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XXXIII.

Eine Weile saß Asbjörn Krag schweigend da. »Wenn man es sich recht überlegt, ist dieser Besuch doch nicht so sonderbar.«

»Glauben Sie denn, daß dieser Unbekannte die Rolle des Vermittlers zwischen der Dame und ihrem gekränkten Gemahl spielt?«

»Ich glaube, daß ihn Sir Cyrus Holmes ins Haus geschickt hat. Eine Frau kann doch nicht so ohne weiteres ihr Heim verlassen; es gibt doch noch mancherlei zu ordnen. Es ist doch noch ein Kind da. Ein Sohn von zwölf bis dreizehn Jahren. Ich kann es dem Manne sehr gut nachfühlen, daß er nach dem Geschehenen nur durch eine Mittelperson verhandelt. Sie folgten also dem Fremden bis vor die Tür des Forschers. Wie lange haben Sie draußen gewartet?«

»Etwa eine Stunde. Er kam jedoch nicht wieder.«

»Das stimmt mit meinen Vermutungen. Der Unbekannte wird wahrscheinlich ein intimer Freund Sir Cyrus Holmes' sein. Passierte sonst etwas, während Sie vor der Villa warteten?«

»Ja, sonst wäre ich da stehen geblieben. Ich war aber gezwungen, einer Person zu folgen, die das Haus verließ.«

»Kannten Sie diese Person?«

»Ja, es war Sir Cyrus Holmes.«

»Ah! Allein?«

»Ganz allein. Er schien spazieren zu gehen. Aber nicht, wie man annehmen sollte, am Drammensweg. Er bog in eine der Nebenstraßen ein, wahrscheinlich, um die Aufmerksamkeit der Leute nicht auf sich zu lenken.«

»Hatte er denn ein bestimmtes Ziel?«

»Ja, das zeigte sich nachher. Er ging durch mehrere Straßen, bis er zur Carl-Johann-Straße gelangte, wo er in Cooks Reisebureau eintrat. Da es gerade in der Dämmerung war, bemerkte ihn niemand.«

»Ist es nicht sonderbar, daß er persönlich dorthin ging?«

»Nun ja, aber die Engländer sind nun einmal komische Menschen. Ich denke mir, er hat doch seinen täglichen Spaziergang machen wollen. Er hielt sich nur wenige Augenblicke im Reisebureau auf. Als er wieder herauskam, rief er einen Wagen herbei; ich hörte ihn seine eigene Adresse aufgeben, nämlich Drammensweg 225. Auf meine Erkundigungen im Reisebureau erfuhr ich, daß Sir Cyrus Holmes zwei Karten erster Klasse nach Paris gelöst hatte. Er wird den Expreßzug morgen früh benutzen.«

»Er schüttelt also den Staub von seinen Füßen.« –

»Das ist auch jedenfalls das beste; denn diese aufsehenerregende Gerichtsverhandlung wird viel Staub aufwirbeln. Was wird aber aus seiner Expedition?«

»Das weiß ich nicht. Er wird wohl wieder zurückkehren.«

Der Agent griff nach seinem Hut.

»Ich muß fort. Halvorsen hat das Herumstehen gewiß satt.«

Er wollte gerade zur Tür hinausgehen, als sich im Vorzimmer ein wüster Lärm erhob.

Krags Diener kam herbeigeeilt und meldete, daß Halvorsen eben angekommen sei.

»Zum Teufel noch mal,« rief der Agent, »es muß etwas passiert sein.«

»Haben Sie Ihren Posten verlassen?« fragte Krag mit strenger Miene den Eintretenden.

»Ja, antwortete dieser. »Aber statt meiner treibt sich Petersen nun da herum. Er trägt zwar Uniform; aber das schadet ja wohl nichts. Ich habe Nelson nämlich verfolgen müssen!«

»Ach so! Hat der vielleicht auch seinen täglichen Spaziergang machen müssen?«

»Nein, er fuhr. Na, ich kann Ihnen sagen, das war keine Kleinigkeit, in so kurzer Zeit einen Wagen zu bekommen, der die Verfolgung seines Wagens aufnehmen konnte.«

»Fuhr Lady Holmes mit?«

»Nein, er fuhr allein. Vor Cooks Reisebureau hielt der Wagen. Meiner natürlich auch.«

Krag und der Agent blickten sich an. Der Detektiv sagte gelassen: »Er verlangte wohl eine Fahrkarte nach Paris?«

»Ja, zwei. Aber woher wissen Sie das?«

Ohne die Frage zu beachten, fragte Krag: »Für den Erpreßzug morgen früh?«

»Ja.«

»War das alles, was Nelson zu besorgen hatte?«

»Nein, er war noch in einigen Geschäften, um Besorgungen zu machen. Unter anderem kaufte er auch Damenbedarfsartikel. Dann fuhr er wieder nach Hause. Jetzt befindet er sich dort.«

Der Polizeiagent konnte sein Lachen nicht länger unterdrücken. »Was haben die Menschen aber ein Pech! Wie ist die Welt doch klein!« konnte er endlich hervorbringen.

