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XIX.

Lady Holmes' Erstaunen über Nelsons plötzliches Erscheinen war so echt, daß Krag keinen Augenblick darüber im Zweifel war, daß Nelsons Ankunft ihr völlig unerwartet kam. Krag hatte im übrigen genug mit sich zu schaffen, um seine Ueberraschung zu verbergen. Es gelang ihm kaum; sein erstaunter Blick ließ Nelson lächeln – ein eigentümlich triumphierendes und überlegenes Lächeln, das jedoch bewirkte, daß Krags Geistesgegenwart sich sofort einstellte. Sein nächster Gedanke war: die Türen! Nelson stand mit dem Rücken gegen die offene Tür; er konnte jederzeit entweichen. Krag griff nach Lady Holmes, als ob er einen Ueberfall erwarte und sich ihrer als Geisel sichern wolle. Als nun Nelson herbeieilte, um sich zwischen Lizzie und den Detektiv zu stellen, gelang es Krag, die Tür zu erreichen. Blitzschnell zog er seinen Revolver.

»Wie Sie sehen, sind Sie auf Ihrer Flucht nicht vom Glück begünstigt gewesen,« sagte Krag. »Sie sind nur in ein anderes Gefängnis gelangt. Hier kommen Sie nicht wieder heraus; Sie sind mein Gefangener.«

»Es ist auch gar nicht meine Absicht, mich der Strafe zu entziehen, die mir bevorsteht,« erwiderte Nelson.

»Warum sind Sie denn der Haft entflohen?«

»Weil mich die Verhaftung unvorbereitet traf und weil ich notwendigerweise noch einige Privatangelegenheiten, die mit meinem Verbrechen absolut nichts zu tun haben, zu ordnen wünschte.«

Erst jetzt bemerkte Krag die Veränderung, die mit Nelson vorgegangen war. Man hatte ihn im Gesellschaftsanzuge verhaftet, und nun trug er einen graumelierten englischen Jackettanzug; anstatt der zum Frack gehörenden weißen Binde trug er einen kleinen gemusterten Knoten im weichen Stehkragen.

Nelson fing seinen Blick auf und lächelte abermals.

»Ich weiß, woran Sie denken,« sagte er. »Und Sie sind im Recht. Ich fühlte mich im Gefängnis in diesem festlichen Gewand nicht wohl. Trotz allem bin ich ein englischer Gentleman. Mein guter Geschmack litt darunter. Da aber in den norwegischen Gefängnissen den Gefangenen keine Garderobe zur Verfügung gestellt wird, war ich gezwungen, selbst für anderes Zeug zu sorgen. Finden Sie nicht auch, daß Farbe und Muster dieses Anzuges besser zu meiner augenblicklichen Situation passen? Nun, ich sehe Ihnen an, daß dieser Grund meines Entweichens Ihnen nicht stichhaltig erscheint. Ich stimme mit Ihnen auch darüber überein, daß dies nicht der alleinige Grund ist, obgleich ich wohl weiß, daß ein rechter Gentleman imstande ist, bis ans Aeußerste zu gehen, bloß um zu verhindern, unkorrekt oder lächerlich zu erscheinen. Sagen Sie selbst – Gefängnis und Frack – paßt das zusammen?«

Während er sprach, suchte er mit behutsamen Händen Lizzie zu beruhigen. Er bat sie, sich in einen Lehnsessel zu setzen, behielt jedoch die ganze Zeit ihre Hand in der seinen. Er blickte sie nur flüchtig an; denn während der ganzen Zeit hatte er seinen Blick auf Krag und dessen Revolver gerichtet. Krags Zweifel an dem Liebesverhältnis, das zwischen diesen beiden bestand, mußte weichen, als er den ängstlichen und zugleich hingebungsvollen Blick bemerkte, womit Lizzie Nelsons Aufmerksamkeit auf sich zu lenken suchte, und sah, wie innig und heftig sie seine Hand drückte. Das Eigenartige und Tragische dieser Szene stand in sonderbarem Gegensatz zu Nelsons fadem Geschwätz von seiner Kleidung. Krag wollte jedoch Zeit gewinnen und ging daher auf Nelsons Ton ein.

»Es bestehen drei Möglichkeiten,« sagte er, »entweder sind Sie der größte Snob der Welt, oder Sie halten mich für ein kolossales Schaf, oder auch haben Sie irgendeinen Grund für Ihr Entweichen gehabt, der mit dem Ort in Verbindung steht, wo Sie sich umgekleidet haben.«

»Letzteres ist ganz richtig,« erwiderte Nelson offenherzig, »das heißt nur zum Teil. Es lag eben noch ein Grund mehr vor, der mich bewog, für ein paar Stunden meine Freiheit zu genießen. Aber zur Hauptsache kam es mir doch darauf an, in meinem Heim gewisse Veränderungen vorzunehmen, die in meinem Interesse liegen.«

»Gut,« sagte Krag, »da Sie nun hier sind, können Sie die gewünschten Veränderungen ausführen; aber Sie gestatten, daß ich Ihnen behilflich bin, wenn auch nicht anders als durch Zuschauen.«

»Das ist alles schon erledigt,« antwortete Nelson.

»Wie?«

»Was ich ändern wollte, ist schon besorgt.«

»Hier?« rief Krag erstaunt aus, »während ich hier war? Während ich mich mit dieser Dame unterhalten habe?«

»Nein,« gab Nelson ruhig zur Antwort. »Hier nicht; in meinem Heim.«

»Ist dies denn nicht Ihr Heim?«

Nelson lächelte: »Ein Aufenthaltsort ist niemals ein Heim. Ich komme gerade eben von daheim. Dort hatte ich auch Gelegenheit, mich umzuziehen.«

»Jeder Verbrecher hat mehrere Schlupfwinkel. Nun begreife ich auch, daß ich bei der Durchsuchung dieses Aufenthaltsortes, wie Sie sich auszudrücken belieben, absolut nichts von Bedeutung gefunden habe. Darf ich fragen, wie die Adresse Ihres wirklichen ›Heims‹ lautet?«

»Das werden Sie nie erfahren,« entgegnete Nelson. »Sie werden mein Heim auch niemals auffinden.«

»Ich werde es doch aufzufinden wissen,« erwiderte Krag. »Jetzt kommt es mir aber darauf an, zu erfahren, wie Sie aus dem Gefängnis entwichen sind.«

»Kennen Sie den Paragraphen, wonach den Untersuchungsgefangenen das Recht zusteht, nach der Mahlzeit eine Zigarre oder eine Zigarette zu rauchen? Nun, dann werden Sie sich alles selbst sagen können. Der Gefängniswärter liegt ohnmächtig in meiner Zelle.«

»Dann möchte ich aber doch wissen,« fragte Krag, »warum Sie denn hierhergekommen sind, obgleich Sie von meiner Anwesenheit in Ihrer Wohnung wußten. Oder wußten Sie es vielleicht nicht?«

»Gewiß, ich wußte es.«

»Warum laufen Sie mir denn wieder ins Garn, nachdem Sie eben entschlüpft sind?«

»Durch Beantwortung dieser Frage kommen wir auf den Kern der Sache. Lassen Sie uns nun einmal ernsthaft miteinander reden.«


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