gentlemans deutete. Ihm kam auch der Verdacht, den er wenige Sekunden lang von ihr hegte. War sie wirklich so unglücklich und so verzweifelt, wie sie, die schöne Lady Holmes, die ehemals so gefeierte Schauspielerin Londons, sich den Anschein geben wollte?

»Einen Ausweg?« sagte er. »Ja, es gibt einen Ausweg.«

Sie blickte ihn fragend an.

»Erzählen Sie es Ihrem Gatten.«

Sie zuckte zusammen, wie unter einem heftigen körperlichen Schmerz. Krag sah das Entsetzen in ihren Augen. Bei diesem Anblick einer rein physischen Kundgebung kam er zu der Ueberzeugung, daß diese Angelegenheit unergründliche Geheimnisse enthalten müsse.

Lady Holmes entgegnete leise, von Kälteschauern gerüttelt: »Meinem Mann alles erzählen? – Ja, das wäre der letzte Ausweg. Vielleicht sterbe ich aber lieber.«

»Dann müssen Sie es Nelson überlassen, die Strafe auf sich zu nehmen.«

»Unschuldig?«

Krag zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, ich kann mich auf Sie verlassen,« sagte sie plötzlich. »Ich habe das bestimmte Gefühl, Sie sind ein ritterlicher Mann. Sie werden nichts darüber verlauten lassen, Sie werden das Privatleben eines einzelnen nicht an die Oeffentlichkeit zerren, wenn es mit dieser Diebstahlsangelegenheit nichts zu tun hat.«

»Bisher habe ich noch keinen eigentlichen Zusammenhang zwischen diesen Diebesaffären und dem bemerkt, was Sie als Privatleben zu bezeichnen lieben,« sagte Krag indigniert. »Lassen wir das also beiseite.«

»Dann wird man ihn aber verurteilen?«

»Höchst wahrscheinlich; wenn erst genügend Beweise gegen ihn vorliegen.«

»Er hat ja alles eingestanden,« rief sie hastig und erschreckt dazwischen.

»Möglicherweise genügt das nicht,« erwiderte Krag. »Kann man einen Menschen denn nicht verurteilen, wenn er die Tat selbst eingesteht?«

»Nein, Gott sei Dank, nicht immer.«

Eine Weile saß sie schweigend da; dann sagte sie plötzlich: »Ich will ein letztes Mittel versuchen. Keines will ich unversucht lassen.«

»Dann möchte ich wohl wissen, warum Sie überhaupt gekommen sind,« sagte Krag.

»Ich bin gekommen, um ihn zu retten.«

»Wirklich?«

»Ich bin reich. Nicht nur mein Mann ist reich; ich bin es auch.«

»Dieses ist das zweitemal, daß Sie auf Ihren Reichtum hinweisen,« bemerkte Krag, »was wollen Sie damit sagen?«

»Mr. Nelson könnte fliehen.«

»Und dabei sollte ich ihm behilflich sein?«

»Im Namen der Menschlichkeit,« bat sie.

»Wenn ich davon überzeugt wäre,« entgegnete Krag, »daß Mr. Nelson nicht der Dieb ist, dann würde ich ihm bei einem Fluchtversuch auch ohne Rücksicht auf Ihren Reichtum helfen. Ich bin jedoch nicht davon überzeugt. – Ganz im Gegenteil: auch Ihr Auftreten, gnädige Frau, ist derart gewesen, daß ich mich von einem gewissen Verdacht nicht frei machen kann. Ich hoffe ja nicht, daß der Fall eintreten wird, wo ich mich gezwungen sehe, über Ihre persönliche Freiheit zu verfügen. Ich täte das nur im äußersten Falle. Aber schon jetzt kann ich Ihnen sagen, daß es nicht ausgeschlossen ist. Hier haben Sie meine Antwort.«

Während er sprach, war sie durch ihre Verzweiflung in immer größere Erregung geraten.

»Seien Sie vorsichtig!« stieß sie erbittert hervor. »Sie wissen nicht, mit wem Sie sprechen. Ich habe Beschützer, denen es nicht an Macht gebricht!«

Plötzlich ergriff Krag ihr Handgelenk und zog sie weiter ins Zimmer hinein. Er wies auf die Falten der Portieren, die sich bewegten. Im Nu wurde die Portiere zur Seite geschoben und – Mr. Nelson stand im Zimmer.

»Liebe, gnädige Frau,« sagte er. »Ihr liebenswürdiges Opfer hat gar keinen Zweck. Wie Sie sehen, bin ich schon geflohen.«


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