»Was sagen Sie?« fragte Krag.

»Ich sagte nur, daß die Welt so klein ist, daß man immer wieder zusammentrifft, wie sehr man sich auch dagegen sträubt.«

»Ich verstehe Sie immer noch nicht.«

»Nehmen wir an,« sagte der Agent, »daß der berühmte Forscher nicht nur deswegen Hals über Kopf wegreist, um dem Gerede zu entgehen, sondern auch, um ein Zusammentreffen mit seiner Frau zu vermeiden. Nun, auch Lady Holmes geht ihrem Manne und dem Klatsch lieber aus dem Wege. Sie reist auch schleunigst ab. Beide gehen sie nach Paris, um dort in der Menschenmenge zu verschwinden. Beide haben dieselbe Idee. Beide wollen so schnell wie möglich fort. Und beide benutzen denselben Zug. Kann ich da nicht mit Recht behaupten, daß die Welt nur klein ist und die beiden entschieden Pech haben?«

»Es steht Ihnen auch das Recht zu, sich zu irren,« entgegnete Krag. »Das Recht steht jedem zu.«

Der Agent blickte ihn fragend an.

»Sie vergessen einen Umstand in Betracht zu ziehen, und das macht gerade, daß es sich ganz anders verhält, als Sie glauben.«

»Was für ein Umstand wäre das?«

»Sie vergessen den Besuch des Unbekannten, des Abgesandten Sir Cyrus Holmes' in Nelsons Villa.«

»Darin sehe ich nichts Besonderes. Ich finde es ganz selbstverständlich, daß Sir Cyrus Holmes vor seiner Reise gewisse Abmachungen mit seiner ihm untreu gewordenen Frau zu treffen hat und dazu einen Vermittler braucht. Sie sagen ja selbst, das Ehepaar hätte einen Sohn.«

»Es könnte doch auch anders sein,« entgegnete Krag. »Wir müssen annehmen, daß der Besuch des Unbekannten vielleicht einen anderen Grund haben kann.«

»Meinen Sie denn, daß die bevorstehende Begegnung der beiden Parteien im Zuge nicht zufällig ist?«

»Ich rechne stark mit dieser Eventualität.«

»Sie glauben also, daß alles verabredet ist?«

»Ja.«

»Nun reiten Sie wieder Ihr altes Steckenpferd, Herr Krag. Glauben Sie denn noch immer nicht an Nelsons Schuldlosigkeit?«

»Daran habe ich nie geglaubt. Im Gegenteil.«

»Sie hegen noch immer Verdacht, daß zwischen Cyrus Holmes, dem berühmten Forscher, seiner Familie, den Diebstählen und dem Engländer Nelson eine gewisse Verbindung besteht?«

»Ja.«

»Warum haben Sie denn seine Freilassung beantragt?«

»Säße er im Gefängnis, käme ich meinem Ziele nicht näher; denn so fehlte ihm jede Gelegenheit, sich zu verraten. Nun er die Freiheit genießt, muß er seine Rolle weiterspielen. Man sagt ja von mir, ich verstände es ausgezeichnet, den Leuten in die Karten zu sehen.«

»Was wollen Sie aber anfangen, wenn alle fortreisen?«

Krag sah nach der Uhr. »Es ist am besten, Sie begeben sich wieder auf Ihren Posten und lösen den Polizisten ab. Vorher gehen Sie aber bei Cook vor,« sagte Krag.

»So, so, noch eine Fahrkarte nach Paris?«

»Ja.«

»Na, das kann ja im Zuge noch recht heiter werden!«

»Vielleicht! Jedenfalls reise ich morgen mit den andern. Wir werden dann ja sehen, ob die Reise direkt nach Paris geht – oder ob man irgendwo eine Unterbrechung macht. Ist das der Fall, dann ist das Mysterium Nelson aufgeklärt.«


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