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XXXI.

Dr. Blink schien über Asbjörn Krags Auffassung sehr erstaunt; seinen Aerger darüber konnte er nur schlecht verbergen. »Diese Worte deuten darauf hin, daß alle Mühe vergeblich war, und daß ich diese anstrengende Komödie umsonst gespielt habe. Sie sehen, wie die Richter dort eifrig bemüht sind, eine Form zu finden, wonach der Angeklagte freigesprochen werden kann. Ist er jedoch schuldig –«

Hier unterbrach ihn Krag: »Beruhigen Sie sich. Sie haben Ihre Pflicht getan. In dieser Angelegenheit trifft Nelson keine Schuld. Sie haben gar nicht nötig, daran zu zweifeln, daß Lady Holmes die volle Wahrheit gesagt hat.«

Der Verteidiger warf einen Blick auf die unglückliche Frau. Man sah es ihr an, daß sie sich alle Mühe gab, um nach dieser furchtbaren Erregung wieder die Herrschaft über sich zu gewinnen. Gebeugten Hauptes saß sie da, um ihr Gesicht zu verbergen. Das vom neugierigen Publikum verursachte Geräusch brauste über ihren Kopf hinweg, und schaudernd krümmte sie den Rücken wie unter Peitschenhieben.

Der Verteidiger wandte sich an Krag.

»Nein, ich zweifle nicht daran, daß sie die Wahrheit gesagt hat. Während meiner vierzigjährigen Praxis habe ich genug Menschen studieren können. Ich glaube nicht, daß es mir an Menschenkenntnis mangelt.«

Krag jedoch konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß Lady Holmes wahrscheinlich schon oft in ihren Glanzrollen im Strand-Theater so dagesessen hatte.

Er gab seinen Gedanken aber keinen Ausdruck. Es lag ihm nicht daran, den Verteidiger noch mehr zu beunruhigen. Im geheimen wunderte er sich jedoch über seine eigene Härte. Hatte nicht diese unglückliche Frau sein Herz zu rühren vermocht? Warum verließen ihn seine Zweifel nicht?

Der Vorsitzende wandte sich nun an den Verteidiger mit dem Ersuchen, ihm zu sagen, wie in dieser gänzlich veränderten Situation vorgegangen werden sollte.

Auf Nelson hinweisend, gab er zur Antwort: »Bevor ich mich darüber auslasse, möchte ich hören, was dieser Herr mir mitzuteilen hat.«

Als Nelson sich nun plötzlich erhob, herrschte Totenstille im ganzen Saal. In diesem Moment war er von einem solchen Eifer beseelt, daß man glaubte, er hätte die Absicht, den Richtern gehörig seine Meinung zu sagen, oder er würde nochmals auf die Richtigkeit seines Bekenntnisses hinweisen, allein aus dem Grunde, um recht zu behalten. Im letzten Augenblick bezwang er sich jedoch und war wieder der ruhige, kaltblütige Mensch von vorhin. Vielleicht war er um eine Schattierung blasser geworden. Die Damen unter den Zuhörern verschlangen ihn mit den Augen und begannen ihn anzuschwärmen wie einen Lieblingsschauspieler vom Theater oder Kino.

Der Vorsitzende wiederholte die Frage: »Was haben Sie dazu zu sagen?«

Indem er kaum merklich in einer Weise lächelte, die sowohl Sarkasmus als auch Verachtung ausdrückte, erwiderte er: »Ich erkenne die Richtigkeit der Aussage Lady Holmes' an.«

»In allem?«

»In allem.«

»Folglich nehmen Sie Ihr Geständnis zurück?«

»Es bleibt mir ja nichts anderes übrig.«

»Folglich müssen wir Richter davon ausgehen, daß Sie als Täter nicht in Betracht kommen?«

Nelson verneigte sich. »Nach den strengen Gesetzen der Logik kommt man zu diesem Schluß,« sagte er ironisch. »Leider muß ich Ihnen beipflichten.«

»Leider? Ich begreife nicht, wie Sie bedauern können, daß Ihre Unschuld endlich erwiesen ist.«

»Nun gut; ich habe mir erlaubt, Ihnen etwas vorzumachen,« erklärte Nelson.

