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V.

Evensen senkte den Kopf und eine leichte Röte bedeckte sein Gesicht. »Ich habe es mir schon gedacht, daß der Verdacht auf mich fallen würde,« sagte er.

Asbjörn Krag faßte ihn bei den Schultern und sagte: »Ich wiederhole, ich habe Sie nicht in Verdacht; jedenfalls nicht mehr als alle die andern, sämtliche Gäste, das Personal, ja den Generalkonsul selbst. Herr Generalkonsul, zuerst hege ich Verdacht gegen alle; erst während der Untersuchung wird der Kreis der Verdächtigen enger.«

»Ich kann eine Verdächtigung schon ertragen,« entgegnete der Generalkonsul. »Außerdem meine ich, durch die Ausstellung des Wechsels auf fünfzigtausend Kronen, den Verdacht von mir abgewälzt zu haben. Dagegen möchte ich darauf aufmerksam machen, daß Sie auf falscher Fährte sind, wenn Sie meinen alten, getreuen Evensen in Verdacht haben. Er ist von klein auf in meiner Familie gewesen und außerdem ist er die personifizierte Treue. Für ihn verbürge ich mich.«

»Ganz recht,« erwiderte Krag, »ich bin genau Ihrer Meinung. Wir lassen also Evensen ganz aus dem Spiel. Wir hegen also nicht den leisesten Verdacht gegen ihn. Das hindert uns aber doch nicht, nachzuforschen, was Evensen sich vorgenommen hat; möglicherweise ist er, ohne daß es ihm bewußt geworden ist, dem geheimnisvollen Verbrecher begegnet. Also zur Sache! Evensen trug also die Kassette mit dem Gelde?«

»Ja,« gab Spade zur Antwort.

»Der Herr Generalkonsul hat aber die Kassette selbst in den Geldschrank hineingestellt,« fuhr Evensen mit auffallendem Eifer dazwischen.

»Und den Schrank verschlossen?« Der Generalkonsul nickte.

»Um wieviel Uhr?«

»Um zwei Uhr nachmittags.«

»Haben Sie vorher nachgesehen, ob die Goldstücke auch darin waren?«

»Ja.«

»Wer hat sich sonst noch im Laufe des Tages in Ihrem Bureau aufgehalten?«

»Allerhand Leute. Da ich an großen Unternehmungen interessiert bin, gehen bis zum Geschäftsschluß um fünf Uhr andauernd viele Leute ein und aus. Ich bin aber während der ganzen Zeit zugegen gewesen; es ist daher ausgeschlossen, daß jemand, mit dem ich geschäftlich zu tun habe, für den Diebstahl in Frage kommt.«

Asbjörn Krag schien jedoch diese Möglichkeit nicht für ausgeschlossen zu halten, denn er fragte:

»Wieviel Leute mögen denn hier gewesen sein, seit zwei Uhr und bis zum Schluß der Geschäftszeit?«

»Ich möchte glauben, etwa acht bis zehn.«

»Erinnern Sie sich aller dieser Leute?«

Der Generalkonsul dachte nach; Krag unterbrach ihn:

»Es kommt mir nicht darauf an, daß Sie es jetzt im Augenblick wissen; aber in einer Stunde müssen Sie eine Liste dieser Personen aufgestellt haben.«

»Soll geschehen,« gab Spade zur Antwort. »Ich habe ein kolossales Gedächtnis.«

Krag besichtigte nochmals das Zimmer. Lange stand er vor dem Geldschrank und untersuchte das Schloß genau.

»Ich sehe, der Schrank hat ein Patentschloß,« sagte er, »es läßt sich nur durch einen ganz eigenartigen Schlüssel öffnen. Ich vermute, daß es von diesem Schlüssel nur ein Exemplar gibt?«

Der Generalkonsul zog aus der Tasche ein großes Schlüsselbund hervor, suchte den Schlüssel und zeigte ihn dem Detektiv. »Dies ist er,« sagte er. »Natürlich ist das das einzige Exemplar.«

Asbjörn Krag löste den Schlüssel vorsichtig vom Ring und untersuchte ihn mit Hilfe einer Lupe, die er einem kleinen Etui entnahm, das er immer bei sich trug. Diese sorgfältigen Untersuchungen nahmen ihn mehrere Minuten ganz in Anspruch. Darauf wandte er sich lächelnden Mundes an den Generalkonsul:

»Hier ist die Erklärung, warum man das Schloß nicht gesprengt hat. Das Schloß ist ganz einfach mit einem Schlüssel geöffnet worden.«

»Aber nicht mit meinem,« erwiderte der Generalkonsul, »denn er ist keinen Augenblick aus meinen Händen gewesen.«

Krag zuckte mit den Achseln. »Das macht die Sache nicht weniger geheimnisvoll. Befinden sich augenblicklich größere Werte im Schrank?«

»Nein, nur einige Wertpapiere.«

»Dann nehmen Sie sie, bitte, heraus und bewahren Sie sie an anderer Stelle auf. Bis auf weiteres möchte ich diesen Schlüssel behalten. Vorläufig kann der Schrank nicht verschlossen werden.«

Während der Generalkonsul, ärgerlich über die Selbständigkeit, mit der Krag zu Werke ging, die Wertpapiere ordnete und unterbrachte, setzte der Detektiv seine Untersuchungen fort. Jetzt kamen die Türen an die Reihe. Als er die Tür, die nach dem Flur hinausführte, untersuchte, sagte er: »Evensen, kommen Sie doch einmal her. Sehen Sie den Schlüssel da. Die Stellung des Schlüssels läßt vermuten, daß der Schlüssel nicht angerührt worden ist, nachdem man die Türe verschlossen hat.«

»Außerdem ist die Tür von innen verschlossen,« bemerkte Evensen erstaunt. »Man kann doch keine Tür von außen öffnen, die von innen verschlossen ist.«

»Für einen gerissenen Dieb ist das mit Hilfe der modernen Apparate eine Kleinigkeit,« belehrte Krag. »Wäre ich ein Dieb, würde es mir gar nicht schwerfallen.«

Nun begab er sich nach der anderen Tür, die in den Festsaal hineinführte.

»Durch diese Tür kann der Dieb auch nicht gekommen sein, weil im Festsaal immer Leute anwesend waren.«

»Nachdem der Herr Generalkonsul das Bureau verlassen hat, bin nur ich hier im Zimmer gewesen, als ich die Kassette holte,« sagte Evensen.

»Sie wollen damit sagen, daß der Diebstahl zwischen fünf und sieben Uhr geschehen sein muß?«

»Ja.«

Krag wandte sich nun zum Fenster, das nach Osten lag.

»Dies Fenster stand auf,« sagte Evensen plötzlich.

Krag trat auf ihn zu. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« rief er aus. »Wer hat es denn geöffnet?«

»Ich nicht,« sagte Evensen.

»Ich auch nicht!« rief Spade.

»Dann will ich Ihnen nur sagen, daß der Dieb zum Fenster hereingekommen ist.«

Der Generalkonsul und Evensen brachen jedoch in schallendes Gelächter aus.

»Niemand kann an der glatten Wand hochklettern,« sagte Spade, »außerdem liegt das Haus auf einem unbesteigbaren Felsen. Der Dieb muß dann schon durch die Luft gekommen sein.«

Krag öffnete das Fenster und sah in den Abgrund hinab. »Nun ja,« sagte er, »vorläufig müssen wir annehmen, daß der Dieb durch die Luft gekommen ist.«


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