»Da haben Sie Ihre Rolle meisterhaft gespielt.«

»Hat jemand es einmal übernommen, eine so tragische Rolle zu spielen, so muß es ihm auch gelingen, sie durchzuführen. Andernfalls macht er sich lächerlich. Ich fühle, daß ich unmöglich gemacht bin, meine Herren. Ich wünsche nur, vor diesem Publikum nicht gänzlich zu verspielen. Das läßt mein Selbstgefühl nicht zu. Es fehlte nicht viel, dann hätte ich erröten müssen. Ein Engländer meines Standes darf aber nicht erröten. Verlasse sich einer auf die Frauen!«

Die höhnische Art, womit die letzten Worte gesagt wurden, veranlaßten Lizzie Holmes, den Kopf noch tiefer in den Händen zu verbergen. Der Vorsitzende eilte ihr jedoch zu Hilfe.

»Wie können Sie ein Weib, das soviel durchgemacht hat, in dieser Weise verhöhnen! Seien Sie ihr doch dankbar dafür, daß sie sich so schonungslos an den Pranger gestellt, um Sie vor dem Zuchthaus zu bewahren! Sie hat doch bewiesen, daß sie Sie liebt.«

Nelson zuckte die Schultern. »Ich denke, ich habe es doch wohl nicht nötig, im Beisein des Publikums über meine Gefühle Rechenschaft abzulegen?«

Mit vornehmer Würde wandte er sich dann an die Zuhörer mit den Worten: »Im übrigen wünsche ich dies Schauspiel nicht zu verlängern. Ich verabscheue alles, was Theater heißt.« Dann setzte er sich.

Unmittelbar darauf ergriff der Verteidiger das Wort und wandte sich an die Richter.

»Die Art und Weise meiner Verteidigung ist den Herren Richtern wahrscheinlich etwas unverständlich gewesen. Nach dem Geständnis der Zeugin werden Sie sich darüber klar geworden sein, warum ich gerade diese Art der Verteidigung gewählt habe. Aus verschiedenen Gründen konnte ich annehmen, daß sich die Lage der Dinge genau so verhielt, wie es sich nun tatsächlich herausgestellt hat. Ich ging von der Annahme aus, daß sich von Mr. Nelson, dessen ritterlichen und festen Charakter Sie schätzen gelernt haben, kein wahres Geständnis erzwingen ließ. Andererseits konnte ich auch Lady Holmes öffentlich einer falschen Aussage nicht bezichtigen. Dagegen war mir die Möglichkeit gegeben, das Schicksal dieses Unglücklichen in so starken Farben zu schildern und dabei Lady Holmes' Gewissen aufzurütteln, daß sie sich gezwungen fühlen mußte, die Wahrheit zu gestehen. Darum verlangte ich die Anwesenheit der Zeugin; denn mir lag daran, durch die Beschreibung eines Gefängnisaufenthaltes das Geständnis herbeizuführen. – Wie Sie sehen, glückte mir der Plan.«

»Meine Herren, ich stelle den Antrag, daß wir die Qualen dieser armen Frau nicht in die Länge ziehen. Ich sehe, daß der Herr Staatsanwalt und, ich glaube, auch die Herren Richter mir zustimmen. Das Schicksal dieser beiden Menschen ist jetzt in ein Stadium eingetreten, wo Gesetze und Verordnungen nicht mehr herrschen. Meines Erachtens gehört ein Schicksal, das so viel Unglück und Kummer enthält, nicht vor die Oeffentlichkeit!«

Der Gerichtshof schien dieselbe Ansicht zu vertreten und beeilte sich daher, die Sache für abgeschlossen zu erklären.

»Gnädige Frau,« nahm der Vorsitzende das Wort, »in Anbetracht der Umstände sieht das Gericht davon ab. Sie wegen Ihrer zuerst vorgebrachten Erklärung zur Verantwortung zu ziehen. Sie befinden sich auf freiem Fuß. Gehen Sie, wohin Sie wollen.«

Lizzie Holmes erhob sich langsam und wandte sich mit suchendem Blick dem Zuschauerraum zu, als ob sie jemand zu finden hoffte; aber sie suchte vergebens.

Da stand auch Mr. Nelson von seinem Platz auf, trat auf sie zu und ergriff ihren Arm.

Der Zufall wollte es, daß Krag sich in diesem Augenblick ganz in der Nähe der beiden befand, als Nelson sagte: »Dein Mann ist fortgegangen. Du bist allein. Folge mir!«

Krag dachte in seinem Sinn: »Sie wird nicht die einzige sein, die dir von nun an folgt.«

Zum ersten Male wandte sich Nelson mit einer Frage an den Vorsitzenden: »Bin ich nun vollkommen frei?« – Sehr zuvorkommend, mit einer Geste, als hätte er alle Herrlichkeiten der Welt zu verschenken, antwortete dieser: »Sie können jederzeit gehen!«

Jetzt hörte man das Publikum mit großem Geräusch den Saal verlassen. Man mußte doch unter allen Umständen das Paar davongehen sehen.

Lady Holmes schien von dem Lärm sehr unangenehm berührt; ängstlich blickte sie ihren Freund an. Der Vorsitzende hatte sofort die Lage überschaut und rief einen Gerichtsdiener herbei. »Sagen Sie den Herrschaften Bescheid, daß am Nebeneingang ein Auto für sie bereit steht.«

In dieser Weise wurde dem Publikum ein Schnippchen geschlagen. Das hochinteressante Paar, der Gegenstand ihrer Neugier, gelangte durch Geheimgänge nach dem Ausgang, wo es ganz unauffällig ein Auto besteigen und verschwinden konnte. Vorher hatte Krag jedoch Gelegenheit gefunden, seinem Agenten einen Wink zu geben, und daher kam es, daß das Auto, das die beiden Hauptpersonen dieses eigenartigen Dramas davonführte, von einem anderen Auto verfolgt wurde, worin Krags Agent saß.

Der Detektiv hatte die Absicht, von dem Augenblick an, wo Nelson das Justizgebäude verlassen, ihn ununterbrochen zu verfolgen.

Noch lange stand die Menge, meist Damen, vor dem Haupteingang des Justizpalastes und wartete auf die Hauptpersonen des Dramas.

Die Stimmung war wie nach einer glänzenden Theatervorstellung. Man konnte glauben, daß das sensationsbegeisterte Publikum beabsichtigte, Hurra zu rufen oder die Pferde auszuspannen. – Krag betrachtete die lärmende Menge von einem Fenster des Justizgebäudes.

In diesem Moment kam der alte Verteidiger vorbei. Krag hielt ihn an und zeigte auf den Platz hinunter.

»Ich pflichte dem Schriftsteller bei, der von Kristiania sagt, daß hier keine Gelegenheit zur Begeisterung unbenutzt vorübergeht. Die Stadt an sich ist so kalt und rauh, daß etwas Glut und Lärm nötig ist. Jetzt begeistern sich die Leute für diesen Verbrecher. Wir leben wirklich in einer romantischen Stadt.«

Der alte Anwalt war plötzlich sehr ernst geworden. »Nennen Sie ihn noch Verbrecher?«

Krag nickte. »Ja, nun nenne ich ihn so; denn jetzt ist alles geschehen und es läßt sich nichts mehr ändern.«

»Ist man ihm denn nicht gerecht geworden?« fragte der Anwalt streng.

»Ganz und gar,« erwiderte Krag. »In dieser Sache trifft ihn keine Schuld, und einen Unschuldigen verurteilt man nicht. Lady Holmes hat ja die Wahrheit gesagt. Fand man denn außer seinem Geständnis auch nur einen einzigen Anhaltspunkt für eine Anklage?«

»Nein, keinen einzigen.«

»Nun, was blieb denn zu tun übrig, als bei Lady Holmes' Aussagen sein ganzes Geständnis in nichts zerfiel?«

»Man konnte ihn eben nur auf freien Fuß setzen.«

»Dann ist man ihm ja auch gerecht geworden. Wie könnte man einen Mann wegen einer Tat verurteilen, die er gar nicht begangen hat.«

»Und doch nennen Sie ihn einen Verbrecher. Warum tun Sie das?«

Statt einer direkten Antwort gab Krag dem Anwalt einen Brief, den er soeben geschrieben hatte.

Der Anwalt stutzte. »Ein Gesuch um Urlaub?« sagte er fragend. »Wollen Sie ein wenig ausspannen?«

»Nein, im Gegenteil,« war die Antwort. »Bis auf weiteres möchte ich mich jedoch nur mit einer einzigen Aufgabe befassen. Ich will den Beweis für meine Behauptung erbringen.«

»Ah, ich verstehe –«

»Eine Behauptung, die ich Ihnen gegenüber gemacht habe. Die Behauptung nämlich, daß derjenige, der heute freigesprochen wurde, doch ein großer Verbrecher ist.«

Forschend und zugleich unsicher sah der Jurist den Detektiv an. Plötzlich fragte er: »Er allein?«

»Nein,« antwortete Krag, »nicht er allein.«


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